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Der Fischteich.

Fräulein Klementine führte Lydia und Gustel gleich von der Treppe aus in den Schlafsaal. Das war ein schönes, großes Zimmer im zweiten Stock; acht Betten standen dort je mit der schmalen Seite an der langen Wand, neben jedem Bett eine Kommode, immer so, daß einmal zwei Kommoden aneinander stießen, und dann wieder zwei Betten; zwischen diese beiden Betten aber war eine Tapetenwand gezogen, so daß je zwei Betten, zwei Kommoden und zwei Waschtische – diese zu Füßen des Bettes – ein hübsches, kleines, an einer offenen Seite mit dem ganzen Saal verbundenes Zimmerchen bildeten: die »Zwillingskabüse« wurde es genannt.

Lydia und Gustel bekamen solch ein gemeinsames Nest zugewiesen, durften Atem holen, sich die Hände waschen und das Haar glatt streichen; dann ging es hinab zum Kaffee, wo die anderen schon warteten.

Das ganze obere Stockwerk war leer. Fräulein Klementine zeigte ihnen noch rechts und links vom Schlafsaal die Zimmer von Mademoiselle Laport und Miß Harriet, dann eines, worin die drei Großen mit Fräulein Lisbeth schliefen, und ihr eigenes ganz vorn an der Treppe. Nur der Herr Professor hauste im Erdgeschoß »als Schutz und Wächter«. Der alte Kellermann hatte die Gärtnerwohnung inne, deren rotes Ziegeldach zwischen den kahlen Aesten mächtiger Bäume hervorschimmerte.

Der erste Stock mit seinen Schul-, Wohn- und Empfangszimmern stand jetzt auch leer. Alles war unten im Speisesaal, der nahe der Küche und den Kochstuben, den Zimmern des Hausherrn gegenüberlag.

Lautes Summen drang Gustel aus diesem Speisesaal entgegen – dort wurde auf die Neuen natürlich mit Spannung gewartet, und trotz des tapferen Wildfangs und der großstädtischen Unbekümmertheit spürte Gustel ein ganz merkwürdiges Herzklopfen.

Das erste, was sie beim Eintreten sah, war eine große, schöne Glastür, die geradeswegs über eine Terrasse in den Garten führte, und durch diese Glastür schaute mitten herein auf Scherings Kaffeetisch die Wartburg.

Mußte das im Sommer erst himmlisch sein! Weiter aber konnte sie ihre Gedanken nicht spazieren gehen lassen, denn Professor Schering nahm sie und Lydia bei der Hand und nannte ihre Namen.

Sie machte eine Verbeugung und dann sah sie dem Unbekannten mutig ins Gesicht: »Gustel, sei nicht dumm, Gustel, nimm dich zusammen!«

Es ging auch piek, wie sie selber später an Paul berichtete; nur wußte sie, als sie endlich vor ihrer Kaffeetasse saß, nicht einen einzigen der Namen mehr, die ihr am Ohr vorübergeschwirrt waren.

Wird schon werden, dachte sie und betrachtete sich Professor Schering, den sie gleichfalls piek fand. Er war noch ein erheblich Teil größer wie seine große Schwester, dazu viel breiter und hatte einen stattlichen Vollbart. Was Gustel aber besonders gut gefiel, das war, daß sie recht oft ein Lächeln unter diesem Vollbart zu sehen meinte; – sie hatte nun einmal zu lachenden Menschen sehr viel Zutrauen.

Miß Harriet erschien Gustels bewunderungsfähigem Herzen einfach süß! Merkwürdig fand sie nur die zierliche Beweglichkeit der jungen Lehrerin; sie hatte sich die Engländerinnen phlegmatisch und die Französinnen quecksilbrig gedacht, hier war es aber umgekehrt, die kleine dicke Mademoiselle schenkte sich gern jede unnütze Bewegung.

Die jungen Mädchen, die »Fischlein«, wie sie infolge Charlottens Scherz ihre Gefährtinnen in den Briefen nach Hause jedesmal nannte, lernte sie erst nach dem Kaffee etwas genauer unterscheiden, als Fräulein Klementine ihnen freien Lauf nach dem Schlafsaal zum »Auspacken« und »Heimischmachen« gewährte.

Die Koffer standen schon da, aber zum Auspacken kamen sie nicht gleich. Zunächst sah Gustel, daß auch hier die Wartburg in die Fenster guckte; dann rief ein helles Stimmchen: »Nun kommt mal her und laßt euch anschaun!«

Da aber wandte sie sich lebhaft um. »I wo, anschaun?« rief sie. »Ihr habt uns schon eine Stunde lang ununterbrochen angesehen, jetzt möchten wir endlich mal was von euch wissen!«

Jubelndes Lachen antwortete auf Gustels Gegenrede.

Ein langes, eckiges Mädchen, durch den etwas zu lose gesteckten Zopf und zwei spießende Haarnadeln vor den andern ausgezeichnet, rief: »Himmlisch! Und sie hat recht, wir haben sie eine Stunde lang beguckt! Drum laßt uns nett sein, wir wollen uns nun noch einmal feierlich vorstellen.«

In diesem Augenblick trat die dunkelste der jungen Schar aus dem letzten Kämmerchen heraus. Sie hatte ein Päckchen Bücher in der Hand und sah mit hellen, ernsthaften Augen die beiden Neuen an. Der Gegensatz ihrer tiefdunkeln Haare und der hellen, ein wenig gelblichen Augen kam Gustel sehr merkwürdig vor, und unwillkürlich erwiderte sie den Prüfungsblick mit gleicher Schärfe.

»Ich bin Friederike Schauroth,« sagte die Dunkle, den Blick zu Lydia wendend, »ich bin die Aelteste im Zimmer und der erwählte Obmann; wenn also irgend eine Meinungsverschiedenheit über Fensteraufmachen oder dergleichen Fragen entsteht, habe ich zu entscheiden. Ueberhaupt bin ich gewöhnt, daß man sich nach mir und meiner Arbeit richtet. Wie alt seid ihr denn eigentlich?«

»Ich werde im Dezember siebzehn,« sagte Lydia stolz.

»Küken!« rief die mit den spießenden Haarnadeln, die fünf Monate älter war.

»Und ich werde im Mai sechzehn!« rief Gustel vergnügt.

»Dann ist sie das Küken,« sagte die Hübscheste von allen, deren große braune Augen wie von Seidensamt aussahen.

»Jedenfalls seid ihr die beiden Jüngsten,« sprach Friederike herablassend. »Nun laßt euch von den andern heimisch machen, sie werden sich jedenfalls gerne Zeit dazu nehmen – ich habe zu arbeiten.«

Damit ging Friederike Schauroth hinaus, gesetzten Schrittes, das Bücherpaket unterm Arm, und es war gerade, als ginge ein kalter Luftzug durchs Zimmer. Als sie fort war, hielten die Fischlein einen Augenblick den Atem an; als ihr Schritt auf der Treppe verklang, drehte sich die spießende Haarnadel auf den Absätzen rund um sich selber und blieb gerade vor Gustel stehen.

»Nun kann das Vergnügen losgehn!«

Eine andre aber schob sie beiseite. »Halt, Lise Flederwisch, nicht voreilig!« Dann nahm sie je eine Hand von Gustel und Lydia und fragte mit künstlich tiefer Stimme, was feierlich klingen sollte: »Seid ihr ehrlich?«

»Furchtbar ehrlich!« rief Gustel im Tone innigster Ueberzeugung.

»Ich meine: werdet ihr nie klatschen?«

»Nein,« antwortete Lydia.

»Ihr müßt euch ordentlich als zu uns gehörig fühlen, wir sind unser sechs zu Schutz und Trutz verbunden – menschliche Schwächen hat jedes – wenn ihr die etwa anbringen wolltet –«

»Wer tut denn so was!« sagte Gustel wegwerfend.

»Schön. Wenn ihr klatschtet, würdet ihr natürlich verachtet werden.«

»Drohungen machen auf Auguste Elwers keinen Eindruck; sie ist so wie so nicht ruppig.«

»O, o, o! dann ist es ja gut,« begütigten alle vier die empörten Neulinge, und die Sprecherin fügte hinzu: »Man muß doch wissen, woran man ist – nun haben wir Vertrauen.«

»Piek!«

»Also: sie, die da eben hinausging: der ›Obmann‹ Friederike Schauroth, das ist der, die, das ›Schaurig‹.«

»Was?«

»Wir nennen sie ›Schaurig‹, weil sie schaurig ist und jede einen Spitznamen hat; so ist es in jeder Pension; offiziell heißt sie Friederike Schiller, denn sie dichtet und ist gelehrt, hält sich für einen großen Geist und will alles besser wissen.«

»Weiß alles besser,« flocht die spießende Haarnadel ein.

»Still, Flederwisch, unsre zwei Neulinge werden sie schon kennen lernen; dann – in acht Tagen etwa – sollen sie entscheiden, was an dem Schaurig ist. Wir vier aber – wir halten zusammen durch dick und dünn, ohne uns gerade mit dem Schaurig zu überwerfen, und ihr dürft dabei sein, ihr zwei Lütten. Die Aelteste bin ich – ich werde im Juli siebzehn, und heiße Erna Hiltrop und bin Berlinerin.«

»Daher die Redegewandtheit,« flocht die Blondeste ein, die bisher noch nicht viel gesprochen hatte.

»Und daher das Selbstbewußtsein und der Spitzname: Sie heißt der ›jute Jroschen‹!« fügte der Flederwisch hinzu.

»Weil sie einst gesagt hat, Fanny wäre ein lumpiger Sechser, sie aber ein ›juter Jroschen‹. Nun hat sie's.«

Erna, die Berlinerin, lachte übers ganze Gesicht, die Neckerei schien sie sehr zu erfreuen.

»Ich bin auch aus Berlin,« sagte Gustel und schob die feinen Augenbrauen zusammen, weil Erna Hiltrop ihr nicht so gut gefiel wie die andern.

»So?« Erna musterte sie noch gründlicher, dann fuhr sie zögernd fort: »Bist du aber auch echt?« worauf alle lachten und die spießende Haarnadel jubelnd verkündete: »Der ›jute Jroschen‹ ist eifersüchtig! Bis jetzt gehörte ihm Berlin ganz allein, nun hat er einen Nebenbuhler.«

»O du!« Erna lachte jetzt auch mit. »Nun wollen wir aber weiter vorstellen. Da ist Lise Böning, genannt der Flederwisch. Verräumt alles, verliert alles, vergißt alles; besteht aus lauter Ecken und denkt, der Mensch sei auf der Erde, um in Geschwindigkeit mit der ›Elektrischen‹ zu wetteifern. Außerdem ist sie ein fideles Mädel, denn sie stammt aus der Koblenzer Gegend, und am Rhein, wo der gute Wein wächst, sind alle Leute lustig.«

Lise Böning war durchaus mit dieser Vorstellung einverstanden, merkte gar nicht, daß die Schöne, mit den samtnen Augen, ihr sachte die Haarnadeln in den Zopf schob, stieß ihre Arme im verschobenen Viereck gen Himmel und sprach mit einem übertriebenen Seufzer: »Ja, ich bin ein Flederwisch, aber diese da, meine Kämmerleinsgefährtin, das liebe Mädchen, hilft mir redlich durchs Leben; sonst wär' ich längst in den Abgrund von Fräulein Klementinens Ungnade gestürzt. Ach, ich liebe Fräulein Klementine!«

Ihre Kämmerleingefährtin war die Schöne. Als »Wanda Bodmer« stellte Erna Hiltrop sie vor, »zwei Monate jünger als ich – wird von Fernerstehenden das ›Mädel mit den Augen‹ genannt, von uns ›Schönchen‹.«

»Oder auch Dummchen,« flocht Wanda bescheiden ein, »ich weiß schon.«

»Nun, vielleicht hie und da einmal – öfter aber Schönchen. Sie ist nämlich aus München, und das muß ich leider zugeben: in der Schönheit ist der Süden uns über.«

Wieder lachten alle Fischchen sehr vergnügt.

»Nun aber komme endlich ich!« rief die vierte. »Ich finde, man unterdrückt mich.«

Diese vierte war blond; sehr blond. Haar und Gesicht fast gleichfarbig, und weil sie auch so von Gemüt war, nicht leicht warm zu machen und lange nicht so jugendrasch, wie die andern, hieß sie das »Semmelchen«. Außerhalb des Fischteichs führte sie den Namen Fanny Gutmann.

»Blond von Haar, blond von Gemüt,« sagte Erna, »bieder durchaus, bemüht sich, daß keines was an ihr findet, ist mein treuer Knappe, dichtet auch, sonst ungefährlich.«

»Nun ist's genug!« fiel Fanny ein, die erste, die einen leisen Ton von Empfindlichkeit in ihrer Stimme durchklingen ließ. »Nun wollen wir den beiden auspacken helfen. Ihr braucht nicht zu lachen, ihr werdet bald genug auch euren Spitznamen weghaben.«

»Hoffentlich,« rief Gustel, »es käme mir sonst vor, als gehöre ich gar nicht zu euch.« Lydia sah weniger entzückt aus.

Während nun die vier Alten den beiden Neuen beim Auspacken und Einräumen halfen, plauderten sie weiter von den andern Bewohnern des Hauses. Erna und Lise Böning, der Flederwisch, führten das Wort, Semmelchen und Schönchen begleiteten dieses Duett nur hie und da mit Zustimmung, Lachen, oder einer flüchtigen Einrede.

»Unsre drei Großen habt ihr hoffentlich ordentlich angesehen. Nicht? Dann holt das heute abend nach. Sie sind ansehenswert. Freilich sind sie gegen uns auch etwas stark von oben herab, wir nennen sie deshalb: Scherings Göttinnen. Die Größte ist ›Pallas Athene‹ – will Lehrerin werden – die kleine Dicke ist ›Hera‹, denn sie putzt sich so, daß sie den Pfau gar nicht mehr als Symbol neben sich braucht, und die Goldblonde ist unsre ›Aphrodite‹. Bis Oktober dürfen wir sie noch bewundern, Malstunde ist ihr Lebenszweck. Nun, ihr Neulinge, was sagt ihr? Ist es nicht eine geistreiche Gesellschaft, in die ihr geraten seid?«

»Erschütternd,« rief Gustel aus, »weißt du, Lydia, für so gebildet habe ich den Kreis, in den wir einzutreten die Ehre hatten, wirklich nicht gehalten – ich bin ganz weg vor Wonne.«

Während aber Lise Böning Gusteln um den Hals fiel, sie tüchtig abküssend dafür, daß sie Erna, dem »Obermundwerk«, einen kleinen Nasenstüber gegeben hatte, antwortete Lydia, weit entfernt Gustels Ironie zu verstehen: »Ich bin nichts andres gewöhnt und habe nichts andres erwartet.«

Schönchen aber sagte behaglich: »Die drei Damen, die des Abends zum Gutenachtsagen kommen, nennen wir die drei ›Parzen‹, weil sie den Faden der Unterhaltung entzweischneiden.«

»Piek!« rief Gustel diesmal und Lydia fragte: »Welche Damen denn?«

»Miß, Mademoiselle und Fräulein Lisbeth.«

Nun war alles ausgepackt und an Ort und Stelle verwahrt, da schlug Lise vor, schnell noch den Garten zu zeigen, ehe es dunkel werde. Beifall auf allen Seiten.

Lise und Wanda (Flederwisch und Schönchen), Erna und Fanny (der jute Jroschen und das Semmelchen), Gustel und Lydia, die noch Unbenannten, liefen je in ihre Kabüsen, zogen warme Jäckchen an und wanderten dann hinunter.

Aus dem Speisesaal klang Musik. »Hier steht eins der Uebungsklaviere und die da spielt, ist Aphrodite – klingt das nicht süß?« fragte Lise Böning, und fügte dann hinzu: »Da werdet ihr auch manchmal die Fingerlein tüchtig auf und ab marschieren lassen; Fräulein Klementine ist sehr fürs Ueben.«

»Ich spiele nicht Klavier,« sagte Gustel.

»Was? hört mal an – sie spielt nicht Klavier!«

»Nein, ich habe kein musikalisches Talent und Papa sagt, talentlose Menschen müßten die Finger von einer Kunst lassen, die Lärm macht. Bei den stummen Künsten möge es noch angehen, da tue der Dilettant wenigstens nur sich selber weh.«

»Du hast aber einen merkwürdigen Papa,« bemerkte Erna Hiltrop, die ohne jedes Talent, aber mit großem Eifer auf dem Klavier herumarbeitete.

Gustels Oberlippe hob sich ein wenig, so daß die kleinen Zähne hervorblitzten. »Ich habe einen vorzüglichen Papa, den besten, den es überhaupt auf der ganzen Welt gibt.«

Ein leises Murmeln wurde hörbar und Fanny Gutmann sagte in dies Murmeln hinein: »Was weißt du denn von unsern Eltern? Höre du, die sind auch die besten!«

Gustel errötete. »Ja,« gab sie ehrlich zu, »du hast recht; aber dann dürft ihr meinen Papa auch nicht ›merkwürdig‹ nennen.« Alle außer Erna gaben das lebhaft zu, Gustel wurde aufgefordert, von diesem Papa zu erzählen und tat das auch, wenn schon nicht mit so viel feurigem Eifer, wie am Vormittag unter Fräulein Charlottens teilnehmenden Augen. Man fand den Beruf des Papa Elwers sehr schön und sehr wichtig, und die andern beeilten sich nun auch, von zu Hause zu berichten.

»Mein Papa ist Bankier,« sagte Erna erhobenen Hauptes, »wir haben ein schönes großes Haus in der Lichtensteinallee beim zoologischen Garten und ein Comptoir in der Heiligengeiststraße bei der Börse, und Papa ist sehr klug und sehr angesehen.«

»Mein Vater,« fiel Fanny Gutmann ein, »ist Gerichtsrat in Weimar. Das ist etwas ganz Ideales, denn wo irgend einmal Unrecht geschieht, bringt er es wieder in Ordnung, und das ist das Höchste, was es gibt.«

»Mein Vater ist Fabrikant,« sprach Wanda Bodmer, »und das muß es auch geben, denn wenn kein Garn gesponnen würde, so hätten wir keine Kleider und müßten uns noch heute in Felle hüllen.«

»Ihr seid die Praktischen, Schönchen, und wir sorgen für die Freude des Lebens; mein Papa ist Weinhändler, eigentlich Weinbauer, denn er verkauft hauptsächlich, was auf unsern Weinbergen an der Mosel wächst.«

»Piek!« rief Gustel, »das ist das Schönste; ich finde es herrlich, wenn einem was zuwächst und nun auch noch Moselwein, aus dem wir alle unsre fidelen Geburtstagsbowlen machen.«

Lise Böning, die Weinbauerstochter, fiel Gustel schon wieder einmal um den Hals. »Du bist ein süßes Mädchen,« rief sie, »du mußt mal zur Weinlese kommen, das ist einzig schön – heißt das für den, der zusieht.«

»Nun,« fragte Erna, die immer im Mittelpunkt stehen wollte, »und was ist denn dein Vater, Lydia?«

»Fabrikant und Grundbesitzer,« antwortete sie und fügte schnell hinzu: »Wenn wir jetzt aber nicht in den Garten gehen, so wird überhaupt nichts daraus, wie lange noch und es dunkelt.«

Der Weg in den Garten führte während des Winterhalbjahrs, wo die Terrasse durch eine Doppeltür abgeschlossen war, an der Küche vorbei. Dort stand Fräulein Lisbeth und traf ihre Vorbereitungen zum Abendbrot; sie nickte den sechs Fischlein freundlich zu. »Morgen habe ich Hilfe!« sagte sie, und Erna erzählte den Neuen, daß immer je zwei von ihnen eine Woche lang Adjutanten Fräulein Lisbeths seien, zwei andre verrichteten während dieser Zeit alles, was zum Zimmeraufräumen und Nettmachen gehöre, das dritte Pärchen habe Wäsche- und Vorratskammergeschäfte und mache mit Fräulein Klementine Besorgungen.

»Piek,« rief Gustel, die sich besonders die Besorgungen sehr nett dachte, »aber was tut dann Friederike Schauroth, die Ungepaarte?«

»Friederikens Zwilling ist jetzt fertig nach Hause gereist, und auch sie hat an den prosaischen Dingen ausgelernt, sie lebt nur noch höheren Wissenschaften.«

Lydia wunderte sich heimlich, daß sie hier so viel prosaische Dinge lernen sollte – sie war doch erst recht um der Wissenschaften willen in Pension gegangen. Ob ihre Eltern das gewußt hatten? Zwei Tränen traten ihr in die Augen, sie ging hinter den andern drein und schlug sich mit bitteren Gefühlen herum. Da faßte Gustel ihren Arm! »Komm her, Zwilling, wir bekommen den Garten gezeigt!« und ganz leise fügte sie hinzu: »Nicht weinen, nicht Heimweh haben!«

Der Garten war groß und mußte im Sommer sehr schön sein, ein würziger Duft kam vom Wald herüber, an den Büschen quollen dicke Knospen auf, der Buchs, der die Beete einfaßte, sah schon ganz frisch und lustig aus.

Sie umschritten den großen Rasenplatz vor dem Haus und gingen an Obst- und Zierbäumen vorbei, nach dem Gemüsegarten; dort war für jedes der Fischlein ein Beet abgetrennt; Gemüsebau wurde da erlernt, und ein Stück blieb übrig »für Herz und Nase«.

»Oder für Magen und Augen; je nachdem,« verbesserte Lise Fannys Bericht.

Die Neuen bekamen ihr Gartenland gezeigt. Gustel jauchzte laut auf. Das war ja gar nicht ganz leer, da standen wohlbeschnittene Erdbeerstöckchen; ein Stachelbeerbusch bildete den Hintergrund des »Ritterguts« und vorn blühten auf einem schmalen Streifen Schneeglöckchen.

»Hört nur, hört nur!« rief sie in die Hände klatschend, »die Glöckchen läuten ganz deutlich: Guten Tag, Gustel, sei schön willkommen!«

Alle lachten und Professor Schering, der eben aus dem Gärtnerhaus kam, nickte Gustel freundlich zu.

»Habt ihr denn schon die Goetheeiche gezeigt?« fragte er.

»Nein, nein! noch gar nichts, wir kommen eben erst.«

»Und der erste Weg ist zu den Stachelbeeren! – natürlich, ihr kleinen Magendiener. Sagt doch erst mal Kellermann guten Tag und dann vergeßt nicht das Wahrzeichen der Villa Schering!«

Die jungen Mädchen wanderten durch den schöngehaltenen Gemüsegarten, in dem schon alles Land für den kommenden Frühling bereit war; am Ende dieses Gartens stand ein freundliches kleines Haus. Gleich auf dem Unterstock saß das rote Dach, aber blitzblank war's, wie alles rings um die Villa.

Der Hund in der Hütte schlug an, war aber gleich wieder still, zwei Ziegen meckerten seitwärts hinter einem Lattenzaun.

»Piek! als wären wir auf dem Lande!«

»Aber Gustel! da sind wir doch auch!«

»Richtig – und auf dem Lande sein ist himmlisch! Wenn ich nur Ida und Frida, Mausi und Paulemännchen hier hätte!«

»Paulemännchen ist wohl euer Wickelkind?«

Gustel sah die Fragerin empört an. »Nein, Paulemann ist Primaner, und ich werde ihn nun nie wieder so nennen.«

Lydia kämpfte abermals mit Tränen. Auf dem Lande! und sie hatte sich so unsäglich in die Stadt gewünscht, sie schwärmte für Städte, je größer sie waren, desto besser – durchaus nach Berlin hatte sie gewollt, aber ihr Pate hatte diese Villa Schering empfohlen, und dabei so viel Schönes und Wichtiges von Eisenach zu berichten gewußt, daß sie nicht länger um Berlin gebettelt hatte. Nun kam sie vom Lande und saß auf dem Lande, es war zum Verzweifeln.

Gustel bedankte sich inzwischen bei dem alten Kellermann für die herausgefahrenen Koffer und bat um Anweisung für den Gartenbau, denn ihre ganze Gärtnereierfahrung stamme von einem Azaleenbusch, der durchaus nicht habe blühen wollen.

Kellermann schmunzelte, er belehrte sehr gern, und da alle ständigen Bewohner der Villa Schering »mächtig gescheit waren«, tat es ihm immer wohl, wenn auch seine besondern Kenntnisse anerkannt und für wichtig gehalten wurden. Gustel war nach fünf Minuten schon vertraut mit dem Alten.

»Ja doch – ich mag Frauenzimmerzeug nicht – fahrig, faselig und verworren – so was Kleines, Lustiges aber, das geht!«

»Du bist ja eine ganz gefährliche Person,« sagte Erna, als sie etwas später nach der Eiche gingen.

»Warum?«

»Hast den spröden Kellermann im Sturm genommen! Du kannst den Leuten schön um den Bart gehen.«

»Ich gehe niemand um den Bart,« sagte Gustel ärgerlich, »in Berlin ist das nicht Mode.« Gleich darauf, als sie Fanny Gutmanns Kichern hörte, setzte sie hinzu: »Aber ich zanke mich auch nicht gern. Wir wollen lieber zu Goethen gehen.«

Das Wahrzeichen der Villa Schering war eine mächtige alte Eiche. Irgend eine unverbürgte Sage behauptete, auf der verwitterten Steinbank unter dieser Eiche habe Goethe gern gesessen; hübsch genug war der Ausblick, um einen Dichter dahin zu locken. Die Eiche stand auf einer kleinen Erhöhung am Ende des Parks; rechts sah man in das Gewirr der kahlen Waldbäume hinein, über denen die Wartburg stattlich herabschaute, geradeaus lag ein fruchtbares Gelände im ersten Hauche des Frühlings und darüber spannte sich der leise dämmernde, von zartem Rot übergossene Abendhimmel.

Neben der Eiche aber war noch etwas zu sehen: da standen an einer verwitterten, im Geschmack vom Anfang dieses Jahrhunderts modellierten Säule auf einer vorspringenden Tafel, in frisch vergoldeten Buchstaben, Goethes Verse:

Anmut bringen wir ins Leben;
Leget Anmut in das Geben.
Leget Anmut ins Empfangen!
Lieblich ist's, den Wunsch erlangen.
Und in stiller Tage Schranken
Höchst anmutig sei das Danken.

Die beiden Neuen lasen aufmerksam. Erna Hiltrop erklärte: »Das sagen die Grazien, wißt ihr: Aglaia, Hegemone, Euphrosine, und es ist aus Faustens zweitem Teil –«

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Da standen an einer verwitterten Säule auf einer vorspringenden Tafel Goethes Verse.

»Piek!« schnitt Gustel Ernas Gelehrsamkeitsfaden rücksichtslos ab, bot mit einer Tanzmeisterschwenkung dem Flederwisch den Arm, machte ihr schönstes Wildfanggesicht und sagte: »Werden wir Grazien!«

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