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Frankreich, Deutschland, England
Die dritte Phase der modernen bürgerlichen Entwicklung, die auch unsere Gegenwart in sich schließt, setzte in Europa etwa mit dem zweiten französischen Kaiserreich ein. Diese dritte und letzte Phase basiert auf der Entwicklung zum Großkapitalismus, der von der Mitte des 19. Jahrhunderts an allmählich auf der ganzen Linie einsetzte und überall die gesamte Gesellschaftsordnung mit seinem Geiste durchtränkte und als beherrschender Faktor auf allen Gebieten in seinem Interesse modelte. Mit der internationalen Gleichartigkeit dieser Entwicklung wird die innere und äußere Physiognomie der verschiedenen Völker und Staaten allmählich in einer Weise gleichartig, wie es bis dahin nie der Fall war.
Dieser dritten Phase ist als wichtigstes Unterscheidungsmerkmal von früheren Epochen die Massenanhäufung von Menschen eigentümlich. Die Großindustrie, auf der der Großkapitalismus beruht, bedarf zur Erfüllung aller ihrer Funktionen der Konzentration von Hunderttausenden an einem Orte; das entwickelte die Großstadt. Seit dem zweiten französischen Kaiserreiche gibt es und entwickeln sich auf dem Kontinent Großstädte. Bis dahin gab es nur große Provinzstädte, denn das war bis zu diesem Zeitpunkt in gewissem Sinne selbst Paris, dem doch immer der Ehrentitel gebührte, die Stadt zu sein; die Verkörperung des Begriffes, wo alles kulminiert, alle Menschheitsinteressen und alle Menschheitsprobleme; wo sie aufeinanderplatzen, entscheidend propagiert und entscheidend gelöst werden – das ist die wirkliche Stadt.
Die Großstadt bedingte neue Gesetze der öffentlichen Sittlichkeit. In erster Linie größere Strenge nach außen bei ebenso großer Nachsicht gegenüber der geheimen Sünde, die sich diskret hinter die verschlossenen Fensterläden zurückzieht. Darauf beruht die Existenzmöglichkeit der Großstadt.
In dieser dritten Phase der modernen bürgerlichen Entwicklung liegen überall die Jugendstürme weit zurück. Man ist durch den Gang der Dinge gründlich von dem feurigen Jugendtraume kuriert worden, daß man auf diesem Weg am letzten Ende in das goldene Zeitalter einmünden werde. Nach dieser nicht gerade besonders tiefen, aber immerhin ganz richtigen Einsicht stellte man den ganzen Lebenszweck auf die solide Basis, daß Geldmachen die angenehmste und zugleich die einzig verständige Moral ist. Die idealen Forderungen in den politischen Parteiprogrammen sind in dieser Zeit bei den meisten Parteien nur mehr noch Blender, die tatsächlich keinen anderen Zweck haben als den: das Utilitätsprinzip dekorativ zu kaschieren. Um die rechnerische Kalkulation schließlich von allen Seiten zu sichern, formulierte die öffentliche Sittlichkeit nach außen die Strenge.
Durch diese Entwicklung schied aber das Idyllische, die reinen und harmlosen Freuden, aus dem Gefühlsschatz der Großstädter fast vollständig aus, und das Komplizierte, das Raffinierte, und in letzter Steigerung das Laster wurden wieder die Erholung. Das bedingte wiederum die Gegenseite des äußeren Wohlanstandes: daß die öffentliche Sittlichkeit für die geheime Sünde eine ebenso große Nachsicht sanktionierte.
Dies ist überall die Signatur für das erste Stadium der modernen großkapitalistischen Entwicklung.
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Bis zu welch hohem Grade die private, gesellschaftliche und öffentliche Korruption der Sitten sich steigerte, als unter dem zweiten Kaiserreiche mit dem Herrschaftsantritt der »Königin Kokotte« die Liederlichkeit wieder offiziell wurde, das ließe sich durch eine ähnlich erdrückende Fülle von Material, wie es bei dem Ancien régime zu Gebote steht, erbringen. Aber wir müssen uns auch hier mit einigen wenigen bezeichnenden Beispielen begnügen.
Zur Illustration der privaten Korruption mögen folgende Notierungen aus dem durch seine unumwundene Offenheit wertvollen Memoirenwerke des Grafen Viel-Castel dienen.
Im Verlauf einer Unterhaltung über die mehr als freien Allüren der jungen Damen der vornehmen Pariser Gesellschaft teilte die Prinzessin Mathilde, die bekannte Cousine Napoleons III., dem Grafen Viel-Castel das folgende pikante Erlebnis aus ihrem Salon mit: Ein Fräulein von Stackelberg wurde einmal von Fleury, dem bekannten Adjutanten Napoleons III., umworben. Die Prinzessin Mathilde sollte als Mittelsperson bei der angesehenen Familie Stackelberg um die Hand der schönen Tochter anhalten. Am nun vor allem den beiden jungen Leuten Gelegenheit zu geben, sich zusammenzufinden, wurde ein Diner bei der Prinzessin arrangiert. Fleury und Fräulein von Stackelberg saßen bei Tisch nebeneinander. Da die letztere aber nicht nur einen Mann wollte, sondern vor allem einen, der ihrem, und das war der Zeitgeschmack, entsprach, so unternahm sie es, den ihr bestimmten Gatten sofort nach dieser Richtung zu sondieren. Dies tat sie, indem sie schon bei dieser ersten Zusammenkunft eine Gelegenheit fand, den Adjutanten zu fragen: » Si nous nous trouvions seuls dans une chambre que feriez-vous?« Soweit Viel-Castel. Was er in diesen wenigen Zeilen registriert, ist nichts mehr und nichts weniger als das Zeitprogramm über den Verkehr der beiden Geschlechter miteinander in die denkbar knappste Formel gepreßt: Man ist im Kaiserreich über den Provinzstandpunkt mit seinen altväterischen und umständlichen Formen hinaus, und da man gemäß der damals herrschenden korrupten Moral der Anschauung huldigt, daß ein junger Herr gegenüber einer hübschen jungen Dame keine anderen als erotische Gedanken und Wünsche haben kann, so hält man es für selbstverständlich, daß er auch schon die erste günstige Gelegenheit benutzen wird, dies an den Tag zu bringen: » Un komme qui ne sait pas manquer de respect à une femme, c'est pas un homme.« In dem besonderen Falle weiß das schöne Fräulein von Stackelberg überdies, und zwar wahrscheinlich nicht nur aus dem Munde zahlreicher galanter Courmacher, sondern auch die sachverständige Frau Mama wird es ihr eingeschärft haben, daß sie für einen Mann von Geschmack ein delikater Leckerbissen ist. Unter diesen Umständen kann sie es sich nach ihrer ganzen Erziehung gar nicht anders vorstellen, als daß der Mann, dem man gestattet, um sie zu werben, und der somit in absehbarer Zeit sowieso auf legale Weise in den Genuß ihrer Person kommt, die erste Gelegenheit benutzen wird, sich auf das Kommende Vorschüsse zu nehmen. Mit anderen Worten: die junge Dame des zweiten Kaiserreiches findet es ganz natürlich, daß ein Liebhaber sich keinen Tag mit dem begnügen wird, was ihre Gesellschaftsrobe seinen Blicken preisgibt, und wäre dies noch so verschwenderisch viel, sondern daß er die erste günstige Minute des Alleinseins mit ihr dazu benutzen wird – de manquer de respect. Daß man ein solches »manquer de respect« bestimmt von ihm erwartet, daß man also vorurteilslos erzogen ist, – das »pikant« anzudeuten, ist natürlich ebenso Aufgabe einer Dame in einer Zeit, in der die züchtigen Mauerblümchen nur komische Figuren in den Augen der Männer sind, dagegen jene Damen um so begehrter sind, die zu versprechen verstehen, daß einen Gatten auch im Ehebette jene »Delikatessen der Liebe« erwarten, mit denen er in seiner Junggesellenzeit von seinen Maitressen regaliert worden ist.
Aus der begriffswilligen Novize in der Galanterie wird die anspruchsvolle Meisterin; das ist der zweite Akt. Man höre, was Viel-Castel über ein persönliches Erlebnis mitteilt, das er mit der bekannten Gräfin d'Agoult hatte:
» La comtesse d'Agoult, sœur de Flavigny, est cette femme enlevée par Liszt dont elle a trois enfants … C'est eile, qui un soir, où nous étions seuls à prendre le thé chez elle au coin du feu me dit: ›J'ai voulu savoir quel bonheur il pouvait y avoir à être à deux hommes en même temps.‹ – ›Comment?‹ répondis-je. – ›Comment?‹ repliqua-t-elle, ›vous avez mangé des sandwichs?‹ – ›Oui.‹ – ›Savez-vous comment on les faits?‹ – ›Parbleu, c'est un morceau de pain avec du beurre d'un côte et du jambon de l'autre.‹ – ›Très bien, j'ai fait une sandwich, et j'étais le pain!‹« …
Wenn man diesen Dialog liest, wird man der berühmten Gräfin d'Agoult leider nur das eine zubilligen können: daß sie es verstand, ihre korrumpierten Begierden in geistreicher Form auszudrücken.
Der Schlußstein solchen Gebarens war natürlich eine bis ins Phantastisch-Ungeheuerliche sich steigernde Perversion. Diese Perversion ist klassisch verkörpert in der Tragödin Elisa Rachel. Über die erotische Wut dieser berühmten Tragödin berichtet der Graf Viel-Castel nach den Mitteilungen von Leopold Lehon, der einer ihrer vielen Liebhaber gewesen ist, folgendes:
» Ce qui pourra faire comprendre leur intensité ce sont les deux faits suivants: Une nuit elle dit à Léopold Lehon; ›Je voudrais être b … sur le corps d'un homme qu'on viendrait de guillotiner.‹ A un autre de ses amants elle imposa la condition de lui répéter dans les moments décisifs; ›Je suis Jésus-Christ!‹ et chaque fois que ces mots sacrilèges frappaient son oreille Rachel tombait dans un paroxisme de jouissance impossible à décrire.«
Einer solchen Phantasie gegenüber ist die Kaprice der Gräfin d'Agoult »einmal von zwei Männern zugleich genossen zu werden«, wahrlich noch ein höchst harmloses erotisches Vergnügen!
Zur Charakteristik der gesellschaftlichen Korruption diene folgendes: Das offizielle Theater, trotzdem es, ebenso wie unter dem Ancien régime, durch und durch pornographisch gesättigt war, genügte der pornographischen Schaulust nicht mehr. Man wollte auf dem Theater alles sehen. Und da dies im Rahmen der Öffentlichkeit nicht erfüllbar war, so lebten die Théâtres clandestins wieder auf, wo in privaten Zirkeln vor einem geladenen Publikum rein erotische Stücke aufgeführt wurden. Ein solches geheimes erotisches Privattheater war z. B. » Le Théâtre érotique de la rue de la Santé Batignolles«, das vom Jahre 1864-1866 existierte. Auf diesem Theater kamen der Reihe nach zur Aufführung: » La Grisette et l'Etudiant« von Monnier; » Le dernier jour d'un Condamné«, Drama in drei Akten von M. Tisserant; » Un Caprice«, Vaudeville in einem Akt von Lemercier de Neuville, und » Les jeux de l'amour et du Bazar«, ebenfalls von Neuville. Der Inhalt eines jeden dieser Stücke war zügellose Erotik, die Pointe meistens eine bis ins kleinste Detail gehende Darstellung des Geschlechtsaktes; das Monniersche Stück bestand sozusagen überhaupt nur daraus. Derartige geheime erotische Theater haben sicher mehrere im Laufe der Jahre existiert, einzelne sind unentdeckt geblieben, und ihre Existenz ist erst später durch das Auftauchen von Einladungsschreiben usw. erwiesen worden, wieder andere aber sind bekannt geworden, und ihre Geschichte lebt in den Pariser Polizeiakten weiter.
Wie weit die Grenzen des Möglichen im gesellschaftlichen erotischen Gebaren gingen, enthüllt auch die galante Konversation der Zeit. Von der »pikanten« Façon de parler der schönen Gräfin Castiglione, der von so vielen Lebemännern des zweiten Kaiserreiches heißumworbenen Gunstdame Napoleons III., wird folgendes berichtet:
» La conversation de la comtesse est vive et legère; on peut lui dire des choses graveleuses et elle ne fait point la prude. Vimercati ne s'est point gêné pour lui faire entendre des polisonneries les plus fortes; ainsi comme elle mangeait un bonbon à la fleur d'orange et qu'elle en aspirait la liqueur sucrée en le tenant serré entre ses lèvres. ›Aimez-vous à sucer, comtesse!‹ lui a-t-il dit. La Castiglioni lui a repondu: ›A sucer quoi?‹ … puis elle a ri d'une petite façon égrillarde fort réjouissante.«
Der frechste Zuhälterwitz vermag solchen Zynismus nicht zu überbieten.
Die öffentliche Korruption illustrieren hinreichend zwei Tatsachen: der allgemeine Charakter der Literatur und die kühnen Extravaganzen, zu denen man sich Jahre hindurch täglich in allen öffentlichen Tanzsälen hinreißen ließ.
Der allgemeine Kokottencharakter der Literatur dieser Epoche ist bekannt; sie diente, wie man weiß, fast durchweg mit Eifer und spekulativer Phantasie der privaten und gesellschaftlichen Korruption. Als eine besonders bezeichnende buchhändlerische Erscheinung des Kaiserreiches seien jedoch die verschiedenen Dictionnaires érotiques gekennzeichnet, die in dieser Zeit erschienen sind. Als deren berühmtestes kann das Dictionnaire érotique moderne von Alfred Delvau gelten, das 1864 zum erstenmal erschien, und das in seiner zweiten Auflage nicht weniger als 402 enggedruckte Seiten mit mehr als 1500 Deutungen und Erklärungen »gebräuchlicher« pornographischer Begriffe, Worte und Redensarten umfaßt. Zur Charakteristik dieses Werkes und dieser Werke überhaupt mögen die drei ersten Erklärungen im Buchstaben A hier angeführt sein:
Abandonner (S'), Se livrer complètement à un homme, lui ouvrir bras et cuisses, lui laisser faire tout ce que lui conseillent son amour et sa lubricité.
Abatteur de Bois, Fouteur, – son outil étant considéré comme une cognée et la nature de la femme, à cause de son poil, comme une forêt.
Abbaye de Clunis (L') Le cul, – de clunis, fesse croupe, – une abbaye qui ne chômera jamais taute de moines.
Es darf übrigens nicht übersehen werden, daß diesen Werken unstreitig auch ein eminent kulturhistorischer Wert zukommt. Durch kein Dokument wird unseres Erachtens so klassisch die unerschöpfliche Fruchtbarkeit der menschlichen Phantasie auf dem Gebiete der Erotik belegt, wie durch diese Werke, denen man, nebenbei bemerkt, ähnlich umfangreiche Werke aus dem erotischen Sprach- und Begriffsschatz eines jeden Volkes an die Seite stellen könnte, was die wertvollen Publikationen des Wiener Folkloristen Friedrich Krauß überzeugend erweisen. Während für die wichtigsten Gegenstände des täglichen Lebens, wie z. B. für Brot, Wasser, Fleisch usw., die Phantasie nur einige wenige synonyme Namen erfunden hat, hat sie für jedes Bestandteil der Erotik hundert Ausdrücke zur Hand und erfindet in jeder Sprache täglich neue.
Wie in der korrumpierten Phantasie der Neuzeit die einfachsten Dinge einen zweideutigen pornographischen Sinn bekommen haben, das kann man aus dem Vorworte dieses Diktionärs erfahren:
» Qu'une femme à qui vous parlerez d'un voyage agréable et curieux que vous aurez fait, vous dise: Je meurs d'envie de le faire, les sots éclatent de rire, et les fausses prudes rougissent. Céliante se donne la torture pour mettre son gant trop étroit pour sa main; vous n'oseriez jamais lui dire: Madame, voulez-vous que je vous le mette? ni méme: que je vous l'ôte? parceque notre esprit corrompu va plus loin que les termes propres ne signifient, et qu'il suppose que, pour l'ôter, il faut l'avoir mis, et qu'il soit dedans. Si vous servez de ces termes simples, vous passez pour un sot, ou du moins, pour un mauvais plaisant.«
Dieses Suchen und Finden von Zweideutigkeiten in den an sich harmlosesten Satzbildungen ist die Bestätigung für das weiter oben Gefolgerte: Für den Mann ist die Frau und für die Frau ist der Mann nur ein erotischer Begriff. In der Phantasie der Frau verkörpert sich der Mann einzig nur in dem, was ihn körperlich zum Manne macht. Daran denkt die Dame des zweiten Kaiserreiches schon bei der Benutzung der harmlosesten Worte, und wenn der Mann sie gebraucht, findet sie darin stets Beziehungen auf sich als Geschlechtswesen. Das muß der Mann von Bildung wissen, und da die öffentliche Sittlichkeit nach außen den Anstand gebietet, so darf er solche Worte nur benutzen, wenn er mit der Dame allein ist oder wenn er wirklich die Absicht hat, zweideutig sich auszudrücken. Andernfalls mag er sich als Tölpel einschätzen.
Bei den öffentlichen Tänzen wiederholte sich dieselbe Ungeheuerlichkeit, die auch zu den erotischen Gepflogenheiten des Ancien régime zählte. Dieselben Tricks, durch die von den Tänzerinnen des 18. Jahrhunderts die erotische Neugier der Libertins aufs schamloseste befriedigt wurde, kamen jetzt im Bal mabile, in Closerie de Lilas und in Dutzenden anderen öffentlichen Ballokalen beim Cacan von neuem in Mode. Nur mit dem einen Unterschiede: was damals Einzelerscheinung war, wurde jetzt Massenerscheinung. Die neue Zeit tanzte zwar nicht mehr ohne Unterkleider – obgleich auch das vorkam –, sie hatte neben dem Cancan den faszinierenden erotischen Reiz der Dessous, der spitzenbesetzten Röcke und Pantalons entwickelt. Aber darum war es um so pikanter, wenn inmitten der wirbelnden Spitzenwolken jäh die intimsten Reize einer Tänzerin den einzig auf diesen Augenblick lauernden Blicken der Zuschauer oder Mittanzenden sichtbar wurden. Das erreichte man, indem man dem Sport huldigte, nicht mit geschlossenen Beinkleidern zu tanzen. In der Gesellschaft des Kaiserreiches spottete man überhaupt jeder Dame als einer lächerlichen Prüden, von der eine boshafte Freundin geklatscht hatte, daß sie sich wie ein Backfisch kleide. Niemals geschlossene Beinkleider zu tragen, war die erste Regel der intimen Kleiderordnung für eine Femme du monde! Durch so altväterische Moden setzte man ja »allen galanten Scherzen«, mit denen eine unternehmungslustige und vorurteilslose Femme du monde täglich rechnen mußte, das ärgerlichste Hindernis. Un pantalon clos, un clos de vigne – welche Geschmacklosigkeit, welche Blödigkeit! Bei einer solchen allgemeinen Moralanschauung sollte gar eine raffinierte Tänzerin, die des Erwerbes wegen öffentlich tanzte, mit geschlossenen Beinkleidern tanzen? Und das auch noch bei einem Tanze, bei dem die zügelloseste Ausgelassenheit die erste Tanzregel ist, beim Cancan, dem »Wahnsinn der Beine«?
Die ausschweifende Kühnheit, zu der sehr rasch diese Moral führte, debordierte schließlich dermaßen, daß selbst der so nachsichtigen Sittenpolizei bange wurde. Um wenigstens die gröbsten Schamlosigkeiten einzudämmen, blieb ihr kein anderes Mittel übrig, als in sämtlichen öffentlichen Ballokalen in der Mitte der Tanzenden einen Sergent de ville als Sittenwächter zu placieren. Dieser Sittenschutzmann hatte den gemessenen Befehl, jede Dame sofort aus dem Tanzsaale zu verweisen, bei der er gewahrte, daß sie sich beim Cancan durch sichtbar werdende »Offenheit« ihrer Pantalons » une outrage à la morale publique et aux bonnes moeurs« zuschulden kommen läßt. Man tanzte also hinfort unter Polizeiaufsicht. Diese Tatsache allein ist sicher der bündigste Beweis, daß es sich bei diesem schamlosen Gebaren nicht um einen Einzelfall, sondern um eine täglich mehrfach wiederkehrende Programmnummer handelte.
Aber der »Wahnsinn der Beine« raste unter dem zweiten Kaiserreiche nicht nur durch die öffentlichen Ballokale, sondern auch durch die vornehmsten Salons der Gesellschaft. Und hier gab es gar keine Schranke, denn in den Salons der berühmten Femmes du monde stand der den Anstand gebietende Sittenschutzmann selbstverständlich nicht. Da die Geneigtheit der meisten Damen, in der Galanterie so verschwenderisch wie möglich zu sein, überall gleich groß war, wie der Ehrgeiz, es der berühmten Rigolboche, der angestauntesten Cancantänzerin des zweiten Kaiserreiches, an Kühnheit im Beineschmeißen gleichzutun, so liegt auf der Land, zu welchen Orgien es in einer ausgelassenen Gesellschaft geführt hat, wenn man die Damen zum Cancan drängte. Und die Sittengeschichte erweist, daß das vornehme Paris damals tagtäglich in zahllosen solcher Orgien schwelgte.
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Eine Gesellschaft, die sich in solcher Weise »über des Rätsels Heiligkeit« unterhielt, goutierte selbstverständlich das erotische Bild so stark wie jedes andere korrumpierte Zeitalter. Die Herren und auch gar häufig die Damen dieser Kreise waren gute Kunden des verbotenen Handels; sie sorgten beharrlich und eifrig dafür, daß er allen Polizeiverboten zum Trotz ununterbrochen üppig florierte. Der Umfang der Kreise, über die sich die Korruption jetzt ausdehnte, machte alles Erotische ohne Ausnahme zum Massenartikel. Die in dieser Zeit sich entwickelnde Photographie bot das technische Mittel, dessen man dazu bedurfte.
Die Photographie verleiht der erotischen Kunst seit dem zweiten französischen Kaiserreiche die bezeichnende Signatur. Der Holzschnitt verschwand, der Kupferstich verschwand, die Lithographie schaltete aus, und an ihrer aller Stelle trat überall die Photographie. Die Vorherrschaft der Photographie auf allen Gebieten bildlicher erotischer Darstellung wurde überdies von einem sehr wichtigen Umstande beeinflußt: sie emanzipierte vom Künstler. Das Ancien régime, die Revolution, und auch das Geschlecht von 1830 waren alle von ihren zeitgenössischen Künstlern abhängig. In einer Zeit nun, wo man fast ausschließlich in Massen und für die Masse zu produzieren hatte, wäre es sehr hinderlich gewesen, wenn man ausschließlich vom Künstler und diesen immerhin umständlichen Reproduktionsverfahren abhängig gewesen wäre, auch wenn noch so viel bereitwillige Künstler zur Verfügung gestanden hätten. Ein weiterer, die Anwendung der Photographie ungemein fördernder Faktor war die allgemeine Stillosigkeit, die mit dem zweiten Kaiserreich einzog. Sie zeigte, wie wir gleich sehen werden, den gangbaren Ausweg, der es ermöglichte, ohne jede Beihilfe des Künstlers erotische Ware leicht in Hülle und Fülle auf den Markt zu bringen und dabei doch allen Wünschen zu dienen. Das Merkmal des zweiten Kaiserreiches war sein kosmopolitischer Charakter: es borgte von aller Welt und aus jeder Zeit. Überall und aus allen Epochen holte es sich das her, was ihm zusagte. Bald aus dem klassischen Altertums, bald aus der Gotik, bald aus der Renaissance. Aus tausend Flicken setzte es sein geistiges, physisches und moralisches Gewand zusammen; mit tausend Gerichten, die aus tausend Himmelsrichtungen kamen, richtete es seinen Tisch und seine Tafel her, und erst ganz zuletzt kam das Eigengewächs hinzu. Das war auch in der Kunst so: sie kopierte wacker die alten Meister, deren Manier und Stoffgebiet der herrschenden Moralanschauung zusagten, und darum zumeist die früheren Nuditätenmaler. Was gab es nun hinsichtlich der erotischen Kunst Naheliegenderes, um den Massenbedarf, den die unersättliche erotische Neugier jeden Tag forderte, bequem zu stillen und doch Abwechslung hineinzubringen, als daß man ebenfalls in die Schatzkammer der Vergangenheit hineinstieg und mit den erotischen Schöpfungen früherer Generationen eifrigen Handel trieb? Und das eben ermöglichte die Photographie auf die bequemste Weise. Sie gestattete, auf die billigste Weise alles »neu aufzulegen«, wie es im Buchhandel heißt. So kommt es denn, daß man heute noch manche sonst sehr seltene erotische Werke aus früheren Zeiten in Photographien im Handel finden kann. Man photographierte kühne Blätter aus dem 18. Jahrhundert, erotische Bilder von Rowlandson, von Morland und vor allem die Laszivitäten Maurins und Deverias.
Aber ihre spezifische erotische Kunst hatte diese Zeit doch. Und auch sie knüpfte sich an die Photographie, es ist – die Naturaufnahme. Die photographischen Naturaufnahmen, nackte Frauen und Männer in erotischen Stellungen, erotische Szenen und ganze Orgien kamen in dieser Zeit auf. Von »Kunst« war da natürlich keine Rede mehr. Aber das vertrug sich wiederum ganz gut mit den herrschenden ästhetischen Anschauungen. Das Fabrikzeitalter hat in seinen Anfängen niemals und nirgends ein künstlerisches Gewissen. Es sagt: »Ach was, Kunst! Kunst ist Humbug, Schwindel! Wir wollen Realität, Wirklichkeit, die echte, handgreifliche Wirklichkeit, und nicht dies schaumschlägerische Phantasieprodukt.« Die handgreifliche Realität war auf dem Gebiete der bildlich dargestellten Erotik die »Naturaufnahme«. Alle Gesetze des Fabrikzeitalters kamen somit zur Geltung: schnell und billig und schlecht.
Die Verwendung der Photographie in der Erotik hatte schließlich noch eine dritte fördernde Ursache in der relativen Leichtigkeit des Vertriebes. Der offene Verkauf direkt erotischer Darstellungen war seit der Restauration polizeilich verboten und mit Geld- und Gefängnisstrafe bedroht. Aber noch unter dem Bürgerkönigtume war die Umgehung des Verbotes nicht allzu kompliziert, die Organisation und die Funktion des Polizeiapparates war in jenen romantischen Zeiten noch zu umständlich und zu schwerfällig. Das wurde wesentlich anders, als der Bonapartismus die Polizei zur wichtigsten Stütze seiner Herrschaft und Macht ausbildete. Große Kupferstiche und Lithographien waren immer auffällig; ihre Herstellung war umständlich, erforderte Maschinen und zahlreiche Zwischenhände, und es war ebenso unmöglich, sie beim Vertriebe geschickt vor den Augen der Polizei zu verbergen. Bei Photographien war dies in beiden Richtungen anders. Sie konnten ohne besondere Schwierigkeit und ganz unauffällig von jedermann hergestellt und ebenso unsichtbar vertrieben werden. Ein Händler konnte scheinbar mit allen möglichen Harmlosigkeiten handeln und doch sein bestes Geschäft mit erotischen Photographien machen, die er in einem kleinen Pakete unbeachtet in der Tasche bei sich trug. Das hat sich bis heutigen Tages trotz aller Strafen bewährt. Damals war die Polizei noch obendrein so entgegenkommend, sich in diesen Dingen nur um das zu kümmern, was man ihr ostentativ unter die Augen rückte. Man tat der Polizei natürlich gerne den Gefallen, ihr Entgegenkommen zu respektieren, indem man sozusagen alles darauf einrichtete. Denn es kam selbst das, was an künstlerischer Erotik aus der Hand von zeitgenössischen Zeichnern und Malern im Laufe der Jahre hinzukam, fast ausnahmslos nur in der Form von kleinen Photographien in den Handel.
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Zwei Erscheinungen sind das Ergebnis dieser Entwicklung: Das allgemeine Niveau der erotischen Kunst reduzierte sich in auffälliger Weise, und das Karikaturistische schied aus der Erotik sehr stark aus. Jedenfalls überwog das Rein-Erotische ohne satirische oder karikaturistische Tendenz von nun an ungleich stärker, als dies jemals zuvor der Fall gewesen war.
Im künstlerischen Stil wandelte die erotische Karikatur naturgemäß dieselben Bahnen, die die ernste Kunst sich gewählt hatte: sie kopierte wie diese. Die ernste Kunst kopierte zuerst mit Vorliebe das Rokoko. In der Vorherrschaft des Sinnlichen, des Lasterhaften hatte sich die öffentliche Moral dem Ancien régime wieder genähert. Man verstand also diese Zeit besser als jede andere, darum übersetzte man ihre Kunst in die Gegenwart. Daß man sich dieser Zeit auch politisch verwandt fühlte, dafür sorgte mehr als eindringlich der allmächtige bonapartistische Polizeiknüppel in der Faust der »Dezemberbande«. Mit welchem Raffinement diese Anlehnung an das Rokoko geschah, dafür ist ein Ausspruch klassisch, den die Kaiserin Eugenie gegenüber dem hervorragendsten künstlerischen Interpreten des Rokoko, Charles Chaplin, tat: »Herr Chaplin, ich bewundere Sie, Ihre Bilder sind nicht nur unanständig, sie sind mehr.« Wenn man in der offiziellen Kunst auch vielleicht nicht so weit ging wie die Lancret und Borel, so lagerte dafür das moderne Kokottenparfüm über diesen Produkten, und darauf reagierten die modernen Sinne unweigerlich. Ohne es definieren zu können, fühlte man, daß jetzt selbst das Zahmere um mehrere Grade unanständiger ist. Es roch alles mehr nach dem spezifischen Dufte des modernen Bordells als nach dem des Petite Maison.
Ähnliches mag auch für die Karikatur gelten, die ebenfalls einige Zeit hindurch ihre Äußeren Formen dem Rokoko entlehnte. Den modernen Wüstling kleidete man in das graziöse Gewand des Libertins aus dem 18. Jahrhundert, die Kokotte wandelte man zum niedlichen Rokokomamsellchen. Man idealisierte so gewissermaßen die nüchterne Rohheit der Ausschweifungen, denen man frönte. Eine Probe dafür ist das Blatt » Partie Contre-Carrée« (s. Beilage). Von galanten Vorspielen an dem lose umgelegten Busentuche war man scherzend und schäkernd allmählich zu intimerem Tun vorgeschritten. Im entscheidenden Augenblicke tritt jedoch drohend und scheltend der Ahnherr des Geschlechtes dazwischen. Unter seinen Augen hat sich das ganze lose Geplänkel entwickelt; jetzt, da seine Urenkelin sich selbst anschickt, die duftigen Schleier zu lüften und eigenhändig ihre intimsten Schönheiten der verliebten Neugier ihres Verführers zu enthüllen, da duldet es ihn nicht mehr länger in seinem Bilderrahmen, und drohend tritt er aus der Leinwand hervor. Aber das Geschlecht des Fabrikzeitalters läßt sich dadurch nur für einen Augenblick irritieren, es spielte sich längst selbst die Vorsehung, und im übrigen hätte gerade der Ahn den allerersten Grund zu resignieren. Das, was die niedliche Urenkelin eben probt, was besser schmeckt: le mariage ou l'adultère, darin hatte sich die selige Stammutter ebenfalls eifrig unterweisen lassen. Das Geweih, mit dem sie den Rahmen seines Bildes geziert, kündet es, daß auch er zur großen Konferie der Gehörnten gehört hat. Er mag sich also beruhigen und es als ein unabwendbares Schicksal hinnehmen und still in seinen abgeblaßten Rahmen zurücktreten, denn es ist tatsächlich ein sehr, sehr altes und in der Familie treulich eingebürgertes Stück, das hier wieder einmal zur Aufführung gelangt. Solche Blätter wurden natürlich öffentlich verkauft. Das gleiche gilt von Blättern wie die biedermaiernde Lithographie » Le fruit défendu« (s. Beilage).
Aber das Maschinenzeitalter ist in seinen Anfängen einer duftigen Grazie wie der des Rokoko zu feindlich, als daß es zu einer intimeren Verwandtschaft hätte kommen können. Die Anlehnung ans Rokoko war darum nur eine vorübergehende Aushilfe, bis man Formen entwickelt hatte, die dem eigenen Wesen adäquat waren. Dem Maschinenzeitalter entspricht in seinen Anfängen das Harte, Gradlinige, Abgezirkelte, Praktische, und das drückte auch der galanten Kunst sehr bald den nüchternen Stempel auf, sie wurde unpoetisch, prosaisch, nüchtern, steifleinen. Eine sehr charakteristische Probe dieser unpoetischen Nüchternheit ist die foliogroße Lithographie »Die lustige Badegesellschaft« (s. Beilage). Solche Ware entsprach sicher mehr dem Zeitgeschmacke. Zu vielen Hunderten erschienen darum solche und gleichwertige Scherze. Und daß sie großen Einklang fanden und massenhaft gekauft wurden, das beweist schon der eine Umstand, daß die Hauptlieferanten neben dem Hauptgeschäft in Paris noch große Spezialniederlagen in London und Berlin hatten. Das war auch die Kunst, mit der das mittlere Bürgertum jener Jahre mit Vorliebe seine Wände zierte, vieles davon hat sich bis heute in derselben Weise erhalten; immer und immer wieder stößt man von neuem auf diesen Wandschmuck, besonders wenn man in Familien kommt, deren Hausrat noch aus den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stammt.
In der Mode gab der Krinolinenwahnsinn zahlreiche Anregungen zu eindeutig erotischen Karikaturen und erotischen Witzillustrationen. Und so steif und ungraziös diese dahinfegenden Stoffkolosse waren, ebenso nüchtern und hart wirken die erotischen Pointen, die die Marcelin, Grevin usw. daran knüpften. Aus dem Mangel an jeder Poesie entsprang auch zum Teil der verstärkte Eindruck des Unanständigeren, den jedes derartige Erzeugnis macht.
In dem Maß, in dem das ausgesprochen Erotische von der Straße verschwinden mußte und aus dem öffentlichen Handel ausschied, in gleichem Maß entschädigte man sich in dem, was unter der Hand vertrieben wurde, hierher flüchtete sich auch die kecke Laune. Produkte ausgelassener erotischer Laune waren in Frankreich neben der ständigen Reproduktion der Poitevinschen Teufeleien einige Suiten von der Hand Grevins und Marcelins, die das intime Leben der »Hindinnen« und der Femmes du monde naturgetreu illustrierten. Aber das war nur ein verschwindender Teil. Die Hauptmasse machten die namenlosen Stücke aus, deren Urheber schon deshalb nicht festzustellen sind, weil die Mehrzahl ihrer Schöpfer überhaupt nie einen Namen hatte. Als häufigste Motive fallen unter diesen namenlosen Stücken grotesk-erotische Tingel-Tangel- und Zirkusszenen auf. Das moderne Tingeltangel ist ebenso wie der Zirkus unter dem zweiten Kaiserreich entstanden und zu seiner höchsten Blüte gelangt. Also beutete man diese Motive mit Vorliebe für erotische Scherze aus. Eine mehr als hundert Stück umfassende Kollektion aus dieser Zeit, die uns zur Durchsicht zur Verfügung gestellt wurde, enthielt zur Hälfte grotesk-erotische Tingeltangel- und Zirkusgruppen. Balancierkunststücke von nackten Schönen »an Priaps stolzem Amtssymbol«, kühne Balancierkunststücke von Seiltänzern, die grotesk sich umarmende Paare mit Virtuosität über das Seil tragen, weiter erotisch-groteske Kunstreiterstückchen von Herren und Damen. Im Panoptikum ist ein Riese ausgestellt, der seine gewaltige Manneskraft eleganten Pariserinnen demonstriert; Zutritt zu diesem Kabinett ist nur Damen gestattet, die sich denn auch in unabsehbarer Menge danach drängen und sachkundig prüfen. Ein Wachsfigurenkabinett zeigt, daß die moderne Eva vom Baume der Erkenntnis nicht einen Apfel, sondern einen stattlichen Phallus pflückt; die Schlange wird zum Teufel, der Eva umarmt, während Adam sein Mittagsschläfchen hält, so dämmert ihr »die Erkenntnis« auf. Usw. usw.
Diese Cochonnerien wurden über die ganze Welt verbreitet und überall gehandelt. Die Produkte der verschiedenen Länder vermischten sich dadurch, und selbst der Ursprungsort der einzelnen Stücke ist darum selten festzustellen. Zweifellos stammte jedoch das meiste aus Paris, das lassen mit ziemlicher Deutlichkeit die Moden und die Typen erkennen. Daß auch Wien sehr viel beisteuerte, das illustrieren die vielen süßen Mädels, denen man begegnet; auch die mannigfach auftauchenden massiven Reize »kolossaler Weiblichkeit« lassen die Wiener Herkunft nicht verkennen. Die Blütezeit dieser pornographischen Produktion setzte sich bis weit in die siebziger und achtziger Jahre fort. –
In Deutschland entstanden in dieser Zeit die meisten Produkte ausgelassener erotischer Laune in München. Wilhelm von Kaulbach und Heinrich Lossow waren hier die angesehenen Fabrikanten dieser Ware. Kaulbachs Tätigkeit als Fabrikant erotischer Bilder ist schon im zweiten Bande der »Karikatur der europäischen Völker« (vgl. dort S. 214) gewürdigt worden. Es genügt somit, hier auf seine erotischen Hauptwerke hinzuweisen. Als solche können gelten »Die Erzeugung des Dampfes« (Bild 90), ein Karton zu einem projektierten Wandgemälde für eine Industriehalle, und »Wer kauft Liebesgötter?« (Bild 327), ein erotischer Scherz, den er einem Kollegen und Freunde widmete. Gegen »Die Erzeugung des Dampfes« sind nur künstlerische Einwände zu erheben; würde Kaulbach das zeugende Prinzip der Kraft stets in dieser Weise aufgefaßt haben, so wäre moralisch kein Wort der Verdammnis wider ihn zu sagen. »Wer kauft Liebesgötter?« ist die verbreitetste, populärste und man kann auch sagen, berühmteste deutsche erotische Karikatur. Dieser Ruhm ist durchaus unverdient. Gewiß ist die Idee amüsant, aber sie war nichts weniger als neu. Wie Kaulbach in seinem Reineke Fuchs nur den ihn um viele Haupteslängen überragenden Franzosen Grandville verwässert abgeschrieben hat, so hat er auch in dem Blatte »Wer kauft Liebesgötter?« nur ein bereits in der Antike in ähnlich erotischer Weise variiertes Motiv aufgegriffen. Auch von den französischen Erotikern der dreißiger Jahre ist dasselbe Motiv mehrere Male ungleich künstlerischer behandelt worden. Was Kaulbachs einziger Fortschritt war, ist, daß er ein größeres Format gewählt hat. Aber dessenungeachtet haben Kaulbachs »Liebesgötter« ihr Ansehen bewahrt. Sie sind heute noch im Handel, ja mehr noch als das, es sind davon sogar noch neuerdings einige Nachstiche erschienen. Kaulbach war übrigens in seiner Zeit nicht der einzige deutsche Künstler, der das Motiv »Wer kauft Liebesgötter?« erotisch variierte. Sein Münchener Kollege Genelli hat es ebenfalls in einem peinlich ausgeführten Aquarell getan. Genelli hält sich mehr an das antike Vorbild, ist wesentlich dezenter und nicht so boshaft geistreich wie Kaulbauch, aber vielleicht um ebensoviel künstlerischer. In den Handel kam Genellis Aquarell unseres Wissens nur als kleine Photographie. Unsere Reproduktion ist direkt nach dem farbigen Original angefertigt worden (s. Beilage).
Lossow war vielleicht noch mehr wie Kaulbach ausgesprochener Nuditätenmaler. Aber er war nicht verlogen wie Kaulbach; er wollte gar nicht der teutschen Treue, Zucht und Sitte ein Hohelied singen, wie Kaulbach vorlog; er wollte offen der lieben süßen Frau dienen und von ihrer lockenden Schönheit schwelgerisch erzählen. Das macht ihn von vornherein ungleich sympathischer. Gemalte Nuditäten sind die meisten Bilder Lossows gewesen, die er für die Öffentlichkeit machte, da ist es denn ganz natürlich, daß er, wenn er im Nebenamts für Freunde und »Feinschmecker« arbeitete, auch erotische Bilder anfertigte. Die größte Popularität genießen seine Illustrationen zum »Wirtshaus an der Lahn«, die er einmal für eine Künstlerkneipe gemacht hat; durch unberufene lithographische Nachbildung kam die Serie in die Öffentlichkeit und in den geheimen Cochonnerienhandel. So ausgelassen die sämtlichen Bilder sind, aus denen dieser Zyklus sich zusammensetzt, so illustrieren sie vielleicht gerade dadurch recht deutlich die künstlerischen Mängel ihres Schöpfers; freilich noch mehr die Kunstlosigkeit des ganzen Zeitalters, aus dem sie hervorgegangen sind.
In den Kreis von Lossow und Kaulbach gehört als dritter im Bund auch Gedon, der vielbeschäftigte Baumeister und künstlerische Beirat Ludwigs II. Wie sehr Gedon es verstand, einen kühnen grotesken erotischen Witz zu machen, beweist das stolze Tonstandbild, das man »Der Herr der Welt« oder »Der Weltenhahn« nennen kann. Auf einer Marmorhalbkugel bäumt er sich in imponierender Gebärde empor und triumphiert stolz über das Weib. Diese im Original etwa vierzig Zentimeter hohe Gruppe ist zweifellos die künstlerisch beste erotische Schöpfung jener Epoche (Bild 334 und 335).
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Alle diese Erzeugnisse sind sittengeschichtlich von nicht zu unterschätzendem dokumentarischem Werte; für die allgemeine Geschichte scheinen uns dagegen die erotischen Karikaturen, die teils aus der Skandalsucht hervorgingen, teils der politischen Propaganda dienten, wichtiger.
Die erotische Karikatur war früher, wie schon an anderer Stelle betont wurde, gleichwie das erotische Spottgedicht nicht allzu selten ein Hilfsmittel persönlicher Rache; heute dürfte das wohl kaum mehr vorkommen, das soziale Gewissen ist zu sehr geschärft, um solchen Mitteln Kurswert zu gestatten. Aber dieser Fortschritt ist erst neueren Datums, in der Geschichte des zweiten französischen Kaiserreiches gibt es mehrere Privatskandale, bei denen von der einen oder auch von beiden Seiten mit erotischen Karikaturen zur gegenseitigen Verlästerung reichlich operiert wurde. Der berühmteste und für alle Zeiten interessanteste Fall in dieser Richtung ist der Streit zwischen George Sand und Alfred de Musset. Im Blute der genialen George Sand sprühte noch einmal in mächtigen Feuergarben die sinnliche Glut der stolzen Stammutter auf, die keine Geringere als Frau von Sevigné war. Diese Glut hat George Sand zu ihren kühnen und starken literarischen Taten die Kraft verliehen, sie hat aber auch aus ihr selbst ein begehrendes und erotisch überaus starke Ansprüche stellendes Weib gemacht. Diesen Ansprüchen soll nun ihr Geliebter Alfred de Musset, wie die Fama meldet, nur sehr schwach zu genügen vermocht haben, und gerade dieser Umstand soll auch im letzten Grunde die Hauptursache der gegenseitigen Streite und der endlichen Trennung der beiden gewesen sein. Jedenfalls kursierte dies als Gerücht. Weiter kursierte das Gerücht, daß George Sand sich in dieser Weise über ihren ehemaligen Geliebten lustig mache. Musset soll sich nun dafür gerächt haben, indem er im Kreise seiner Freunde Photographien von erotischen Karikaturen auf George Sand verbreitete. Das Ziel dieser Karikaturen soll gewesen sein: George Sands – oder Madame Dudeffants, wie sie eigentlich hieß – wüsten Dirnencharakter darzutun. Über diese erotischen Karikaturen auf George Sand findet sich in dem berüchtigten erotischen Roman »Memoiren einer Sängerin«, der beharrlich Sophie Schröder zugeschrieben wird (zweifellos mit ebensowenig Berechtigung, wie man die talentlose Schmutzerei »Gamiani« Musset zuschreibt), eine erklärende Notiz. Es heißt dort:
»Sie – eine Freundin der Memoirenschreiberin – zeigte mir eine Menge Photographien, die sie erst kürzlich aus Paris erhalten. Es waren nur erotische Szenen, nackte Weiber und Männer, die interessantesten darunter waren diejenigen, die Alfred de Musset über Madame Dudeffant unter seinen Freunden zirkulieren ließ. Es waren sechs Stück Obszönitäten, meistens mit anderen Frauen und unmündigen Mädchen, die die berühmte Schriftstellerin in die Geheimnisse des paphischen Dienstes eingeweiht; auf einem dieser Bilder begeht sie auch Anzucht mit einem riesigen Gorilla, auf einem anderen mit einem Neufundländerhund, auf einem dritten mit einem Hengste den zwei nackte Mädchen an der Leine halten, sie selbst ist kniend abgebildet.«
Dieses Zitat wäre jedenfalls eine sehr trübe Quelle, und es würde sich nicht rechtfertigen, darauf allein gestützt, von diesen angeblich erschienenen erotischen Karikaturen der George Sand Notiz zu nehmen, wenn wir nicht diese Blätter selbst zu Gesicht bekommen hätten. Das ist mehrfach der Fall gewesen. In drei verschiedenen Sammlungen fanden wir Stücke, die sich mit einigen der hier beschriebenen decken, und wenn es auch stets nur kleine Photographien waren, so ließ sich doch mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß es erotische Karikaturen auf George Sand waren. Die Existenz dieser Karikaturen scheint also Tatsache zu sein; bewiesen ist dadurch natürlich immer noch nicht, daß Musset der Inspirator war, und daß George Sand in der angegebenen Weise bei ihren Freunden über den ehemaligen Geliebten gespottet hat.
Von der reinen Skandalsucht ist zweifelsohne auch ein großer Teil der erotischen Karikaturen eingegeben worden, die auf Napoleon III. und die Kaiserin Eugenie gemacht wurden; wenn diese Blätter auch in den meisten Fällen im Gewand oder im Charakter des politischen Kampfblattes erschienen sind. Aber es ist ebenso offenkundig und historisch feststehend, daß begründete Anreize genug vorhanden waren, selbst wenn die intimen Beziehungen zu den beiden größten fürstlichen Wüstlingsnaturen des 19. Jahrhunderts, zu König Viktor Emanuel von Italien und zu der später depossedierten Königin Isabella von Spanien, vom französischen Kaiserhofe nicht so ostentativ zur Schau getragen worden wären.
Das objektiv geschaute Geschichtsbild hat ja längst ergeben, daß, wie wir bereits im zweiten Bande der »Karikatur der europäischen Völker« gesagt haben, Napoleon III. gewiß nicht jener Ausbund von Verworfenheit und Ausschweifungen gewesen ist, den seine Zeitgenossen aus ihm gemacht haben. Aber immerhin hat er ein redlich Teil dazu beigetragen, daß diese Anschauung entstand und sich festigte. Daß er mit der allgemeinen Unmoral, und darum auch mit dem Kokottenregiment verschwägert war, das erhellt schon daraus, daß er, wie die ihm ergebene Prinzessin Mathilde mitteilte, mehreremals gleich drei Maitressen auf einmal unterhielt. And wie wenig er sich darum kümmerte, daß seine Debaucherien dem Hofklatsch geheim blieben, das bestätigt ebenfalls seine Freundin, die Prinzessin Mathilde. Aber ein Verhältnis, das Napoleon III. mit der schönen Gräfin Walewska hatte, sagte sie zu einem Vertrauten:
» Je sais que l'Empereur est très imprudent, qu'il ne se gène guère et que l'année dernière à Compiègne comme nous étions tous en chemin de fer dans le wagon impérial divisé en deux compartiments, Madame Hamelin et moi avons été témoins des entrainements amoureux de Sa Majesté pour Marianne Walewska.
Madame Hamelin et moi étions assises contre la porte battante qui sépare les deux compartiments. L'Empereur était seul d'un côté avec Marianne; l'Impératrice, Walewski, tout le monde enfin se trouvait dans l'autre compartiment. La porte battait par le mouvement mime du wagon et nous a permis de voir mon très cher cousin à cheval sur les genoux de Marianne, l'embrassant sur la bouche, et plongeant une main dans son sein.«
Alles das mag ja in den Augen von modernen Wüstlingsnaturen eine Bagatelle sein, aber die Ansichten von Lebemännern bilden auch keine Wertmaßstäbe. Ähnliche Gerüchte kursierten auch sehr bald über die Kaiserin. Zynisch wurde kolportiert, daß der Kaiser nur Wiedervergeltung übe, und daß er sehr viel nachzuholen habe. Und man nannte sogar alle seine angeblichen Vorgänger deutlich bei Namen.
In der schwülen Atmosphäre, die schon in der Mitte der fünfziger Jahre alles umnebelte und die feste Überzeugung in die Gehirne aller Skeptischen pflanzte, daß man ständig auf einem Vulkan tanze und daß die ganze Herrlichkeit über kurz oder lang in die Luft fliege, – in dieser Stimmung war es innere Notwendigkeit, daß der ohnmächtige Haß alles dies aufstapelte und es in potenzierter Form zum verleumderischen Pamphlet verarbeitete, damit der letzte Fetzen von Ehrfurcht an der im geheimen immerwährend züngelnden Glut verglimme.
Die ersten Pamphlete auf die kaiserliche Familie erschienen schon sehr früh, sozusagen schon am Tage nach dem Siege des Bonapartismus. Und es verging während der ganzen Negierung Napoleons III. kein Jahr, in dem nicht ein oder auch mehrere neue erschienen sind. Die wichtigsten sind: » Les nuits et le mariage de César par L. Stelli«, » Les femmes galantes des Napoléons«, » Les nuits de St-Cloud«, » La femme de César, biographie d'Eugénie Kirkpatrick Theba de Montijo«, » L'histoire du nouveau César«, » Prostitutions et debauches de la famille Bonaparte«, » Les amours de l'Imperatrice Eugénie«, » Madame César«. Die Mehrzahl dieser Pamphlete ist satirisch. Am Titel erkennt man, daß auch die Mehrzahl erotisch ist, und daß sie sich ebenso mitleidslos gegen die Kaiserin richteten:
» Eugénie la Rousse, comtesse de Breda, y Carolas, y Bastringo, y Cravacho, y Mabillo, y Badingo; ou bien encore: Lola Montès deuxième«
nannte man sie in einem dieser Pamphlete. In einem anderen nannte man sie:
» Sa Majesté l'Impératrice Eugénie, de Montijo-Theba, d'Alcanirez, de Narvaez, d'Aguado, d'Ossuna, de Camérata, Kirkpatrick, Porto-Carrero, marquise du Veau qui tette, duchesse d'Albe et comtesse de Rothschild, actuellement épouse de Sa Majesté Verhuél-Beauharnais, dit Louis Napoléon Bonaparte, Badinguet Ier et Soulouque II., sauveur et providence No. 2 de par le parjure, la trahison et le guetapens nocturne du Deux Décembre, empereur des Français.«
Nicht nur die republikanischen Feinde haben den Bonapartismus in dieser Weise bekämpft, sondern auch die Anhänger des Legitimitätsprinzips. Verschiedene dieser Pamphlete waren, wie im 18. Jahrhundert, natürlich auch mit satirischen Illustrationen geschmückt, um das Interesse an ihnen noch reger zu machen, und ihre Wirkung soviel als möglich zu vergrößern. Zu anderen wurden nachträglich gezeichnete satirische Kommentare in den Handel gebracht. Eine erotische satirische Illustration eines dieser Pamphlete auf Napoleon III. zeigt z. B. Bild 323. Von der Kaiserin Eugenie erschien eine ähnliche Porträtkarikatur, nur war ihr Porträt nicht aus weiblichen Figuren, sondern aus männlichen Gestalten und aus phallischen Symbolen zusammengesetzt. Zu den zeichnerischen Kommentaren, die man im Anschluß an die von Land zu Land wandernden Pamphlete entwarf, wählte man natürlich die saftigsten Stellen aus. Es gibt »kaiserliche Bordellszenen«, »erotische Soireen in den Tuilerien«, »geheime Orgien«, und selbst lesbische Karikaturen auf ein angebliches Verhältnis zwischen der Kaiserin Eugenie und der Gräfin Contades. Bald mag weder von Napoleon noch von seiner Gattin eine erotische Anekdote im Kurs gewesen sein, die nicht auch zeichnerisch glossiert worden wäre. Die Wahrheit wurde natürlich nie nachgeprüft. In solchen Zeiten ist eben noch immer jedes Mittel dem Angreifer recht gewesen. Wenn ihm das Wort zu ernsthafter Kritik verwehrt ist oder die Mittel versagt bleiben, Schäden abzustellen, steigt der Kampf immer zur Siedehitze der skrupellosen Verleumdung empor. Man rächt sich mitleidslos an dem Träger der Gewalt. Unter diesem Gesichtspunkte sind auch die selbständigen erotischen Karikaturen auf Napoleon, Eugenie und den Los zu betrachten und zu beurteilen.
Es ist hier zu wiederholen, was oben gesagt ist: Der kaiserliche Los hat das redlichste Teil selbst dazu beigetragen, seine sittliche Bewertung so tief als nur denkbar in aller Welt herabzudrücken. Man denke eben nur an die intime Liierung mit den Namen: Viktor Emanuel und Isabella. Es gibt nicht viel fürstliche Namen aus der Sittengeschichte jener Epoche, die einen noch größeren moralischen Ekel auslösen, und mit Recht auch bei den Zeitgenossen ausgelöst haben. Die Opposition müßte schwachsinnig gewesen sein, hätte sie diese für sie so günstige Angriffsbasis nicht betreten. Sie hat dies selbstverständlich nicht nur keinen Tag versäumt, sondern unausgesetzt raffiniert ausgenützt.
Wie die intimen Beziehungen des französischen Kaiserhauses zu dem Wollüstling Viktor Emanuel und zu der Messalinennatur Isabella von Spanien auf der ganzen Welt das moralische Prestige des französischen Kaiserhofes degradierten, so gaben sie Paris unausgesetzt Stoff zu den verwegensten Zynismen. Wenn man Viktor Emanuel und Isabella karikierte, so brachte man auf den betreffenden Bildern meistens auch Napoleon und Eugenie an. Man illustrierte z. B. geschäftig den Liebeskalender Viktor Emanuels. Es figurierten darin alle Hofdamen, ob alt, ob jung, ob schön, ob häßlich, ob galant, ob prüde, es figurierten darin weiter Fürstinnen und stramme ungewaschene Bauerndirnen, Demimondainen und Aktricen, – jede nur eine Nummer einer langen Liste. Nach Viktor Emanuels Besuch in Paris nahm die boshafte Verleumdung keinen Anstand, eiligst auch Eugenie und ihre berühmten Hofdamen in diesen Liebeskalender einzuschreiben – und jede war auch nur eine weitere Nummer. Von der männertollen Isabella höhnte der Spott, daß ihr selbst der unbequeme Thronsessel mehr als einmal zum Liebesaltar gedient habe. Die Karikatur zeichnete dies eilfertig nach. Sie hielt es natürlich für ebenso wichtig, auch zu zeigen »mit wem?« Und so lebt es im satirischen Bilde, daß »auch Napoleon und Viktor Emanuel einmal auf dem spanischen Throne regiert haben«. Die verschiedenen Hauptstädte tauschten ihre Produkte häufig miteinander aus. Was in Madrid dem zynischen Spotte gelang, das kopierte man eiligst in Paris und umgekehrt. In Paris konnte man z. B. aus dutzend Länden die photographischen Nachbildungen des Ausfluges ins Sittliche beziehen, den Isabella nach den Kordilleren auf dem Rücken eines Maultieres und im Schoße eines stämmigen Maultiertreibers gemacht haben soll und ebenso die spanischen Darstellungen der Orgien, die Isabella in üppiger Nacktheit im Thronsaale des Eskurial abhielt. Hier stritt gewöhnlich Viktor Emanuel mit Isabellas bevorzugtem Liebhaber um die Palme der Manneskraft. Bei einer solchen Gelegenheit soll es übrigens gewesen sein, höhnte der Witz, daß Isabella die goldene Tugendrose sich verdiente, die ihr Pio nono, der staunende Zuschauer dieser heißen Kämpfe, bald darauf überreichte. Die spanische Satire illustrierte diese Gelegenheit in mehreren Variationen, und in Paris verstand man den Sinn ebenfalls, wenn auch die spanische Unterschrift » Real Taller de Construccion de Principes – Se Adamiten operários« nicht erst ins Französische übertragen wurde. In zahllosen kleinen Photographien wanderten solche und ähnliche Stücke in Paris ununterbrochen von Hand zu Hand; man wußte eben: indem man Viktor Emanuel und Isabella als sittenlose Ungeheuer darstellte, traf man damit auch den eigenen Feind, den Bonapartismus.
Das Jahr 1870, das endlich dem aufgespeicherten Haß freie, ungehinderte Bahn machte, brachte in Dutzenden von erotischen Karikaturen den Höhepunkt und den Aktschluß dieses einzigartigen Kampfes. Noch einmal ließ man alle die angeblich begangenen Sünden im Spiegel der Karikatur passieren. Was aber früher insgeheim und als kleine Photographie erschienen war, das wiederholte man jetzt öffentlich und in größeren Formaten. Zum Alten kam natürlich mindestens ebensoviel Neues. Man war in dieser turbulenten Zeit unerschöpflich und ebenso unermüdlich in den Angriffen. Die Rache, die man am Bonapartismus nahm, war geradezu furchtbar, im Schmutz sollte er ersticken. Am nur einen andeutungsweisen Begriff zu geben, seien aus dem umfangreichen Konvolut eines Sammlers von Kriegskarikaturen aus dem Jahre 1870 die folgenden Stücke hervorgehoben: » Le Bain« nennt sich ein Blatt, das Napoleon, Olivier und einen dritten Kumpan zeigt, wie sie einige nackten Schönen beim Baden überraschen und lüsterne Angriffe unternehmen. » Divertissement de ces Messieurs« zeigt Napoleon und einen seiner Freunde im Begriff, mit drei nackten Damen der Hofgesellschaft eine Orgie zu inszenieren. Die Blätter » Faust et Marguerite (Belanger)« und » Badinguet lie connaissance avec Marguerite Belanger« zeigen zwei ungeheuerliche Liebesszenen zwischen Napoleon und seiner letzten Maitresse Marguerite Belanger. Die Angriffe gegen die Kaiserin sind meistens noch unflätiger. » Qu'elle est jolie!« ist ein Blatt betitelt, das die Kaiserin vorführt, wie sie sich Olivier (ihrem angeblichen Hauptliebhaber) und einem General völlig nackt zur Schau stellt und von beiden unzüchtig betasten läßt. Auf einem zweiten Blatt » Madame Badingue use d'une ingenieux strategème pour attiver Olivier, vers son époux« ruht die Kaiserin in einer provokatorischen Pose nackt auf einer Chaiselongue. Der sich nähernde Olivier ist im Begriff, die günstige Situation auszunutzen. Ein drittes Blatt » Le Pape accordant la Rose d'or à Eugénie; l'Imperatrice lui offre la sienne« zeigt die Kaiserin und Pius IX., beide nackt, bei einer Liebesszene. Auch Lulu fehlt im Rahmen dieser Bilder einer zügellosen Ausschweifung nicht. Natürlich soll weniger er als seine Eltern dadurch verhöhnt werden. Er erhält eine würdige Erziehung, Kokotten leiten sie, sie sitzen an seinem Lager und weihen ihn in handgreiflicher Weise in die Freuden der Liebe ein. Unter dem Titel » L'Education d'un prince« ist dies in verschiedenen Variationen dargestellt. Die Blätter, die wir hier in dieser Richtung vorführen, – das muß ausdrücklich hervorgehoben werden –, sind nur die zahmsten Darstellungen der eben geschilderten Motive (Bild. 330, 331, 333). Das gleiche gilt von der Karikatur auf die Exkönigin Isabella, Bild 329, deren man jetzt auch nicht vergaß. Das »Wo«, in dem die lieben Jesuiten gern gewährte Zuflucht finden, ist auf mehreren Blättern noch wesentlich hanebüchener dargestellt. Diese sämtlichen Blätter sind im Original als foliogroße farbige Lithographien erschienen. Und wie dem Herrn, so dankte man natürlich jetzt auch dem Diener, der Kirche, die immer eifrig die Dienste des Bonapartismus getan hatte. In Dutzenden von nicht minder zynischen Blättern ist das ausschweifende Leben der Mönche, Nonnen und hohen und niederen Würdenträger der Kirche handgreiflich dargestellt worden.
An dieser Stelle ist auch der deutschen erotischen Karikatur auf Napoleon III. und Eugenie zu gedenken. Denn auch deren sind eine ganze Reihe erschienen; von dem Beginn der fünfziger Jahre an bis zum Schlusse der Tragödie. Am zynischsten verfuhr man auch hier, wie in Frankreich, gegenüber der Kaiserin (Bild 328) …
Was wir hier geben, ist nur ein sehr kleiner Ausschnitt aus einem sehr umfangreichen und sehr wichtigen Abschnitte der erotischen Karikatur wider den französischen Kaiserhof. Dokumente des grenzenlosen Hasses sind alle diese Stücke. Ob auch nur ein Schimmer der Wahrheit hinter dem kolportierten Gerücht steckt, wurde, wie schon oben erwähnt, keinen Augenblick geprüft. Die unwahrscheinlichste Kombination und die ungeheuerlichste Verleumdung wurde kurzerhand zur dokumentarischen Wahrheit erhoben, wenn sie geeignet waren, der Verächtlichmachung Dienste zu tun. Die ganze Tiefe der Zerklüftung des französischen Volkes tut sich darum hier auf. Und gerade das macht den besonderen Wert dieser Stücke aus, hebt sie weit über das Persönliche empor und macht sie zum grellsten Spiegel des Bonapartismus.
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Die Zeit nach 1870 unterscheidet sich in ihrem Wesen nicht von der der Jahre 1850 bis 1870, denn die ökonomische Basis der Gesellschaft ist ganz dieselbe geblieben. Nur daß jetzt alle Länder Europas, Rußland mit eingeschlossen, der Reihe nach in dieselbe Entwicklungslinie, – durch die Großindustrie zum Großkapitalismus – eingeschwenkt sind. Aus diesem Grund ist auch das Paris der dritten Republik um kein Haar sittlicher als das Paris des zweiten Kaiserreiches. And die Unsittlichkeit des modernen Paris kontrastiert wiederum nicht gar zu arg von der Berlins oder einer anderen modernen Großstadt. Um nur eines zu sagen: Unter der dritten Republik erschienen noch viel mehr pornographische Romane wie unter dem zweiten Kaiserreich, und wenn man die folgenden modernen Romantitel anführt: » Le Roman de mon alcove«, » Odyssée d'un pantalon«, » Jupes troussées« und » La Comtesse de Lesbos«, so nennt man nur die typischen Proben sehr umfangreicher Kategorien. Ferner wurde das, was einst unter dem Kaiserreiche noch als höchst pikant galt, sowohl unter der dritten Republik wie bald auch im neuen Deutschen Reich als äußerst harmlos angesehen.
Trotzdem vollzog sich in den letzten Jahrzehnten überall eine bemerkenswerte Umwälzung: die rohe Urform modifizierte sich fortschreitend. Das erotische Gebaren wurde schrittweis zahmer und weniger anstößig in seiner äußeren Gestalt. Das Gesetz der öffentlichen Sittlichkeit: »nach außen streng« setzte sich siegreich durch und wurde immer strikter auf der ganzen Linie durchgeführt. Das sichtbare Resultat davon ist, daß der »Wohlanstand« den Massen heute schon so sehr in Fleisch und Blut übergegangen ist, daß als natürlich, gesund und sittlich angesehen wird, was in Wirklichkeit schwächlich ist und ein unleugbares Merkmal einer verbildeten und verlogenen Moral.
Nach innen hat sich eine ebenso starke Gradsteigerung in der Richtung des Raffinierteren und somit auch der Perversität vollzogen. Mit dein Reifwerden wurde alles vielgestaltiger, und nicht erst in der Erfüllung selbst, sondern in der raffiniertesten Ausgestaltung und Variation des Weges zum Glück werden schon die Freuden, die die Erfüllung bringen soll, tausendmal genossen. Die Menschheit nähert sich damit den Gipfeln jener Kultur, deren Wurzeln sich einst mit der Renaissance in die Geschichte der europäischen Menschheit gesenkt haben …
Aber wenn diese Gradsteigerung in vielen ihrer Spitzen auch zu einem dermaßen raffinierten Genießen führte, demgegenüber alles matt und glanzlos erscheint, was ehedem das Höchstmaß an Schamlosigkeit darstellte, so hat doch die Gegenwart das mehr als ausgleichende Element entwickelt. Und das ist: Die nicht mehr nur von einzelnen, sondern von der großen Masse getragene und täglich, nein stündlich geförderte selbsterzieherische Reaktion. Die Masse des Volkes hat Aufgaben, politische Aufgaben. Die große und wichtige Zeiterkenntnis, daß die Ziele der Menschheit in einer erreichbaren Zukunft liegen, daß der Menschheit noch eine große, eine früchtereife Zukunft bevorsteht, und daß ihr diese Zukunft unbedingt werden muß, diese stolze Überzeugung ist in der Masse des Volkes in die Blüte gegangen. Ein politisch Lied, aber kein garstig Lied. Denn eben gerade darum ringt sich die Masse bewußt vom Garstigen, aus dem Schlamm niederer sinnlicher Gemeinheit los. Sie findet jeden Tag weniger Zeit und weniger Muße, darin ihren Daseinszweck erfüllt zu sehen.
Eine ähnlich sicher fundierte sittliche Reaktion in der Masse kannte keine frühere Epoche, denn niemals war sich das Volk über das Wesen und den inneren Zusammenhang der Dinge so klar wie heute. Was einst nur die Hoffnung und der Traum der Fortgeschrittensten und der Edelsten war, das ist heute die Gewißheit der Masse. Das ist das Unterscheidende und das Entscheidende, und das weht als siegreiche Fahne über der Vergangenheit. »Die Sterbeglocken schweigen« – die Sterbeglocken, an denen der Pessimismus die Stränge zog.
Es ist dies aber auch der Punkt, den die Moralsalberei geflissentlich übersieht. Und in den Fällen, in denen sie es nicht übersieht, stempelt sie seinen satirisch-zynischen Spiegel zum größeren Verbrechen als die gegeißelte unsittliche Tat. Aber das ist die alte geschichtliche Logik der Dinge. Sie tut das deshalb, weil sie selbst im letzten Grunde der allergrößten Unsittlichkeit, die es gibt, sich vor den Wagen gespannt hat, der Reaktion, die die gesamte Menschheitskultur zum Mittelalter zurückleiten will. Daß solchem Tun auch Hunderte der ehrlichsten Leute ihre Stimme leihen, widerlegt nichts, es beweist nur, daß alle Ehrlichkeit nicht ausreicht, die Dinge in ihrer historischen und ökonomischen Wurzel zu begreifen.
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Mit dem Raffinierterwerden unserer Kultur ist aber neben der eben hervorgehobenen Reaktion in der Masse noch ein anderes Gutes Hand in Hand gegangen. Die großen Erfolge der Wissenschaft in unserer an neuen Erkenntnissen so reichen Zeit sind auch an dem Gebiete der künstlerischen Behandlung der Erotik nicht spurlos vorübergegangen, sondern haben zu den wertvollsten Errungenschaften geführt. Man kann sogar ohne Übertreibung sagen: Die neuzeitlichen Errungenschaften auf diesem Gebiete sind derart bedeutsam, daß man direkt von einer epochalen Umwälzung reden kann, wie sie bis dahin noch niemals stattgefunden hatte.
In des Rätsels Heiligkeit ist man tiefer eingedrungen; man ist einsichtiger und nachdenklicher geworden: Man hat aufgehört, sich bloß mit den äußeren Formen, sozusagen den mechanischen Bewegungen der rein animalischen Erotik zu beschäftigen.
Was von der erotischen Dichtung – von wenigen Ausnahmen abgesehen, – bis weit in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts herein galt, das galt in noch viel stärkerem Maß und noch viel länger vom erotischen Bilde. Man hat im erotischen Motiv meistens einen Gegenstand des Amüsements, des heiteren Scherzes und des anmutigen Getändels gesehen, im besten Falle hat man in eruptiven, schöpferischen Epochen der Geschichte neben dem Genuß die grandioseste Form der Naturgewalt darin geoffenbart gefunden und verkörpert. Dies gilt z. B. von den Werken der Renaissancekünstler. Von einer tiefgründigeren Analyse des Wesens der Liebe, von einer Entschleierung ihrer tieferen Geheimnisse, von einer Erkenntnis der inneren Zusammenhänge mit der Natur und der Bestimmung des Menschen, von einem Erfassen der unabwendbaren Konsequenzen – von alledem sucht man im früheren erotischen Bilde vergeblich eine Spur. Nur sehr selten begegnen wir einer tieferen Philosophie über die Probleme der Liebe, niemals der Tragik oder dem Fluch, der an sie gekettet ist. Geschweige denn, daß man einer bewußten sozialen Auffassung und Behandlung der Sache begegnet. Indem man immer das rein persönliche Erlebnis in der Erotik erblickte, übersah man fast völlig ihre sozialen Gefahren, die furchtbaren Wunden, die Eros nicht nur zu schlagen vermag, sondern mit unerbittlicher, im Wesen unserer wirtschaftlichen Verhältnisse bedingter Notwendigkeit Hunderttausenden jahraus jahrein schlägt. Wo man wirklich früher von den Blessuren des Eros Notiz nahm, geschah es aus demselben Geiste heraus, der in der Erotik ein rein persönliches Genießen und Vergnügen erblickte, z. B. in der Weise, daß man daraus auch nur ein fatales Einzelschicksal machte, über das man in den meisten Fällen dann auch noch schadenfroh lachte.
Das änderte sich jetzt gründlich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Gewiß ist die roh animalische Auffassung damit nicht verschwunden; sie wird zu einem Teil auch immer der Behandlung anhaften müssen, weil alles Psychische, wie wir im ersten Teil entwickelt haben, doch nur Ausstrahlung des rein Physischen ist. Eine andere oder eine davon losgelöste Erotik gibt es nicht. Auch solche Schilderer sind geblieben, die in ihr nur das Amüsement, nur eitel Scherz und Spiel, den ewig heiteren blauen Himmel immerwährender und ungetrübter Freude sehen. Aber wir haben in den letzten drei Jahrzehnten in allen Ländern nun doch auch die scharfsinnigen und mitleidslosen Sezierer und Analytiker unserer erotischen Empfindungen bekommen. Die Philosophen der Erotik, die Historiker, die nicht an der Technik haften bleiben, sondern ihre Gesetze nachschreiben, ihre Lustspiele und ihre Tragödien im Weltbilde konstruieren und demonstrieren. Man denke in der Literatur nur an Männer wie Strindberg, Wilde, Wedekind; in der zeichnenden Kunst an Toulouse-Lautrec, Forain, Beardsley, Heine. Und diese, die in diesem Sinn und Geist arbeiten, bilden heute die große Mehrheit. –
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Für den Satiriker gibt es bei der Behandlung erotischer Motive nur eine Form, die des Zynismus.
Die Massenreaktion gegen die täglich neu sich gebärende Unmoral in Familie, Staat und Gesellschaft hat in allen Ländern zur öffentlichen Anerkennung des Rechtes auf Zynismus, dessen einschneidendste Waffe heute unbedingt die Karikatur geworden ist, geführt. Nur die Weite der Grenzen, die man dem Recht auf Zynismus zubilligt, ist in jedem Lande verschieden.
Ist der Zynismus aber auch moralisch als berechtigt anerkannt worden, so ist natürlich damit noch lange nicht für Hinz und Kunz ein unbeschränktes Recht auf Zynismus ausgesprochen. Im Gegenteil. An niemand sind so große Ansprüche zu stellen wie an den Zyniker, der mit seinem Zynismus in den öffentlichen Kampf der Geister sich einmengt. Und je größer der Zynismus ist, um so größere Qualitäten muß die Künstlerschaft aufweisen; der Stoff darf keine einzige Linie unterjochen. Der Zyniker muß eine große, weitspannende Weltanschauung haben, und er muß ein ernst zu nehmender Geschichtsphilosoph sein. Und noch eines ist Bedingung: Im letzten Grunde muß der Zyniker in seinem Tun von der höchsten sittlichen Tendenz seine Inspirationen empfangen. Fehlt dem Zyniker diese letzte Eigenschaft, so hat sein Zynismus keine Daseinsberechtigung. Gefährliche Operationen am gesellschaftlichen Organismus, und das stellt der öffentlich geübte Zynismus dar, erfordern neben der sichersten Hand das stärkste Verantwortlichkeitsgefühl dessen, der sie vornimmt.
Die weitesten Grenzen dem Zynismus zu stecken, sind unbedingt in Frankreich erlaubt worden. Der erste, der dies nützte, und der dies Recht auch in einem Umfange nützte, wie bis jetzt kein zweiter nach ihm, ist der Belgier Félicien Rops. Gegen die Künstlerschaft von Rops ist unendlich viel einzuwenden. Der Kultus, der mit Rops getrieben wurde und auch von vielen Seiten heute noch getrieben wird, zwingt dazu, dies stark zu betonen. Seinen Ruhm und die ihm zuteil gewordene Überschätzung hat Rops seiner maßlosen Kühnheit, mit der er das gesamte Lasterrepertoire der Menschheit mit der zynischsten Offenheit nachschrieb, zu danken. Ob der Verblüffung über den Inhalt ging bei den meisten Beschauern die richtige Beurteilung seiner Künstlerschaft in die Brüche. Rops ist in Wahrheit ein höchst mittelmäßiger Zeichner. Ohne Anschauung und darum ohne Plastik. Alles ist blutlos, alles ist bei ihm konstruiert. Keine einzige neue Errungenschaft für die Kunst enthält sein künstlerisches Schaffen. Was er gekonnt, haben andere lange vor ihm viel besser gekonnt. Alles, was er machte, ist gequält. Und was das Peinlichste ist: sein Können unterjochte nicht den Stoff, sondern es wird auf Schritt und Tritt vom Stoff unterjocht. Nicht ein Züchtiger des Pornographischen ist er daher, sondern sehr häufig selbst Pornograph. Das kann nicht deutlich genug gesagt werden. Trotzdem darf man sich bei diesem Punkte der Analyse seiner Werke nicht zu der ja überaus naheliegenden Schlußfolgerung verführen lassen, daß damit vielleicht das letzte Geheimnis seiner einzig dastehenden Popularität aufgedeckt ist, und daß hier wieder einmal die unübertreffliche Wirkung des alten Rezeptes: male die Wollust, doch male den Teufel daneben, sich klassisch erwiesen habe. Diese Schlußfolgerung wäre durchaus falsch. Und sie ließe sich schon überzeugend durch die lange Reihe jener Schriftsteller erweisen, die sich als Propagandisten für Rops betätigt haben. Mag für viele Bewunderer von Rops der pornographische Grundgehalt das Anziehende und Bestechende gewesen sein, ebenso viele haben in seinen Radierungen doch die Erfüllung des Programms gesehen, das Rops erfüllen wollte, oder zu erfüllen vortäuschte.
Schlecht verhüllt tobt im Inneren eines jeden Menschen, ob Mann, ob Weib, ob jung, ob alt, eine ganze Menagerie niederer Instinkte und Begierden, das ist die Lebensanschauung von Rops und somit die Grundnote aller seiner Schöpfungen. Ein buhlerischer Schoß, in dem jeder Mann sich bis zur physischen, moralischen und geistigen Erschöpfung verzehrt und aus dem alles Gemeine wie ein ekler Strom täglich neu hervorbricht – das ist das Weib; viehische Unersättlichkeit, die das niederträchtige Wort geprägt hat, »solange man noch eine Zunge hat, ist man nicht impotent« –, das ist der Mann. Rops hat den Begriff Mann und Weib auf die Instrumente der Wollust reduziert. Wohlgemerkt nicht auf die Umarmung von Mann und Weib. Die Umarmung ist nur eine einzige Variation der vielen Hunderte, die auf diesen Instrumenten zu spielen sind.
Als Titelblatt des ganzen Werkes von Rops könnte das Blatt gelten: » Satan jetant à la terre la pâture qu'elle attend«. Satanas schwebt mit weit ausgebreiten Fittichen über die in Nacht gehüllte Erde und streut seinen Samen gleich einem schweren Regen über die Erde aus (Bild 340). Wo dieser Teufelssamen hinfällt, sprießt das Laster empor. Und von den tausend Formen, die es annimmt, illustrierte Rops ein jedes, das ihm bekannt geworden ist, ohne jede Scheu, ohne jede Zurückhaltung, in vollendetster Deutlichkeit. Er ist ungeheuerlich selbst im Zahmsten. Zahm ist z. B. bei Rops ein Bild wie » Nubilite«. Eine bis auf die eleganten Strümpfe ausgekleidete junge Dame hält in beiden Händen ihre in jugendlicher Fülle strotzenden Brüste und prüft aufmerksam deren Elastizität. Die Gefühle, die die junge Dame durchwogen, während sie mit den Fingern über die zarten Knospen tastet, sagen ihr, daß sie jetzt mannbar ist, reif, um von lüsternen Männerhänden nun ebenso betastet zu werden. »So wird er es machen«, wenn er ihr Korsett aufgenestelt hat (s. eine Variation in »Die Frau in der Karikatur« Bild 225). Von nun ab ist für sie der Mann nur mehr ein phallischer Begriff, so lebt er in ihrer Phantasie und schwebt durch alle ihre Träume. Diese Vorstellung, von der sie sich keinen Augenblick zu trennen vermag, wird schließlich zu ihrem qualvollen Kalvarienberg (Bild 338). Aber die entfesselte Phantasie steigt unaufhaltsam weiter ins Wahnwitzige. Die unbefriedigten Begierden schwelgen in grotesken Vorstellungen, das ist » L'idole« (Bild 336). Solche und ähnliche Bilder steigen in ihrer Phantasie auf, wenn ihr in Gesellschaft in halbverdeckten Worten ein galantes Verlangen nach ihren Reizen zugeflüstert worden ist. Das magere Surrogat der Wirklichkeit wird eines Tages der unbeholfene Groom, dessen Kopf sie in den liebebegehrenden Schoß drückt und den die aufgerafften weißen Spitzenröcke wie weiße Flammen knisternd umzucken. » Un Groom pour tout faire« höhnt Rops und illustriert diese wilde Szene in naturalistischer Treue … Es wäre wirklich ungerecht, würde man kurzweg sagen: in Rops war nur eine höllische Phantasie tätig. Man kehre gefälligst zum Anfang des Kapitels zurück, die Wirklichkeit hat ihm in den Figuren der Gräfin d'Agoult, der Rachel und ähnlicher die Modelle gestellt. Die Moral dieser Gesellschaft und dieser Zeit illustrierte er.
Das Werk von Rops ist sehr umfangreich; es zählt über 1 200 Nummern, zum größten Teile Radierungen. Zu den berühmtesten Folgen und Einzelblättern in der Richtung des kühnsten Zynismus zählen: Les Sataniques, Le Parnasse satirique (Bild 341), Le nouveau Parnasse satirique (Bild 342), Sainte-Thérèse, L'Abesse, La Fleur lascive (s. Beilage), Ma Golonelle, Louis XIV (Bild 344), Coup de soleil, La Centauresse, Un groom pour tout faire, L'Organiste du diable, ou Sainte-Cécile (Bild 337), Satan jetant à la terre la pâture qu'elle attend (Bild 340) und La Vrille du diable. Die Serie Les Sataniques gilt von allen diesen als die geschätzteste, sie umfaßt insgesamt fünf Blätter, wir geben von diesen hier drei (Bild 336, 338 und 339).
Wenn man das Werk von Rops in seiner Gesamtheit überschaut, alle die Kühnheiten sieht, zu denen er sich verstieg, so ist das letzte Gefühl, das man hat, das des Bedauerns. Und zwar darüber, daß es nicht ein Großer im Reiche der Kunst gewesen ist, der in diesen Blättern den Stift geführt hat. Wäre Rops ein monumentales, künstlerisches Können zu eigen gewesen, z. B. die Kraft eines Daumier, und hätte ihn auch dessen sittliche Höhe beseelt, so hätte ihn sein Zynismus vielleicht an die Grenzen des Satirischen geführt. So blieb sein Tun, wie gesagt, höchstens Programm, und er kam im ungeheuerlichen nur bis an die Grenzen des Wollens.
Der Künstler, der dieses Programm erfüllt hätte, hat sich übrigens bis heute noch nirgends gefunden. Wohl aber zahlreiche die wenigstens einen Teil der gestellten Aufgaben mit größter künstlerischer Meisterschaft gelöst haben; es sei nur an Beardsley und Toulouse-Lautrec erinnert.
In Deutschland sind unter den hier in Frage kommenden Künstlern vor allem die folgenden hervorzuheben: Otto Greiner, Alfred Kubin, Willi Geiger, Vrieslander Pascin, Markus Böhmer und in neuester Zeit Marquis Bayros. Bei dem gegenwärtig in Rom lebenden Greiner kommt freilich nur ein Werk in Betracht, der fünf Blätter umfassende und Max Klinger gewidmete Zyklus »Vom Weibe«. Greiner hat gar keine Verwandtschaft mit Rops. Wenn Rops einen Teil seiner zynischsten Blätter auf Seide drucken ließ, um sie dadurch zu wahnsinnig teuren Leckerbissen für die Zahlungsfähigkeit zu machen, so trieb er mit solchem Handel schließlich nichts anderes als pornographische Spekulationsgeschäfte. Greiner ist demgegenüber der kühne, fachliche und ernste Kritiker, den keine verwerflichen Hintergedanken beeinflussen. Zwei Blätter kommen aus dem Zyklus »Vom Weibe« hier in Betracht: »Die Feilbietung« und »Der Mörser«. Hohnlachend stellt der Teufel das Weib zur Schau. Wild kämpft der Mann um das Weib. Unerfahrenheit ringt mit der übersättigten Gier, und beide werden von der brutalen Kraft niedergehauen. Um den Kampf aufs wildeste anzufachen, beleuchtet der Teufel unausgesetzt die schwellenden Reize seiner Lockspeise, alle werden dadurch aufs äußerste aufgestachelt, und alle werden ihm darum auch verfallen – das ist »Die Feilbietung« (Bild 351). Aber die Erotik ist für beide Teile das Verhängnis: für das Weib, wie für den Mann. Ob sie will oder nicht, sie muß hinab in den Abgrund. Keine entgeht dem Schicksal, weder die sich Sträubende noch die Zögernde. An dem Tage, da in der Brust des Weibes der Gedanke und die Sehnsucht nach dem Manne zum ersten Male auftaucht, der Wunsch, Weib zu sein, das süße Liebeswunder zu erleben, – an dem Tag ist auch ihr Urteil gesprochen. Und da dieser Wunsch in der Brust eines jeden normalen Weibes einmal aufkeimt, so gleiten sie alle zwischen den riesigen Händen des unentrinnbaren Verhängnisses hinab in den Abgrund, die Zögernden im bunten Wirbel mit denen, die sich tollkühn hinabstürzen, um schließlich alle ohne Ausnahme von der Männlichkeit zermalmt und zerstoßen zu werden. Das ist »Der Mörser« (s. Beilage).
Alfred Kubin hat sich durch verschiedene Mappen, die im Verlage von Hans von Weber in München, Kubins begeistertem Verleger, erschienen sind, in den letzten Jahren sehr rasch als kühner Phantastiker einen Namen gemacht. Kubins kühnste Zynismen sind jedoch in diesen Mappen nicht enthalten. Diese befinden sich bis jetzt noch unreproduziert im Besitze seines Verlegers. Es sind das: »Abendstern«, »Todessprung«, »Perversität«, »Masturbation«, »Notzucht«, »Sauger«, »Die Kreuzspinne«, »Die Erzeugung des Weibes«, »Geilheit«, »Zu was lebt man den eigentlich?«, »Syphilis« und »Kuß«.
Kubin überragt Rops an Ungeheuerlichkeit noch bedeutend, er ist raffinierter und dekadenter. Bei ihm gibt's keine einzige Linie, keine einzige Note mehr, die versöhnt. »Die Erzeugung des Weibes« zeigt einen riesigen, dämonisch über die Erde schwebenden Teufel, der ebenfalls wie bei Rops seinen Samen über die Erde gießt. Aber damit ist auch die Ähnlichkeit zu Ende. Der Ropssche Teufelssamen läßt unten auf der Erde das Laster emporsprießen. Der Teufelssamen Kubins besteht aus zahllosen Frauengestalten: Der Teufel bringt sie auf diese Weise zur Welt. Nebenbei sei bemerkt, daß dieser Gedanke nicht neu ist, Poitevin hat in ganz derselben Weise schon »Die Erzeugung des Weibes« dargestellt. Aber was Kubin gegenüber Rops voraus hat, das unterscheidet ihn auch von Poitevin: seine Behandlung dieses Motives ist zweifellos ungleich grandioser, diabolischer. Solche Blätter von Kubin sind noch zu ertragen. Blätter wie »Die Syphilis« und »Der Kuß« dagegen bereiten einem beim Beschauen direkte Qualen, ähnlich wie das Lesen der Scheußlichkeiten des Marquis de Sade. Das Blatt »Syphilis« zeigt ein bei lebendigem Leibe verfaulendes Weib. Aus ihrem Schoße rinnt ein Strom von Jauche, und aus ihrem Leibe geht ein Darm empor nach einer Art Telegraphenleitung, auf der er hinläuft wie eine Leitung, die das Übel in alle Welt weiter führt. Auf dem Blatte »Kuß« wühlt sich in einer Totenkammer ein Mann gierig in den Schoß einer weiblichen in einen Sarg gebetteten Leiche ein. Leider entschädigt die künstlerische Bewältigung dieser Probleme nicht hinreichend für die Qualen, die man beim Beschauen auszustehen hat. Es ist sicher eine der letzten Stufen der Dekadenz, die in diesen Blättern Bild geworden ist. Kubin soll übrigens selbst nicht mehr zu diesen Blättern stehen.
Von allgemeiner, weiterwirkender Bedeutung ist von Kubin das hier reproduzierte Blatt »Die Schande«. Das arme Geschöpf, »das Pech gehabt hat«, wie der Zynismus sagt, glaubt, daß alle Welt sie ob ihrer Schande anschaut. Sie meint, alles schaue nur nach ihr, sie sieht nur strafende oder verächtliche Blicke, und sie tat doch nur, was das Recht der armseligsten Kreatur unter der Sonne ist (Bild 382). Das ist eine düstere und sehr treffende Satire aus die erbarmungslose Härte derer, die sich doch nur dadurch unterscheiden, »daß sie kein Pech gehabt haben« …
Vom gleichen Geiste und von ähnlicher Ungeheuerlichkeit wie Kubin ist Willi Geiger in seinem vor kurzem erschienenen, aber der Staatsanwaltschaft zum Opfer gefallenen Mappenwerke: »Das gemeinsame Ziel und anderes«. Auch hier ist die erste Wirkung beim normalen Beschauer förmlich ein physisches Schmerzempfinden. Jedenfalls gilt das unbedingt bei Blättern wie »Der Lustrüssel« und noch mehr bei »Der Leichenschänder«. Man braucht erst eine geraume Zeit, um sich von diesem Empfinden zu erholen, dann aber erkennt man, daß in Geiger ein sehr starkes groteskes Talent am Werk ist. Auch er ist ein ungleich größerer Künstler wie Rops. Aber durch eines steht Rops doch wiederum höher als er: durch seine soziale Auffassung der Dinge. Rops gibt die Krankengeschichte der Menschheit. Geiger illustriert vorwiegend einzelne Perversionen. Phantastische Ausschweifungen eines krankhaft überhitzten Geistes und nicht der Wirklichkeit.
Eine sehr junge, aber darum doch schon erhebliche Popularität als skrupelloser Illustrator des Intimsten aus dem Gebiete der Erotik genießt der Zeichner Bayros. Zu seinem Ruhm ist Bayros durch die Illustration einer Reihe jener erotischen Privatdrucke gelangt, mit denen die deutschen Sammler seit einigen Jahren förmlich überschwemmt werden. Bayros entbehrt nicht einer gewissen Eleganz, aber mit wirklicher, mit starker Kunst haben seine in Raffinement und in Perversität schwelgenden Illustrationen, ob sie nun erotisch-satirischen oder rein erotischen Charakters sind, sehr wenig zu tun. Daß sich seine reinliche Strichtechnik besonders gut für Illustrationszwecke eignet – es ist die einfachste, billigste und wirkungsvollste –, ist neben seiner ausschließlich erotischen Phantasie noch ein besonderer Grund, daß er von den Verlegern jener »Meisterwerke der Weltliteratur«, als die selbst die dümmsten und widerlichsten erotischen Schmarren von ihnen ausposaunt werden, so sehr gesucht ist. Und noch aus einem Grund ist Bayros besonders zur Illustration solcher Werke geeignet: ihm fehlt jede ernste satirische Ader, er ist niemals ein Züchtiger, sondern stets ein Verherrlicher und darum zugleich auch ein Propagandist der Lasterhaftigkeit. –
Das Typische im Krankhaften und Perversen, das oben als wichtigstes Erfordernis der Satire genannt ist, findet man unbedingt im Schaffen des berühmtesten künstlerischen Zynikers der Gegenwart, in dem des Engländers Aubrey Beardsley, von dem so viele unserer lebenden jüngeren Künstlergeneration gelernt haben und noch täglich lernen. In Aubrey Beardsley hat der Zynismus nicht nur einen raffinierten, sondern auch einen seiner künstlerischsten Vertreter gefunden. Wie so häufig, so zeigt auch hier nicht die aufsteigende, sondern im Gegenteil die absteigende Linie die höchste Kunstvollendung. Beardsley ist das klassische Ende der Entwicklungslinie der englischen grotesken Kunst, die mit Hogarth einsetzte, zu Rowlandson anstieg, und die nun in der modernen Perversität ausläuft; das ist auch die Linie der bürgerlichen Entwicklung in England. Beardsley ist nichts als deren künstlerische Krönung. Seine Kunst ist die raffinierteste Blüte einer überfeinerten Kultur. Alles ist an ihm Geschmack. Es gibt keine lauten, anstößigen Töne mehr, dagegen ist alles wunderbar abgestimmte Feinheit. Mit einem Wort: Es ist die ästhetisierende Überreife, oder die Schönheit der Schwindsucht. Diese Schönheit ist unnatürlich, und jeder Strich in Beardsleys zahlreichen Blättern atmet Perversität. Das Wesen dieser Kunst ist glühendste Sinnlichkeit, aber es ist eine Sinnlichkeit des Unvermögens, eine Sinnlichkeit der bloßen Phantasie. Die Phantasie muß ersetzen, was die mangelnde physische Potenz versagt, und sie ersetzt es durch groteske Übertreibung. So entstanden z. B. die zynischen Illustrationen zu Lysistrata. Der Schein soll durch seine Übertreibung für die Wirklichkeit entschädigen. Die kühne Flucht des reifsten künstlerischen Ästheten in das Reich der Phantasie bedeutet aber mehr als eine persönliche Leidensgeschichte des Unvermögens; Beardsley verkörperte unbewußt eine ganze zu Grabe gehende Kultur (Bild 347 und 348, desgleichen vgl. auch oben S. 125).
Mit Beardsley künstlerisch verwandt ist Markus Behmer, das offenbaren deutlich seine Illustrationen, die er seinerzeit für die »Insel« und in jüngster Zeit für »Die Opale« gemacht hat. Nur die letzteren können als direkt erotisch gelten. Als ebenfalls direkt von Beardsley abstammend, ist noch Vriesländer zu erwähnen (Bild 350). Als selbständig können dagegen B. Berneis und Melchior von Lugo gelten (Bild 349 und 383).
Die Werke von Rops, Kubin, Geiger und Beardsley sind für alle Zeiten wichtige sittengeschichtliche Dokumente. Für die Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit, also für die Beurteilung dessen, was die moderne Moralauffassung an künstlerischen Dokumenten auf offenem Markte zuläßt, kommen sie jedoch weniger in Betracht, weil sie sich als technische Kostbarkeiten nur an die sehr engbegrenzten Kreise der künstlerisch gebildeten Zahlungsfähigkeit wenden. Für die Beurteilung der öffentlichen Sittlichkeit ist heute vor allem maßgebend, was in Zeitungen oder auf Plakaten erschien, denn hier wollte doch der Künstler die unkontrollierbare Gesamtheit reizen und beeinflussen.
Auch hier muß Frankreich in die erste Reihe gestellt werden; oder richtiger: die Weite der Grenzen, die die Freiheit der Anschauungen in Frankreich ermöglichen, stellen Frankreich überhaupt außer jeden Wettbewerb. Man kann dies mit klassischen Proben belegen; wir geben solche von Willette, Lermann Paul, Forain und Caran d'Ache. Die drei ersten haben teils dauernd, teils für große Perioden dem Courrier Français, dem künstlerischsten Blatte Frankreichs in den Jahren 1888-1903, die Physiognomie gegeben, und alle haben dabei des Lebens Widersprüche keck entschleiert. Wie kühn das geschah, mag von jedem ein Bild illustrieren. » Lune de Miel« nennt Hermann Paul einmal ein Titelbild. Es ist eine an sich ganz harmlose Liebesszene, eine junge hübsche Frau sitzt enggeschmiegt neben ihrem Gatten auf dem bequemen Sofa und tuschelt ihm zärtlich etwas ins Ohr, wohl eine kleine neckische Harmlosigkeit. Nun, es ist etwas mehr als harmlos, und was sie sagt, gibt der Sache das Gepräge: Apprends moi des mots sales … Vor einigen Tagen hat er bei seinen ehelichen Zärtlichkeiten schmutzige pornographische Worte eingeflochten, Worte aus dem Bordelljargon, wie sie seiner jungen wohlerzogenen Frau noch niemals zuvor ans Ohr geklungen sind. Aber gerade deshalb haben diese Worte ihre vibrierenden Sinne wahnsinnig aufgepeitscht und sie zu ungeahnten Sensationen geführt. Von nun ab kann sie sich zu Hymens Tafelfreuden kein pikanteres Hors d'œuvre mehr denken, und sie lechzt danach, ihre Phantasie darin baden zu können. Es ist ein zynischer Blick hinter die Kulissen der Wohlanständigkeit (Bild 353).
Willette ist um kein Haar weniger kühn. Er, der Watteau des 19. Jahrhunderts, ist nicht nur ein schwärmischer Romantiker, sondern er geht stets mit offenen Augen über die Boulevards, und da sieht er, wie die süße Minne täglich aufs infamste herabgewürdigt wird. And er zeichnet diese Infamie in ihrer ganzen drastischen Wahrheit nach, so wie sie täglich an sein Ohr dringt: » Dieu … que vous avez les mains froides.« Das ist der einzige Protest der beleidigten Menschenwürde. Wenn er keine kalten Hände hätte, würde sie gar nicht protestieren. Nur die kleine Unbehaglichkeit geniert sie, gegen die Sache selbst hat sie gar nichts einzuwenden. Vielleicht sagt sie es auch nur, um überhaupt etwas zu sagen. Denn diese Freiheiten darf sich jeder erlauben, mit dem sie über ein Geschäft debattiert, bei dem sie hundert Sous verdienen will. Nach einer solchen Einleitung wird der Handel eher perfekt, Hunderte fangen so an. Das ist unstreitig diabolischer Zynismus, aber es ist lebenswahrer Zynismus; wer blind ist oder mit verbundenen Augen durch die Großstadt geht, mag ihn verdammen, er hat die Entschuldigung der Blindheit (Bild 345). Forain hat im Courrier Français neben anderen bedeutenden Blättern die lange Reihe der » Joies de l'adultère« publiziert. Jedes Blatt ist zynisch im höchsten Grad, aber auch von gleicher Wahrheit und Echtheit. Eine einzige Probe belegt das. Sie hat ihn eines Tages in seinem Junggesellenheim besucht und ihm die Gunst gewährt, um die er gebeten. Aber sie ist nicht ganz zufrieden mit ihm. Und beim Ankleiden gesteht sie es ihm in Form einer vorwurfsvollen Frage: »Aber warum haben Sie mich denn geschont?« War er denn blind, um nicht zu begreifen, daß sie sich einzig aus Verlangen nach einem vollen sinnlichen Genuß zu einer ehelichen Untreue von ihm hat verführen lassen? Abgesehen vom Text ist das Bild harmlos, deshalb erübrigt sich seine Wiedergabe. (Vgl. auch Bild 352.)
Angesichts solcher Stücke ist man zweifellos versucht, einzuwenden, der Courrier Français sei ein Künstlerblatt, und das habe seine besondere Moral und rekrutiere seine Leser vorwiegend aus ausgelassenen Künstlerkreisen. Aber dieser Einwand wäre durchaus verfehlt. Le Figaro ist kein Künstlerblatt, er war in der Mitte der neunziger Jahre das gelesenste Regierungsblatt mit etwa einer Viertelmillion täglicher Auflage, und? Nun, er leistete sich in seinen berühmten illustrierten Montagsnummern dutzendmal ganz genau dasselbe! Oder sind » La vie de Château«, » Le Faune à la Flûte« und ähnliche, alle von Caran d'Ache, denn etwas anderes? Was ist z. B. La vie de Chateau? Der biedere Landedelmann hat Besuch von einem jungen Freund aus der Stadt, er lockt ihn um sechs Uhr aus den Federn, daß er ihn bei seinem alltäglichen Morgeninspektionsgang begleite. Aber es ist ein schneidig kalter Wintermorgen, und der verwöhnte Gast hat die Handschuhe vergessen. Umkehren? Er täte es am liebsten, aber der Schloßherr ist anderer Meinung, denn dem ist sehr rasch abgeholfen. Der treue vierfüßige Begleiter Tom ist der scharfnäsigste und klügste Apporteur, ihn braucht man nur an der Hand riechen zu lassen, und er weiß, was man von ihm will. Und siehe da, in drei Minuten sind die vergessenen Handschuhe – zwar nicht zur Stelle, aber etwas anderes. Die Spürnase des Hundes bringt unschuldsvoll an den Tag, daß die Hände des Langschläfers sich am verflossenen Abend auf das eingehendste mit der intimen Toilette der jungen Schloßherrin beschäftigt haben! (Bild 354 bis 361). Die Bilderfolge » Le Faune à la Flûte« ist nicht so raffiniert, aber darum nicht weniger eindeutig derb, sie behandelt die Naivetät. Die Lastträger haben Pech gehabt, die Faunsstatue, die sie nach dem »Salon« schaffen sollten, ist ihnen unter den Händen in Trümmer gegangen. Aber sie wissen schon, den Schaden flink wieder gut zu machen. Weil sie jedoch mit der klassischen Geschichte nicht so recht vertraut sind, passiert ihnen eine kleine Verwechslung; sie sehen die ebenfalls abgebrochene Faunsflöte für etwas anderes an und verfahren dementsprechend bei ihrer Reparaturtätigkeit – zum hellen Entsetzen einer des Weges kommenden englischen Familie (Bild 362 bis 373).
Man wird zugeben, daß solche Kühnheiten denen des Courrier Français nichts nachgeben. Und in dieser Weise tout Paris zu amüsieren, das gestattet die öffentliche Sittlichkeit in Frankreich sogar dem offiziellen Regierungsblatte! Daß solche Dinge in Deutschland absolut ausgeschlossen sind, bedarf nicht erst einer näheren Begründung. Dagegen hat der anklägerische satirische Witz, wie er im Courrier Français und in der nicht minder kühnen » Assiette au beurre« (Bild 343, erschien zuerst in Assiette au beurre; und Beilage » Les Sisters Machinson's«) allwöchentlich gepflegt wird, längst auch in den deutschen satirischen Blättern seinen Einzug gehalten. Als Beweis sei einzig auf den Serben Pascin verwiesen, der im »Simplicissimus« seit einigen Jahren nicht nur durch sein starkes künstlerisches Können, sondern ebensosehr durch seinen ungeheuren Zynismus auffällt. Pascin gibt in der Stoffwahl und in der Stoffbehandlung keinem der genannten französischen satirischen Blätter auch nur das geringste nach (Bild 384).
Leider sind wir noch auf einem anderen Gebiete den Franzosen ziemlich ebenbürtig, nämlich auf dem jener witz- und geistlosen Pornographie, wie sie in Blättern wie »Das kleine Witzblatt« so üppig floriert. Gewiß ist auch hier Frankreich vorbildlich für die Deutschen gewesen. Das ohne jeden Kommentar verständliche Blatt » Comment elles mangent les asperges« aus dem bekanntesten der verschiedenen Pariser Kokottenblätter, aus La vie Parisienne, (Bild 346) ist dafür ein ausreichendes Zeugnis. Aber die gewissenlosen Fabrikanten des »Kleinen Witzblattes«, des »Sekt« und ähnlicher Elaborate lassen es sich so viel Schweiß kosten, der Gemeinheit zu dienen, daß ihrem heißen Bemühen schon oft der Erfolg gewinkt hat, als gleiche mit der niedersten Pariser Boulevardpresse am Ziel gelandet zu sein. Noch mehr gilt dies freilich von der österreichischen Zeitungsbordelliteratur, dem »Caviar«, »Pschütt« und den »Wiener Carikaturen«. Dafür zählen diese Zeitungen in allen Kaffeehäusern der Welt auch zu den am meisten gelesenen. Wogegen der Insbrucker »Scherer«, der die Kochonerie nicht verherrlichte, sondern energisch gegen sie zu Felde zog (Bild 374), nach wenigen Jahren wieder eingehen mußte.
In gleich edlem Wetteifer strebt überall die pornographische Ansichtskarte demselben Ziele zu (Bild 375-381). Diese mit der Kleinen-Witzblatt-Presse und mit der pornographischen Ansichtskarte systematisch betriebene Spekulation auf die Sinnlichkeit ist ein tägliches Verbrechen an der Phantasie der Völker, und dieses Verbrechen ist bei der heutigen Reife der Zeit viel schwerer einzuschätzen als die Sünden unserer Väter.
Einige farbige Abbildungen stammen nicht aus dem Buch, sondern aus anderen Internetquellen. Re