Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Drei wundervolle Wochen wurden in der Villa Schering verlebt. Selbst das Wetter war in Festtagsstimmung; tagsüber schien die Sonne, nachts goß der Himmel seine Pflanzen so kräftig oder so sanft wie sie es gerade brauchten. Gustels Beet prangte in Früchten und Blumen; Paul hatte sich als »Gärtnerbursch« vermietet und machte sich auf all den Backfischbeeten sehr nützlich. Da jede der Zurückgebliebenen ein Pflegebeet übernommen hatte, gab's Arbeit genug für ihn.
Seit Kellermanns Tadel ihr die Augen geöffnet hatte, störte Gustel das Brachland. Nach einigen Versuchen, die allemal in Mutlosigkeit endeten, sprach sie Friederiken um dies Fleckchen Erde an und erhielt sofort die Erlaubnis, es zu bepflanzen.
»Aber natürlich,« sagte Friederike, »wenn es dir Spaß macht! Ich habe keine Zeit zum Tändeln.«
Gustel »tändelte« mit Wonne. Kellermann mußte raten, wie das Land jetzt noch zu nutzen sei, und bald wuchsen da Asterpflänzchen, keimten Resedakörnchen einem bunten Herbst entgegen. Spinat und Petersilie wurde im Hintergrund, »der Biederkeit zu Ehren«, ein Platz gegönnt.
Die Küche war der Arbeitsplatz der drei Ferienfische. Von früh bis Mittag waren sie Fräulein Lisbeths »Hilfstruppe«, sie kochten Beeren zu Mus; sie legten Gurken ein; sie klärten Fruchtsäfte und trockneten Erbsen – und das unter so viel Scherz und Lachen, daß selbst Lydia Freude an der »untergeordneten Arbeit« fand.
Von Zeit zu Zeit schaute Professor Schering durch die Küchentür mit »seinem Feriengesicht« – wenigstens nannten so die drei Fischchen den augenblicklich vorhandenen, heiter glücklichen Gesichtsausdruck, den sie so strahlend noch nie bei ihm gesehen hatten.
Neben den Einmachkünsten lernten die drei auch allerlei Feinheiten der Hausmannskost zubereiten, je Tag um Tag mußte eine von ihnen selbständig am Herd schaffen und Gustel durfte schließlich Eltern und Geschwister zu selbstgebratener Kalbskeule mit sehr viel drum und dran einladen.
Das war freilich was andres als ein paar Plätzchen backen! – Heiß war Gustel, »heiß wie noch nie«, als mittags die liebsten Menschen einrückten, und ihr Herz klopfte, als stehe sie vorm Staatsexamen. Aber dann zu sehen, wie es allen schmeckte, war wonnig! Papa nahm sich mit schalkhaftem Lächeln dreimal – Ida und Frida sahen mit staunender Ehrfurcht zu ihr auf, Paul stellte sich atemlos vor Appetit und sagte von Zeit zu Zeit halblaut: »Ich tue zu viel – bestellt nur einstweilen den Doktor – ich tue entschieden zu viel – aber es schmeckt zu großartig.«
Schönchen-Wanda kam nicht aus dem Kichern über den lustigen Berliner. »Für den muß sich nett kochen, Spatz, weißt du; meinem Papa ist so gleichgültig, was er ißt, das macht gar keinen Spaß; und um meinen Bruder zu erfreuen, müßte ich schon ein extra feines Bier brauen können.«
Gustel hörte das kaum, sie wunderte sich nicht einmal darüber, daß Schönchen eine lange Rede hielt, sie war mit allen Gedanken bei ihrem Küchenerfolg, und so wie das Gesegnetemahlzeitsagen vorüber war, fiel sie Fräulein Lisbeth um den Hals, denn Fräulein Lisbeth war es ja zweifellos, der sie diesen Sieg zu danken hatte.
Fräulein Lisbeth wurde zwar dunkelrot, aber ließ sich geduldig den stürmischen Dank gefallen und als Gustel, sich endlich wieder auf sich selbst und ihre Umgebung besinnend, mit leeren Armen inmitten des Zimmers stand, da sah sie dicht vor sich Professor Schering stehen mit seinem freundlichen Gesicht. Er strich ihr leicht über das eigensinnige Haar und sagte: »Ich habe solch dankbares Herz sehr gern!«
Das war einfach himmlisch. Aber es war noch nicht alles. Hatten die Fischlein ihren Vormittag also nützlich verbracht, so regierte am Nachmittag das Nichtstun durchaus. Sobald der Stand der Sonne es erlaubte, sammelte man sich zum Spazierengehn. Heute durch die Landgrafenschlucht hinauf nach dem Drachenstein, morgen durch die Drachenschlucht nach der hohen Sonne, wo man durch den Wald, wie ein fernes feines Bildchen, die Wartburg herübergrüßen sah.
Das erste Mal war Ida sehr ungern durch die Drachenschlucht gegangen; denn erstens war den Felsen nie ganz zu trauen, sie konnten herabrutschen, oder zusammenbrechen und die ganze Familie Elwers unter ihren Trümmern begraben, und zweitens hatte dieser Engpaß seinen Namen gewiß nicht von ungefähr – und wo es einstmals Drachen gegeben hatte, konnte es heute auch noch welche geben! Ida guckte in jede Felsschlucht, ob da vielleicht einer schlafe, und ging ganz leise, um ihn nicht etwa aufzuwecken. Nachdem sie aber zweimal unverschüttet und unverschlungen bis zur hohen Sonne gelangt war, verlor sich ihre Angst, und sie versicherte Mausi vor dem Abmarsch allemal tröstend: es sei gar nicht gefährlich, sie würden ganz heil wieder zurückkommen. Dennoch ging sie lieber nach der Wartburg hinauf und die andre Jugend eigentlich auch – es war gar zu lieblich da hinauf zu steigen, den grünen Buchenschatten über den Sommerhüten, all die Erinnerungen an die heilige Elisabeth, den Sängerkrieg, Luther und Friedrich mit der gebissenen Wange im Herzen. Jetzt liefen sie den Schmetterlingen nach oder suchten den Quell, dessen Rauschen lockend durch die Stille klang, und dann steckten sie die Köpfe zusammen und überlegten, welchen Weg wohl der unheimliche Klingsohr geritten sei und wo Wolfram von Eschenbach einst so herrlich die Harfe geschlagen habe.
Das ging so in Arbeit und Wonne drei Wochen lang. Dann kam ein Tag, da bat Papa Elwers sich das Töchterchen los für eine Fußtour auf den Wald, und mahnte Professor Schering an sein Versprechen.
Die beiden Herren hatten eine längere Unterredung miteinander; zum Kaffeestündchen kamen sie mit ihren Neuigkeiten in den Speisesaal.
Außer Mademoiselle und Friederike Schauroth, die beide strahlten in der vergnüglichen Aussicht, acht Tage lang ungestört zu sein, sollte die ganze Villa Schering den Wald unsicher machen. Der Professor, Fräulein Lisbeth, Wanda und Lydia würden mit der Familie Elwers wandern, die nur Mausi zurückließ. Jedes mußte sein Reisepäckchen auf den Rücken schnallen; ein kleiner Koffer für die »drei« Herren (Paul fühlte sich stolz als Nummer drei) und ein etwas größerer für die »Frauenzimmer« sollte geradeswegs nach der Schmücke gehen, wo man sich »verpusten« wollte, zu deutsch: einen Ruhetag gönnen.
Der Weg sollte zunächst zur hohen Sonne und von da den Rennsteig entlang bis zur Schmücke auf dem Schneekopf genommen werden, natürlich mit allerlei Seitensprüngen nach berühmten und lieblichen Erdenflecken. Professor Schering mit seiner Karte des Thüringerwaldvereins wurde von der wißbegierigen Jugend umkreist wie die Birne von den Wespen, und als man sich einbilden konnte, man habe »die ganze Landkarte im Kopf«, ging's zu Fräulein Lisbeth und Frau Doktor Elwers um guten Rat, was alles mitzunehmen notwendig sei und wie dies Notwendige am besten verpackt werde. Auswahl und Verpackversuche füllten den ganzen Nachmittag, Jubelrufe wurden laut, sobald es geglückt war, das »Unumgängliche« (Skizzen- und Tagebücher wurden natürlich mitgeschleppt) noch enger einzuschachteln.
Lina holte einen Querkorb voll Sachen aus der Elwersschen Wohnung.
Idas und Fridas rosa Ausflugskleider leuchteten dabei weit auf die Straße hinaus und brachten ein paar auf die Wartburg wandernde Studenten zu dem Ausruf: »Aha, heute nacht ist Feenball!« Frida war empört, Ida fand es einfach richtig: sie war ein Feenkind.
Gegen Abend, als Kellermann die beiden Aushilfskoffer schon auf dem Karren nach dem Bahnhof bewegte, ging Gustel mit den Eltern, um Abschied von Mausi zu nehmen.
Während sie mit dem Liebling schäkerte, ließ Papa sich noch einmal ihre Erlebnisse mit Tante Rickwitz erzählen.
»Recht ausführlich, Kind!« mahnte die Mutter.
Gustel tat's gern und mit Feuer; nachdem sie das »schreckliche« Mehlmann-Abenteuer glücklich gestanden hatte, war's ihr »eine Wonne«, die »himmlische Güte« der »gestrengen Tante« zu rühmen.
»Siehst du, Papa!« sagte die Mutter leise mahnend, als Gustel behaglich bei der Scene auf der Treppe des Landgrafenhauses verweilte.
Doktor Elwers ging langsam im Zimmer auf und ab. Als Gustel endlich ihren Stoff vollständig erschöpft hatte, sprach er: »Gut, Mama, du sollst deinen Willen haben, wir wollen unser Heil noch einmal versuchen. Gib acht, Gustel. Du mußt heute noch einen Brief schreiben. Setze dich hin und teile der Tante Rickwitz mit, wir seien allesamt hier in Eisenach und möchten nicht nach Berlin zurück, ohne ihr guten Tag gesagt zu haben. Sie möge uns nach der Schmücke, wo wir am 24. Juli zu übernachten gedächten, Nachricht geben, ob ihr recht sei, wenn wir am nächstfolgenden Sonntag zu ihr nach Gotha kämen. Schreibe ein bescheidenes und nettes Briefchen, Gustel; Mama wünscht sich sehr, wieder ein freundlich Gesicht von Tante Rickwitz zu sehen.«
»Und Papa trägt schon lange schwer an dem Zwiespalt, in den er mit seines Vaters einziger Schwester geraten ist« – sagte Mama leise, während Gustel die Treppe hinabstieg.
Nachher saß sie mit heißen Wangen im Arbeitszimmer und verfaßte ihren wichtigen Brief. Das erste wirklich wichtige Schreiben ihres Lebens. »O Charlotte – herzallerliebste Charlotte, daß du durchaus während dieser merkwürdigen Ferien nach Teplitz mußtest!«
Endlich stand der Brief sauber und fertig auf dem Papier.
»Liebe, verehrte Großtante!
Deine Nichte Auguste verlebt diesmal wunderschöne Ferien, denn Papa, Mama, und alles was dazu gehört, sind bei ihr. Wir wollen jetzt sogar über den Wald wandern – nach Oberhof und der Schmücke und zurück über Gotha. Wenn Du es erlaubst, bringen Dir Papa und Mama all ihre »Trabanten«, außer Mausi natürlich, die noch keine andern Fußtouren als von Stuhl zu Stuhl unternimmt. Paßt Dir das am nächsten Sonntag, so schreibe es, bitte, an Papa nach der Schmücke, wo wir am Vierundzwanzigsten eintressen. Ach, schreibe doch, bitte: kommt! Ich freute mich ja zu sehr darüber, und alle andern auch.
Deine dankbare Nichte
Auguste Dorothee Charlotte Elwers.«
Klein und zierlich fügte sie unten noch die Schmücke-Adresse hinzu und die Daten ihres Reiseplans, wie Papa sie angegeben hatte. Dann noch den Umschlag – heil und gut beim ersten Anlauf – und »den Kuß«, wie sie das Lecken nannte (der Glashund, der das eigentlich besorgen sollte, hatte natürlich eine trockene Zunge), und die Tat war getan.
Oben gab es dann noch ein endloses Plaudern im Flüsterton – denn keine Parze kam, den Faden der Unterhaltung abzuschneiden; Mademoiselle Laport schlief sanft und tief und Friederike war mild; hatte sie doch die herrliche Aussicht auf sieben völlig ungestörte Tage.
Beinahe hätten es die drei Plaudertaschen infolgedessen verschlafen. Wäre nicht der erste Sonnenstrahl des Julimorgens durchs Fenster geschlüpft, um Gustel auf der Nase herum zu tanzen, wer weiß, ob die »Weltfahrt« nicht mit Schrecken und Hatz begonnen hätte, obgleich Kellermann immer dann, wenn er es am allernotwendigsten hatte, zu sagen pflegte: »Nur keine Hatz, alles mit Muße, sonst geht es schief.«
Aber sie brauchten Kellermanns Weisheit nicht, der Sonnenstrahl tanzte und Gustel wachte auf; sie blinzelte ein wenig, wunderte sich über irgend etwas, ohne herauszubekommen, was das sei, und wollte sich eben wie sonst um die vierte Morgenstunde aus der Sonne rücken, da faßte ihr Blick das am Fensterkreuz hängende Wanderpäckchen. Glatt, rund und unverkennbar hob es sich von dem lichten Himmel da draußen ab und redete eine stumme, verständliche Sprache, die Gustel gleich völlig munter machte.
Nichts mehr von Linksumdrehen und noch einem kleinen Schlummerchen, mit einem Ruck saß sie aufrecht, und während ihre Rechte nach den Strümpfen griff, schmetterte sie in den stillen Schlafsaal hinein: »Frisch auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!«
Mademoiselle Laport erwachte in jähem Schreck, aber ihre Gutmütigkeit brachte es nicht fertig, am Morgen eines solchen Extrafreudentags zu schelten, sie seufzte nur: » O, o! Jeunesse n'a pas sagesse« und überlegte, ob nötig sei, in so früher Morgenstunde das Hausregiment von Professor Schering persönlich zu übernehmen.
Friederike konnte sich ein empörtes: »abscheulicher Lärm!« nicht versagen, aber das wurde übertönt durch den Gutenmorgenjubel Lydias und Wandas. Die drei Reisefischlein zogen sich unter Lachen, Plätschern, Schwatzen und Nach-dem-Himmel-hinausschauen fein säuberlich an.
Der Himmel machte ein richtiges Partiegesicht – er strahlte in sanftem Lichte; nach dem ersten Sonnenblick, der nur Gustel hatte wecken wollen, kam ein feines Nebelgewoge zur Herrschaft, das sich, als die fröhliche Wandergesellschaft die Stufen der Villa Schering hinabschritt, in feinen, kleinen Perlen auf Gras und Baumwerk setzte.
Mademoiselle und Friederike standen unter der Türe, Lina dienerte am Küchenfenster, Kellermann machte das Gattertor auf. Alle vier dachten bei sich – das werden mal acht echte Feiertage! Und die Davonziehenden sangen ins Land hinein:
»Fröhlich und wohlgemut, lalalalala,
Wandert das junge Blut, lalalalala,
Ueber den Rhein und Belt,
Auf und ab durch die Welt,
Laalalalalaaa!«
Der alte Kellermann lauschte behaglich nickend hinter ihnen drein. »Junges Volk, frohes Volk!«
»Griesgram sieht alles grau,
Freude malt grün und blau,
Rings wo der Himmel schaut,
Frohsinn sein Nestchen baut.
Laalalalalalaaaa!«
»Ja, ja; wird stimmen – kalkuliere, sie werden das richtige Wetterchen haben.«
»Leben bist doch so schön –
Morgens auf goldnen Höh'n –
Lalalalaa!«
Noch einmal klang Wandas schöne hohe Sopranstimme mit diesem Lalala bis zur Villa Schering zurück, dann vermochte selbst Kellermanns vorgeneigtes Ohr nichts mehr zu hören.
Er nickte noch zwei-, dreimal mit dem Kopfe, wie zur Bestätigung seiner Gedanken, klinkte dann das Gatter ein, schloß und riegelte gut zu, ging durchs Haus, empfahl Lina, die große Glocke zu ziehen, sobald »was Räuberisches drohe«, und stapfte dann hinüber zu seinen Beeten.
Als er vor den »Kinderchens ihren Gärten« stand, deren Pflege er übernommen hatte, wurde der Gedanke, dem er vorhin zugenickt hatte, zu Worten. »Ja, ja, ja – Jugend ist eine schöne Sache, wenn einer sie richtig anwendet in Arbeit und Vergnüglichkeit.«