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Wer kauft Liebesgötter? Deutsche erotische Karikatur von Bonaventura Genelli. Um 1875

Zweites Buch.
Das erotische Element in der Karikatur

Das Vorherrschen des karikaturistischen Elementes in allen Darstellungen des Erotischen

Sowie man anerkennt, daß das Erotische der Untergrund alles organischen und infolgedessen auch alles bewußten Lebens ist, dann bedarf es gar nicht erst einer besonderen Begründung, warum es auch in der Karikatur den breitesten Raum einnimmt, sei es als Hilfsmittel zur Wirkungssteigerung, sei es als direkter Gegenstand der karikaturistischen Behandlung. Es wäre geradezu widernatürlich, wenn auf demjenigen Tummelfeld der öffentlichen Meinung, auf dem von Natur aus dem Konventionellen immer nur bedingte Konzessionen und nur im bescheidenen Maße Reverenzen gemacht werden, wo man mit Vorliebe den Jargon der Gasse und ihre Beweisführung anwendet, wenn das Erotische hier keine große Rolle spielen würde. Ebenso natürlich ist aber auch, und das ist das nicht minder Wichtige, daß die Mehrzahl aller erotischen Darstellungen einen Zug ins Karikaturistische haben, ja, daß selbst gegen den Willen ihres Urhebers die Mehrzahl aller erotischen Schöpfungen zur Karikatur werden, und daß deshalb auf keinem Gebiete die Karikatur so stark vorherrscht wie gerade hier. Das gilt sowohl von der Literatur als auch von den bildenden Künsten. Es dürfte jedoch angebracht sein, gerade über den letzten Punkt, daß die Mehrzahl aller erotischen Schöpfungen sozusagen ganz von selbst einen Zug ins Erotische bekommt, noch einige begründende Worte zu sagen.

Der Begriff Karikatur ist hier natürlich rein technisch, im Hinblick auf das Mittel gedacht; man vergleiche darüber unsere Erläuterung des Begriffes Karikatur in der Einleitung zu »Die Karikatur der europäischen Völker« I. Und in diesem Sinne wiederholen wir: Die Mehrzahl aller erotischen Schöpfungen ist karikaturistisch. Karikatur sind die Werke eines Juvenal, die Dialoge Aretins, die Schilderungen Marquis de Sades, die Memoiren Jakob Casanovas usw.; Karikatur sind die meisten erotischen bildlichen Darstellungen der Alten, zahlreiche erotische Gemälde der Renaissance, alles, was die Japaner an erotischen Bildern geschaffen haben, alles, was an Erotischem unter der Radiernadel von Felicien Rops hervorgegangen ist usw. Überall ist die Potenz, also alles, was mit der animalischen Liebesbetätigung zusammenhängt, und somit in erster Linie das männliche Geschlechtsorgan, nach den verschiedenen Richtungen übertrieben. Aber wir behaupten auch: Diese Erscheinung ist eine innerliche Bedingnis und entspringt der ganzen Tendenz der Erotik als Naturgesetz.

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101. Symbol der Erneuerung Religiöse indische grotesk-erotische Skulptur. Aus einer heiligen Höhle auf der Insel Elephanta bei Bombay

Die Liebe will stets das Höchste, das Letzte geben, sie will grenzenlos sein, unerschöpflich, unermüdlich, immer neu und niemals nachlassend. Da aber Zweck und Ziel aller gesunden Erotik die sexuelle Vereinigung ist, so kulminiert alles darin. Die sexuelle Vereinigung aber manifestiert sich bei allen lebenden Wesen stets als die denkbar höchste Kraftentfaltung. Im Augenblicke des schöpferischen Erneuerns rafft die Natur alle ihre Kräfte zusammen und konzentriert sich auf diesen einen Punkt. Alles andere versinkt, löst sich auf und nur das schöpferische Prinzip allein waltet. Indem aber die Natur den Akt der geschlechtlichen Vereinigung bei allen Lebewesen zugleich zum höchsten physischen Genusse, den das Leben bieten kann, erhoben hat, so erwächst daraus beim Menschen, der mit vollem Bewußtsein und mit tausend Nerven genießt, wo niedere Lebewesen nur ein Gesetz erfüllen, ganz von selbst die Übertreibung im Maß, im Ziel und in der Potenz. Der nächstliegende Beweis dafür ist, daß in dem Bestreben, als vollwertiges Exemplar der Gattung angesehen zu werden, die allermeisten Männer, soferne sie davon reden, die Grenzen ihrer geschlechtlichen Potenz übertreiben; meistens übertreiben sie die der menschlichen Potenz überhaupt und stellen als Regel auf, was nur seltene Ausnahmen sind. Das führt aber zu einer ganz einfachen Konsequenz in der künstlerischen Behandlung des erotischen Motives. Jede künstlerische Darstellung, sei es mit Worten oder sei es im Bilde, hat infolgedessen keine andere Aufgabe, als dieses Kulminieren anschaulich zum Ausdrucke zu bringen. Am dieses aber zu erreichen, um es sinnlich deutlich wahrnehmbar zu machen, gibt es gar kein anderes Mittel, als in der Darstellung zu vergröbern oder zu übertreiben. Eine Sache in der Darstellung zu vergröbern oder zu übertreiben, heißt aber nichts anderes als: karikieren. Aus diesem rein technischen Grund also knüpft sich das Karikaturistische, und auch das Groteske, ganz von selbst als dankbarstes Mittel der künstlerischen Beweisführung an fast jede erotische Schilderung, mag diese sich des Wortes, des Zeichenstiftes, des Pinsels oder des Meißels bedienen.

 

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Ehe wir nun zur historischen Schilderung und Begründung des Erotischen in der Karikatur übergehen, seien einige allgemein gültige Bemerkungen über den Umfang des in diesem Teil in Frage kommenden Belegmaterials vorangeschickt.

Mit Fug und Recht kann man die Behauptung aufstellen, daß die Karikatur bis in die jüngste Vergangenheit als Kulturgut geflissentlich vernachlässigt und ignoriert worden, daß die Wissenschaft aller Länder ohne Ausnahme gleichgültig an ihrer Hinterlassenschaft aus früheren Epochen vorübergegangen ist. In Deutschland ist erst durch des Verfassers verschiedene Publikationen zur Geschichte der europäischen Karikatur ein allgemeineres Interesse für die kulturhistorische Bedeutung der Karikatur wach geworden, aber der Widerhall in der Literatur besteht bis jetzt leider nur in einigen mehr fingerfertigen als geistreichen Nachahmungen der äußeren Form unserer Publikationen. Infolge dieser langen Vernachlässigung der Karikatur ist zweifellos sehr viel Gutes, vielleicht sogar ein Teil des Besten für immer verloren und untergegangen. Das gilt gegenüber der Karikatur als Gesamtgebiet. Für deren hier zu behandelndes Sondergebiet, die erotische Karikatur, ist jedoch noch viel Schwerwiegenderes festzustellen: gegen die erotische Karikatur wurde ununterbrochen ein blinder Vernichtungskrieg geführt. Alles was oben über den wider das Erotische in der ernsten Kunst geführten Vernichtungskrieg gesagt ist, gilt gegenüber der erotischen Karikatur noch in wesentlich verstärktem Maße. Während von den literarisch-satirischen Schöpfungen erotischen Charakters selbst die untergeordnetsten aufbewahrt, registriert und kommentiert wurden und heute noch in erstaunlichem Reichtum die Regale mancher Bibliotheken füllen, sind Meisterwerke der erotischen Karikatur, die sowohl als künstlerische wie als dokumentarische Werte unbedenklich neben die größten satirischen Meisterwerke der Weltliteratur zu stellen sind, mißachtet und unterdrückt worden. Freilich erklärt sich dies auch sehr einfach: Eine der Hauptursachen liegt in der einzig dastehenden Unmittelbarkeit der Wirkung der bildlichen Darstellung. Einem Buch ist äußerlich rein gar nichts von seinem sündhaften Charakter anzusehen, das Zynischste kann sich hier so züchtig präsentieren wie die fadeste und zahmste Goldschnittlyrik. Das Bild dagegen enthüllt seine »Schlechtigkeit«, seinen ketzerischen Charakter auf den ersten Blick, es spricht eine Sprache, die gar kein Sprachtalent voraussetzt, und die selbst der Analphabet versteht. Das heißt mit anderen Worten: die Schwierigkeit des Schutzes vor den Augen Unberufener kam der Verständnislosigkeit gegenüber dem dokumentarischen Kulturgeschichtswert solcher Produkte außerordentlich und ständig zu Hilfe. Eine weitere Ursache, die der Vernichtungswut obendrein einen Schein von Berechtigung verleiht, ist die, daß die Erotik, wie sie sich in der Karikatur manifestiert, naturgemäß häufig nichts weniger als »vornehm reizvoll« war, wodurch sich vielleicht einer oder der andere »Ästhet« hätte aussöhnen lassen, während er durch Vernichtung für die seinen Augen zugefügte Beleidigung Rache nahm. Die Folge dieses ewigen Vernichtungskrieges ist nun, daß sich alle Gebiete der erotischen Karikatur heute wie ein einziges Trümmerfeld darstellen, auf dem man mühsam nach den Resten graben muß.

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102. Grotesker Phallus aus einem Felsen herausgemeißelt Religiöses Symbol. Bei Pompeji gefunden

Wenn sich nun aber trotz dieses nie zu Ende gegangenen Vernichtungskrieges wahre Berge von Material aus allen Zeiten vom Forscher hervorholen lassen, sobald er dem Suchen eine halbwegs andauernde Anstrengung widmet, so ist schon mit dieser einzigen Konstatierung die kulturhistorische Wichtigkeit der Materie dargelegt. Denn es ergibt sich daraus unzweideutig, daß die erotische Karikatur im Leben der Völker eine Rolle gespielt hat, von deren Bedeutung man heute gemeinhin auch nicht den Schimmer einer Ahnung hat. Um das Wort »wahre Berge« so stark als möglich zu unterstreichen, sei hier schon festgestellt, daß es mehr als eine Geschichtsepoche gab, die in kürzester Frist Tausende von erotischen Bildern, darunter Hunderte von erotischen Karikaturen, hervorgebracht hat. (Vgl. S. 77.)

 

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