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Ein schlimmer Tag.

Als Gustel nach Hause kam, hatte Lydia nicht übel Lust, ein wenig Thränenweide zu spielen. Aber der Eifer, mit dem Gustel von Friederikens Nerven sprach und von der Notwendigkeit, ihr ein wenig Lust am Trägesein beizubringen, ließ ihr gar nicht Zeit dazu. Ohne daß Gustel von den Einzelheiten, die ihr anvertraut worden waren, etwas verraten hatte, war doch Lydia ganz warm geworden, und die beiden Waldweibchen faßten die schönsten Vorsätze zu Gunsten Friederikens.

Nur daß Vorsätze weit leichter zu fassen als auszuführen sind, zumal wenn derjenige, der beglückt werden soll, seinen Nebenmenschen dies Beglücken ganz außerordentlich schwer macht.

Friederike Schauroth war noch ebenso wie im vorigen Jahr in der Villa Schering den beiden Waldweibchen überlegen, ihr übles Befinden machte ihre Zunge nicht stumpfer, sondern schien sie eher noch zu schärfen; gewöhnt, nicht übersehen zu werden, sondern ihre Umgebung zu beherrschen, reizten Herminens stolze Ruhe und Myrrhas bewegliches Regiment sie ganz besonders, aber der Wunsch, diese beiden »zu besiegen«, brachte fertig, was verständige Ueberlegung nie erreicht hätte: Friederike war allezeit dabei, wenn »die Berliner vom Wald« etwas unternahmen.

Unter dem Gesamtnamen: »Die Berliner vom Wald« begriffen die Badegäste die Bewohner des Spatzennestes und der Villa Kalkoff. Zu diesen beiden Familien gesellte sich regelmäßig der Maler Wehrmann, als Berühmtheit das Ziel mannigfaltiger Neugier, ferner ein junger Schriftsteller, der sich eine flüchtige Bekanntschaft mit Doktor Elwers zu nutze machte, und Charlotte mit ihrer Begleiterin Friederike Schauroth.

Doktor Born, der junge Schriftsteller, nannte Friederiken das böse Prinzip; aber es machte ihm Spaß, sich mit diesem bösen Prinzip herumzunecken, und als er ob seiner Bemerkung, die natürlich schnell herumgekommen war, von Myrrha zur Rede gestellt wurde, sagte er eifrig: »Gewiß, mein gnädiges Fräulein, sie ist ein Teil der Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft, nämlich: uns allesamt vor der tödlichen Langeweile bewahrt, die eigentlich naturnotwendig aus vier völlig arbeitslosen Wochen herauswachsen müßte.«

Myrrha rümpfte das Näschen. Als ob sie das nicht ebensogut verstanden haben würde, ohne Malicen, einzig mit ihrer liebenswürdigen Beweglichkeit. Aber wenn die Leute Bosheit amüsanter fanden, nun, dann konnte sie ja auch boshaft sein!

Es riß ein häßlicher Ton ein zwischen den jungen Leuten; ein Schrauben und Necken, das immer heftiger und spitziger wurde, weil jedes dem andern »über« zu sein wünschte. Dabei taten sie wohl alle, als unterhalte man sich himmlisch, aber die kleinen Häkchen saßen fest und brannten und schmerzten und machten die Scherze immer schärfer und herber.

Weit ab von diesem Gezerr hielten sich Hermine Gesterding und Hans Wehrmann, obwohl sie nicht selten unter der Jugend saßen. Täglich in frühester Morgenstunde pflegte der Maler zu arbeiten. Die Waldweibchen und ihr Ritter hatten ihn noch manch liebes Mal in seiner unkleidsamen Mütze sitzen sehen, den Pinsel quer durch den Mund gesteckt. Sowie aber »seine Gesellschaft« auf der Düne erschien, dann war auch er da in menschlicher Kleidung und menschlicher Stimmung und war immer an Herminens Seite.

»Mir scheint,« hörte Gustel eines Tages Herrn Kalkoff zu ihrem Vater sagen, »da spinnt sich etwas Ernstliches an; wir werden unsre Gesellschafterin am längsten gehabt haben. Schade, sie war so comme il faut.«

Was Doktor Elwers antwortete, hörte Gustel nicht mehr, aber was sie da erfahren hatte, war ja auch gerade genug, brennend interessant war es sogar. Gustel sprach den ganzen Nachmittag lang viel weniger als sonst, weil Augen und Gedanken nach ihres Bruders stolzem Ideal Ausschau hielten.

Uebrigens sah das Ideal gar nicht mehr so stolz aus, viel sanfter und freundlicher als sonst, wenigstens wenn es neben dem berühmten Maler saß. Alle andern Menschenkinder schienen nicht für Hermine Gesterding auf der Welt zu sein. Natürlich, so mußte es sein; es war empörend, daß Friederike sie immer wieder mit einer törichten Neckerei in die allgemeine Unterhaltung zu ziehen suchte, und Myrrha benahm sich auch »ganz unglaublich«.

Gustel begann für die beiden einzustehen; ohne daß Wehrmann und Hermine es merkten, fing sie mit ihren Kinderworten, wie mit einem Schild, die Spitzen auf, die Friederike und Myrrha gegen das Paar verschossen.

Dabei wurde sie so eifrig und traf so gut, besonders als sie Friederike mit der Weisheitseule verglich, daß diese plötzlich heftig vom Sande emporsprang, das Tuch gegen die Augen drückte und davonlief.

»Na, na, na!« rief Doktor Born hinter ihr drein. »Mein gnädigstes Fräulein, wir sagten in der Schule immer: wer austeilt, muß auch einnehmen.«

Diese Worte milderten Gustels ersten Schrecken sofort. Natürlich, Friederike hatte angefangen; und wer austeilte, der –

Da sprach ihr Vater mitten in diesen Trost hinein: »Das arme Mädchen ist böse überarbeitet, man muß ein bißchen Geduld mit ihr haben.«

Gustels Befriedigung verflog, erschrocken sah sie ihren Vater an: »Goldner Papa, jetzt war ich wohl recht abscheulich?«

»Fahrmaus warst du,« sagte Doktor Elwers und strich ihr die windverwehten Haare aus der Stirn. »Hast Herz und Ueberlegung auszupacken vergessen, kannst noch mal im Koffer nachsehen, du loser Schlingel!«

Traurig senkte Gustel den Kopf. »Ach, Papa, und das Schlimme ist, daß Charlotte mir gesagt hat, wie es mit Friederiken steht und ich es dennoch vergessen habe.«

»Kommen Sie, Fräulein Elwers,« rief Doktor Born eifrig, »und seien Sie nicht traurig, das eigentliche Karnickel war entschieden ich! Wir laufen ihr nach und holen sie wieder, und dann wollen wir heute lauter Sammet und Seide reden, damit sie weich gebettet ist.« Gustel sah den jungen Doktor dankbar an und dann liefen sie hurtig Friederiken nach; was schadete es, daß Myrrhas spöttisches Lachen hinter ihnen drein klang.

Nach Verlauf einer halben Stunde kamen die beiden mit Friederike zurück und dank Doktor Elwers' Mahnung bemühten sich nun alle, »die Nerven« zu schonen. Nur Myrrha fand »den ganzen Zustand empörend«. Sie war für niemand Hauptperson, selbst Paul, der wenigstens zum Notbehelf als Ritter gut gewesen wäre, bekümmerte sich als wohlerzogener Junge vor allem um Lydias, des Elwersschen Gastes Wohl, so daß auf Myrrha nur ein Teil seiner Dienstbereitschaft abfiel. – Von Hermine hatte er sich völlig losgesagt, die »war geschwollen, seit berühmte Leute mit ihr verkehrten«.

Trotzdem machte heute »die Gesellschaft vom Walde« einen sehr friedlichen Eindruck. Man schwärmte, Born deklamierte »Thalatta, thalatta, du ewiges Meer«, und niemand ahnte, daß auf den glücklich besänftigten Sturm ein noch viel heftigerer kommen sollte, dessen Folgen nie wieder gut zu machen waren.

Maler Wehrmann war heute auch in schwärmerischer Stimmung, er lag auf dem Rücken im Sande und sah zu Hermine Gesterding auf, von Zeit zu Zeit ein Wort sagend, eine Antwort verlangend und dann wieder geraume Frist schweigsam, in den Anblick des schönen jungen Mädchens vertieft. – »In Thüringen ist Ihre Heimat, nicht wahr?«

»Ja,« antwortete Hermine träumerisch.

»Und wie heißt Ihres Vaters Besitzung?«

»Schorfen, nahe der Leuchtenburg. Es ist wunderschön dort, fruchtbares Land und königlicher Wald.« Hermine sagte das im Tone warmer Heimatliebe.

»Ihr ältester Bruder ist natürlich auch Landwirt geworden?«

»Nein. Der Aelteste ist Großkaufmann in Indien. Und der zweite ist Referendar, erst der dritte hatte Passion für des Vaters Beruf – ohne Neigung soll man nicht Landwirt werden.«

»Jawohl,« sprach Myrrha scharf und geärgert mitten in die Unterhaltung der beiden hinein; »sonst verwirtschaftet man seinen Grund und Boden und muß froh sein, wenn man schließlich als Pächter mühsam durch die Welt kommt.«

Ein flammendes Rot stieg in Herminens Wangen auf. »Es ist keine Schande, arm zu werden, wenn man sich tapfer wieder heraufarbeitet,« sagte sie stolz, Myrrha mit einem Blick des Zornes und der Feindschaft messend.

»Du mußt doch denken, es sei etwas der Schande Verwandtes, sonst würdest du nicht deinen Vater für den Besitzer des Ritterguts ausgeben, während er ja nur der Pächter ist.«

Einen Augenblick schien es, als lähme das, was sich in Wehrmanns Gesicht ausprägte, Herminen vollständig; er starrte sie an, als sähe er ein Gespenst. – Aber sie überwand die Lähmung, sprang auf, rief heftig: » Ihr habt meinen Vater allzeit für einen Rittergutsbesitzer ausgegeben, weil ich für Euch glänzen sollte!« wandte sich ab und ging den Strand entlang nach Norden.

Aber niemand folgte ihr, wie sie wohl gehofft hatte. Wehrmann lag noch und starrte ins Leere, dorthin, wo ihm das Idealbild Herminens in nichts zerflossen war. Erst als Myrrha, ihre Verlegenheit zu bekämpfen, spöttisch in das allgemeine Schweigen hineinlachte, drehte er den Kopf zu ihr um und fragte, ein wenig langsamer als sonst: »Was wissen Sie von der Familie Gesterding?«

»O,« antwortete Myrrha, noch etwas verlegener, »es sind recht tüchtige Leute, aber sie haben Unglück gehabt; der Vater machte bankrott, mußte sein Gut verkaufen und hat sehr kümmerlich eine Zeitlang in Berlin in untergeordneter Stellung gelebt, bis ihm jemand die Kaution zu einer Pachtung vorschoß. Und Hermine? Nun, der stand das enge Leben nicht an, deshalb ging sie so schnell wie möglich ›unter die Leute‹, wie man landläufig zu sagen pflegt.«

Hans Wehrmann stand plötzlich auf den Füßen.

»Guten Abend,« sagte er und ging. Aber nicht den Strand entlang, wo aus der Ferne Herminens rosiges Kleid wie ein verwehtes Blumenblatt herüberschimmerte, sondern geradewegs nach dem Dorf zurück.

Auf dem Weg traf er Doktor Elwers, faßte diesen mit jäher Bewegung beim Arm und nahm ihn mit, in kurzen, lebhaften Sätzen auf ihn einsprechend.

Er kam auch nicht wieder, weder als der Dampfer vorbeifuhr, noch am Abend, wo ein geburtstagfeiernder Badegast ein paar Dutzend Leuchtkugeln steigen ließ und infolgedessen von sämtlichen Kindern als Veranstalter eines Volksfestes gepriesen ward. Als sie aber spät abends nach Hause gingen, sahen sie hinter des Malers beiden Fenstern Licht und konnten seinen Schatten lebhaft hin und her laufen sehen.

»Ich glaube, er packt,« sagte Lydia leise; Gustel aber rief: »Nein. Wie könnte er, wenn er sie lieb hat!«

Gleich darauf wurden ihre Gedanken durch etwas andres gefesselt. Gegenüber der »Hoffnung«, in eine Hecke gedrückt, stand Jürgen Beckers mit einem fremden Schiffer.

»Am Mittwoch,« sagte er, »bin ich zur Stelle.«

Er wird sich doch nicht wirklich verheuern? dachte Gustel und schüttelte gleich darauf den Kopf.

Wer nahm denn den grünen Burschen als Matrosen? – und sollte er jetzt inmitten der Badezeit, wo es bei seiner Mutter alle Hände voll zu tun gab, fortgehen? Das tat er bestimmt nicht, galt er doch für einen guten Sohn.

Gustel schlief schlecht ein in ihrem huschlichen Dachstübchen, und heute war der Mond nicht schuld daran, wie im vorigen Sommer in Ruhla: ihre Gedanken mischten immer von neuem Friederikens Examennöte, des Malers hastiges Hantieren, Myrrhas spöttisches Lachen und des verschollenen Beckers geheimnisvolle, letzte Seefahrt durcheinander.

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