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Berlin kommt nach Thüringen.

»Geliebtes Gustel!

Heut strotze ich von Neuigkeiten und über die eine machst Du einen Deckensprung, wenn Du noch ein Stück von der alten Gustel bist. Manchmal erlebt man doch merkwürdig viel.

Daß unser Nachbarhaus, das wir immer das ›verschlafene‹ nannten, plötzlich die Augen aufmachte, hab' ich Dir schon geschrieben; nun weiß ich auch warum. Der Besitzer, der seit zehn Jahren auf Madeira lebte, ist gestorben, und das Haus ist verkauft worden. Zuerst hat der Käufer eine greuliche Maurerwirtschaft drüben losgelassen, aber dann zog vor acht Tagen eine ganz außerordentliche Nachbarschaft ein.

Nett, weißt Du: teilweise sogar piek.

Also: unten mit alleinigem Verandavorrecht, was meine Spionenblicke manchmal bedauern, die Großmama (Kalkoff heißen die Leute): silbernes Haar, schwarzer Spitzenschleier à la Mandolinata oder Zendaletto. Piek, würdest Du schon wieder sagen. Oben der Sohn – Bankier – Mittelalter – mit Gattin und Kindern. Man sieht ihnen die Wohlhabenheit etwas zu weit an; da sie aber für Papa zu schwärmen behaupten, übe ich Duldung – auch sonst – na, Du wirst schon hören. Ein Sohn von meiner Trefflichkeit fehlt, dafür haben sie aber eine Tochter Myrrha, die über alle Vergleiche erhaben ist.

Diese Myrrha interessiert sich für Dich dank meiner verklärenden Berichte und Du wirst Dich nächste Ostern gefälligst mit ihr anfreunden. Sie hat eine Gesellschafterin – Hofdame sage ich immer – ein Fräulein Hermine Gesterding – Hermione, königlich sag' ich Dir – manchmal schwanke ich noch ganz ernstlich, ob nicht diese Hermione meinem Ideal eigentlich noch mehr entspricht, als die lustige bewegliche Myrrha.

Frida und Ida haben auch drüben über dem Zaun in Os und Ot, den beiden Knaben, sehr nette Gefährten bekommen (sie heißen Otwin und Oskar, schneidige Bengel) – aber das Schönste der Familie ist, daß sie unser Göhrener Sommerhaus gemietet haben – gleich mit Stumpf und Stiel für den ganzen Sommer – und daß wir infolgedessen in Eisenachs Nähe große Ferien halten werden – –«

 

Der erwartete Freudensprung geschah – Gustel fiel Liese und Lydia um den Hals, sie war unbeschreiblich glücklich.

Familie Elwers wollte Sommerfrische in Eisenach halten! Bängliche Gedanken an Sehnsuchtsferien, an Träume von Wellenschlachten mit Ida und Frida, denen tränenfeuchtes Erwachen folgen mußte, verdufteten wie Nebel im Sonnenschein.

Familie Elwers hier an der Seite der Villa Schering, das schien beinahe noch schöner, als es eine Heimreise gewesen wäre, denn nun würden all ihre Lieben – alte und neue einander kennen lernen.

Auch Scherings freuten sich der Ferienaussicht; sie mieteten fünf Minuten waldein eine prächtige Wohnung, und Gustel merkte kaum in ihrem Erwartungsfeuer, daß es in der Villa Schering leerer und leerer wurde. Fiel's ihr je einmal auf, so sagte sie: aber nur immer behaglicher.

Die drei Göttinnen machten mit Miß Harriet eine Studienreise nach England, Fräulein Klementine fuhr, auch Studien halber, nach Paris, Erna ging »natürlich« mit ihren Eltern in die Schweiz, »das war der einzige anständige Fleck für wohlhabende Leute, wenn man nicht etwa die Mitternachtssonne vorzog«. – Fanny schwärmte von den »Sommerfesten«, die sie in Weimar mitmachen werde; Liese Böning versprach, »überwältigende Rheinbriefe« zu schreiben.

Nur Wanda und Gustel hatten von Haus aus während der großen Ferien zurückbleiben sollen, kaltblütig betrachteten sie die »Packereiwut« ringsumher. Auch Lydia war wie im Fieber, aber um ihren Koffer kümmerte sie sich nicht. Obwohl sie am nächsten Morgen mit Fanny abreisen sollte, gähnte er noch jeden, der ihm einen verwunderten Blick gönnte, in grauenvoller Leere an. – Täglich hatte Lydia in der letzten Zeit nach Hause geschrieben, aber vergeblich bisher auf Antwort gewartet.

Endlich, endlich am Nachmittag kam der Postbote die Landstraße daher gewandert, zwei Briefe in der erhobenen Hand. Er wußte schon, daß in der Villa Schering allezeit briefhungrige junge Herzen auf sein Erscheinen warteten. Lydia flog an das Gatter, riß ihren Brief auf und jubelte: »Ich darf! o, ich darf! ich bin selig!«

»Was darfst du denn?«

»Dableiben! Einzige Herzensgustel, dableiben! Da ist Vaters Brief an Herrn Professor mit Anfrage und Erlaubnis – ich bin zu froh!«

Gustel sah Lydia kopfschüttelnd an; sie begriff die Gefährtin wieder einmal ganz und gar nicht.

»Sehnst du dich denn kein bißchen?« fragte sie leise; ihr war zu Mute, als hätte sie bis Weihnachten ohne diesen Ferienbesuch der Eltern gar nicht in der Fremde aushalten können. »Ich an deiner Stelle hätte gewiß nicht ums Hierbleiben gebettelt.«

In Lydias Gesicht gab's ein Kämpfen und Zucken, Tränen wollten ans Licht, wurden aber besiegt; stoßweis in kurzen Tönen antwortete sie: »Ja, du! du natürlich. Ich aber, ich soll unter Knechte und Mägde, und Mutter bärmelt den ganzen Tag um die gräßliche Mühle, und Vater brummt darüber, daß ich keine Lust an der Landwirtschaft habe. Ich – ich sehne mich schon auch, aber es ist nicht schön zu Hause – und – ich – ich muß deine Eltern kennen lernen.«

Gustel schüttelte den Kopf. Um ihre Elwers-Eltern kennen zu lernen, blieb Lydia hier? Nun ja, das war gewiß der Mühe wert – aber sie wäre um keiner Prinzessin-Eltern willen von zu Hause fort geblieben. – Und die gräßliche Mühle? – Sie dachte an Herrn Karl Mehlmann, den Paten der Tante Rickwitz, der so freundlich gegen den verlegenen Backfisch gewesen war – und schüttelte den Kopf noch einmal: Müller waren etwas sehr Nettes – wenn Herr Krafft von der Holkmühle zu Holkwitz ihr Papa gewesen wäre, sie würde schön geprahlt haben mit dem rauschenden Wasser und dem unentbehrlichen Mehl, von dem des deutschen Volkes Wohl abhinge, und Müllerlieder hätte sie gesungen von früh bis spät.

»Ich hört' ein Bächlein rauschen,« begann sie unwillkürlich, und da eben Fräulein Charlotte nach der Eiche kam, unter der sie mit Lydia diese Zwiesprach zum hundertstenmale gehalten hatte, sprang sie auf und sang ihrem Schwarm entgegen:

»Eine Mühle seh' ich blinken
Aus den Erlen heraus,
Durch Rauschen und Singen
Bricht Rädergebraus.
Ei willkommen, ei willkommen
Süßer Mühlengesang!«

Charlotte strich Gustel lächelnd über das Haar, das bei dem ungestümen Lauf in nicht geringe Unordnung gekommen war.

»Was ist das für eine Mühlenschwärmerei? Der Wildfang ist ja ganz losgelassen.«

»Wonne ist's, Fräulein Charlotte – Wonne – bald kommen sie an! Und für Mühlen schwärme ich wirklich sehr und will Lydia bekehren, die sie entschieden nicht hoch genug achtet – aber es ist all mein Mühen umsonst. Wenn ich nur einmal Herrn Karl Mehlmann da hätte, damit er ihr sagen könnte, was das für eine schöne Sache um die Müllerei ist.«

Lydia wurde flammendrot und Fräulein Charlotte sagte langsam: »So? Karl Mehlmann soll die Müllerei verteidigen? Wohl, weil du selbst noch gar keine Mühle gesehen hast, kleine Stadtpflanze.«

»O!«

Gustel besann sich schnell. »Die berühmte Mühle Friedrichs des Großen bei Sanssouci, die hab' ich doch gesehen und – und – im zoologischen Garten eine, wo weiße Mäuschen anstatt des Windes die Flügel drehten.«

»Das ist mir das Rechte,« neckte Charlotte, »von Wassermühlen singst du und an Windmühlen denkst du!« Als sie aber Lydias Gesicht plötzlich traurig werden sah und die leisen Worte hörte: »Siehst du, Gustel! Fräulein Brant hält auch die Müllerei für etwas sehr Untergeordnetes!« da antwortete sie lebhaft: »Behüte, Lydia, welch ein törichter Gedanke – es gibt überhaupt keinen untergeordneten Beruf; nur wie die Leute, die ihn innehaben, ihre Pflicht erfüllen und ihren Stand schätzen, das gibt ihnen Wert und Würde: ein tüchtiger Müller, voll Stolz auf seine Arbeit, ist weit mehr aller Ehren wert, denn ein vornehmer gelehrter Herr, der möglicherweise gar nicht an die Weisheit glaubt, die er der Welt verkündet, und seinen Beruf versieht ohne Lust, Liebe und Fleiß.«

Lydia senkte den Kopf und schwieg, heimlich aber dachte sie: »Ja, so steht's in den moralischen Büchern, im Leben aber ist's doch anders und Gustel Elwers ist bloß eine Ausnahme, und wenn sie meine Eltern kennte, würde sie wohl auch noch zehnmal andrer Meinung werden, denn ein Karl Mehlmann ist Vater eben noch lange nicht.«

Wenn Charlotte mehr Zeit gehabt hätte, würde sie allerlei von diesen Gedanken aus Lydias Gesicht heraus gelesen und beantwortet haben; sie kam aber um besonderer Angelegenheit willen. Ehe Lydia nur hätte antworten können, hatte sie sich schon zu Gustel gewendet und sagte: »Kind, ich muß morgen abreisen.«

Gustel sah sie entsetzt an. »Und meine Eltern,« stammelte sie. Dann fügte sie hastig hinzu: »Nur auf ein paar Tage? Nicht wahr, nur auf ein paar Tage reisen Sie fort? Die Eltern freuen sich doch so auf Sie – und –«

»Und ich freute mich auf deine Eltern, Herzenskind, aber ich muß dennoch für die ganze Feriendauer nach Teplitz.«

»Nach Teplitz! so weit! und die ganzen langen Ferien lang? Und ich kann nichts abbetteln?«

Charlotte strich Gustel tröstend übers Haar, aber sie schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt nichts abzubetteln. Du weißt, Tante muß nach Soden, sie soll etwas Ernstliches für ihre Kehle tun – Onkel wollte mit ihr gehen als Schlenderbadegast. Seit acht Tagen aber mahnt sein Rheumatismus und heute wurde der Arzt energisch. Onkel muß nach Teplitz – da er aber nicht allein reisen darf, wenn die Kur helfen soll, muß ich ihn begleiten.«

Gustel senkte hoffnungslos den Kopf, natürlich, da ließ sich nichts abbetteln – was sein mußte, mußte sein. Nachdem sie aber fünf Minuten lang den Kopf gehängt hatte, kam das Stehaufchen in ihr wieder auf die Beine.

»Liebes, süßes Fräulein Charlotte, wann werden Sie nun meine Eltern kennen lernen? Haben Sie sich das schon ausgedacht? Vielleicht Weihnachten in Berlin?«

»Weihnachten will ich in Rom sein, Kleine, aber wie wär's mit den nächsten Hundstagsferien?«

»Dann müßten Sie nach Göhren kommen.«

»Nun, warum nicht, ich war ohnehin noch nie auf Deutschlands größter Insel.«

Fräulein Charlotte wurde beinahe erstickt, erst vom Dankbarkeitsglück und dann vom Abschiedsschmerz.

Es war ein Jammer, daß Fräulein Charlotte reiste, aber die wonnige Wiedersehenshoffnung war stärker als alles. Gustel durfte an Empfangsvorbereitungen denken und die Ferien wurden, trotzdem Charlotte fehlte, ganz so schön, wie himmelstürmende sechzehnjährige Phantasie sie sich ausgemalt hatte. – Vom ganzen Rest der Villa Schering wurde eines schönen Nachmittags die Familie Elwers am Bahnhof abgeholt. Nur Fräulein Lisbeth war zurückgeblieben, denn die Reisenden sollten ihren ersten Kaffee in Gustels Speisesaal genießen. – Nach dem stürmischen Willkommen, das nicht nur Gustel aus einer Umarmung in die andre wirbelte, sondern auch die Geschwister vollauf beschäftigte, ließ Paul seine »Kennerblicke« über die Fischchen schweifen. – An Gustels Arm trabte er dahin und sprach: »Diese Lydia macht Zimmet.«

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»Ein armer Reisender bittet um gütige Unterstützung.«

»O du! schon lang nicht mehr so viel wie Ostern, sie verlernt es mit der Zeit gewiß noch ganz.«

»Bis dahin warte ich also mit meiner Verehrung, die andre –«

»Wanda Bodmer, Münchnerin.«

»Schön – aber ledern – sagt ja gar nichts! Klappert bloß.«

»Was?«

»Klappert mit den Augen.«

Gustel richtete sich ganz gerade auf. »Ich will dir etwas sagen, Paulemann. Wenn du als Primaner etwa übermütig sein willst, so irre dich nur nicht! In der Villa Schering sind wir Frauen die Hauptsache und Professor Schering ist unser starker Ritter.«

Paul blinzelte schalkhaft: »So? Also einen Ritter braucht ihr doch noch im Amazonenreich? Freut mich! Ich empfehle mich hiermit zu jedem Ritterdienst, außer solchen, bei denen man gähnen muß.« – Er machte auf einmal lange Schritte, so daß er Wanda und Lydia einholte, verbeugte sich sehr tief und sagte: »Ein armer Reisender bittet um gütige Unterstützung; er findet sich in den Wundern Eisenachs nicht zurecht. Könnten nicht Sie die freundwilligen Erklärer und Verklärer dieser westthüringischen Herrlichkeiten machen?«

Wanda kicherte in sich hinein, wie ein Schulkind, das sein Pläsir vor dem Lehrer verbergen will, Lydia sah dem hübschen Berliner Jungen mißtrauisch in die blinkernden Augen und Gustel sagte schnell: »Mit solchem Uebermut muß ich nun auskommen! Aber jetzt versucht ihr es einmal – Herz gut, Zunge locker, Rede selten ernst zu nehmen.«

Husch war sie umgekehrt und flog zu den Eltern zurück, die mit Professor Schering langsam der jungen Schar folgten. Ida und Frida hatten natürlich die Spitze dieses Zuges und Mausi wurde als letztes dicht vor Mama von Frau Bewermann, der Wärterin, würdevoll dahingetragen.

»Halt, halt!« rief Professor Schering lachend, als der zierliche Sturmwind außer Atem bei den Eltern ankam. »Wir müssen uns wirklich wieder einmal nachdenklich vor die Graziensäule stellen, damit wir dem Wahlspruch der Villa Schering keine Schande machen.«

Gustel hing sich in Anbetracht des außerordentlichen Tages, nur ein ganz klein wenig beschämt, an Mamas Arm. Wollte sie doch weder dem Wahlspruch, noch überhaupt der ganzen lieben Villa irgend welche Schande machen – aber heute – heute schien die ganze Welt vor Vergnügen zu springen, da sprang Gustel mit.

Kinderleicht war es freilich, jetzt an Mamas Seite ganz ruhig zu wandern und zuzuhören, wie Papa seine Ferienpläne entwickelte.

Zunächst ruhige Wochen im Bereich der Villa Schering. Dann eine kleine Fußtour nach Oberhof und der Schmücke, bis Ilmenau etwa – herrlich! – und als darauf Professor Schering plötzlich Lust zeigte, mit »seinem Rest« auch dabei zu sein, hüpfte die Erde schon wieder bedenklich.

Beim Kaffee in der Villa gab es Plätzchen und Brezeln, die Gustel am Tag vorher bei zwanzig Grad im Schatten, noch überfeuert durch brennenden Ehrgeiz, im Schweiße ihres Angesichts gebacken hatte.

»Himmlisch, Gustel,« lobte Paul, der neben »seinem« Backfisch saß, »da kannst du ja beinah heiraten!« Wozu Gustel das erhabene Näschen machte, das sie als Schutzwehr gegen allzuschlimme Neckerei erprobt hatte. Außerdem aber flüsterte sie dem Bruder auch noch ins Ohr: »Paulemann, sei brav! Wir sind heute nicht unter lauter Elwersen, mach mir Ehr' und laß uns unsre Ehr'.«

Von da an benahm sich der Primaner-Uebermut musterhaft.

Ach und wie war Gustel zu Mute an diesem Tisch, den sonst Fische, Göttinnen und Parzen umkreisten, jetzt Papa und Mama, Ida und Frida, ja sogar das Kleine auf der Wärterin Schoß zu sehen. Familie Elwers triumphierte über alles andre. Fräulein Lisbeth war freilich süß, und Professor Schering war eben Professor Schering:

»Aller edeln Seelen Schwarm«,

wie Fanny gedichtet hatte. Aber außerdem gab es eben jetzt nur noch Mademoiselle, und die Hitze machte Mademoiselle noch bequemer als sonst – o Madame Elfers, comme c'est charmant, comme je suis enchantée de vous voir – Maman de notre jolie Bébé Auguste.

Gustel wäre beinah gegen jolie Bébé als gegen eine Verleumdung Sturm gelaufen, bezwang sich aber im Angedenken an alle übrige Wonne und freute sich nur, daß Mademoiselle fürderhin »in Schweigen und Kaffee versank«.

Wanda und Lydia waren »lieb«. Wanda fand so viel Gefallen an dem Primaner, daß sie zwischen dem fünften und sechsten Plätzchen beinah einen Witz gemacht hätte, und Lydias Augen sprachen von so unverhohlener Bewunderung, wenn sie Mama Elwers betrachtete, daß Gustel nahe daran war, ihr inmitten der großen Versammlung einen Kuß zu geben.

Nur Friederike paßte nicht recht in den »Wonnekreis«; Friederike, die um ihrer Arbeit willen jegliche Art von Ferien verschmähte und Fräulein Klementine, heißen Dankes voll, die Hand geküßt hatte, als diese ihr anbot, auch den Juli über in der Villa Schering zu bleiben.

Sie hatte ja auch eine Einladung zum Vormund erhalten, gewiß, er war ein gutmütiger Mann, der seinem knappgestellten Mündel billige Erholung gönnte. Nur war sein Gaststübchen kein Ort, um sich zu erholen. Eingedrängt lag es zwischen dem Wohnzimmer, das fünf Buben in Arbeit, Kampf und Spiel bevölkerten, und dem Musikzimmer, in dem die älteste Tochter Klavierunterricht erteilte – ganz kleinen Anfängern, fünf Stunden des Tags die C-dur-Tonleiter unverdrossen auf und ab.

Zwischen diesen beiden Räumen konnte man nicht arbeiten, das letzte Mal hatte Friederike schon immer vorher ganz genau gewußt, wenn drüben im Musikzimmer der Daumen untergesetzt werden mußte – das gab allemal einen kleinen Ruck, der glatte Lauf der Töne wurde unterbrochen, ein Seufzer erklang, und unermüdlich begann aufs neue der Marsch von einem zu dem andern C.

Es war ja bewunderungswürdig, daß die Cousine nie die Geduld verlor, gewiß; aber die wußte doch warum! Sie wirkte in ihrem Beruf und hatte dazu noch das angenehme Gefühl, der Eltern Haushalt mit wohlverdientem Geld zu unterstützen – Friederike aber saß daneben mit einer ungelösten Gleichung, oder einem schwierigen Aufsatz, die beide helfen sollten, sie ihrem künftigen Beruf erst zuzuführen – nein, Friederike hatte keine Geduld mit den ungeschickten Fingern und den zerrissenen Tonleitern, die sie immer unliebenswürdiger und nervöser machten.

Unsäglich glücklich war sie deshalb gewesen, als die Villa Schering ihr den Ferienaufenthalt anbot – sie hatte von Fleiß und Stille geträumt und auf Professor Scherings Hilfe und Lob gehofft, als werde er ganz allein für sie auf der Welt sein. Nun liefen plötzlich Kinderfüße durch den heiligen Raum, ein Getrippel und Getrappel, ein Gekicher und Geschwatze füllte die Luft – ihr wurde heiß und angst um ihre Arbeit, und die schmalen, etwas elenden Züge verschärften sich immer mehr, je höher die Ferienstimmung der andern stieg.

»Na, weißt du,« sprach Paul, als Gustel ihm nach dem Kaffee ihr Beet zeigte, auf dem seit acht Tagen Erdbeeren für die Geschwister geschont wurden, »die ganze Villa Schering ist piek, welch schönes Wort ich heute noch gar nicht von dir vernommen habe, gebildetes Schwesterlein – aber –«

»Angewöhnte Redensarten befördern die Gedankenlosigkeit, sagt Fräulein Klementine.«

»So? Sieh mal an. Unterbrechung der Rede schadet dem Stil. Ich wollte sagen: die eine von euch Fischen, die lange, dünne, hornalt Aussehende – die könnte mir gruselig machen, wenn ich ein Spatz im Erbsenfeld wäre.«

»Nicht wahr?« rief Gustel eifrig. »Sie ist auch schon siebzehn und ist unheimlich gelehrt – dafür nennen wir sie aber den Schaurig.«

»Was?« sagte Paul, den Mund vor Vergnügen beinah bis zu den Ohren ziehend.

»Schaurig! Sie heißt Friederike Schauroth, daraus haben wir Schaurig gemacht.«

»Ihr seid ja lebensgefährliche Gören,« rief Paul, lachte aber so unaufhaltsam, daß Gustel die lebensgefährlichen Gören wie ein ehrenvolles Lob erschienen.

Ehe sich Paul wieder gefaßt hatte, richtete sich eine Gestalt vom nächsten Spargelbeet auf. Sie waren nicht allein gewesen, die Geschwister Elwers, Kellermann hatte ihnen zugehört; er klopfte oberflächlich die Erde von den grauen Hosen und der blauen Schürze, strich die Hemdärmel glatt und kam langsam heran.

»Nein, Fräuleinchen,« begann er, »mit Verlaub, das sollten Sie nicht sagen. Sie sind so ein niedliches Mädchen, un handlich un fleißig un busselig, un ich habe Ihnen ins Herz geschlossen; aber so was müssen Sie nich tun. Ich weiß schon, Sie meinen's nich bös, denn Sie haben ein gutes Gemüt, was kein Pflänzchen nich umkommen läßt – un es kommt nur von wegen der Unbesinnlichkeit un Redebegabung – aber man soll's nie nich tun! denn einem Menschen sein ehrlicher Name is sein ehrlicher Name, und den soll man nich verpfumfeien; er is ein Kleid, das keiner nich ausziehen kann, muß sauber bleiben und unvernarreteit das Leben lang. Schaurig – hm – ja – ich gebe zu, es is gewissermaßen 'ne Charakteristik, un es stimmt auch, indem sie ihr Beet heuer ganz brach gelassen hat – die schöne Gotteserde ganz brach! – aber – für hübsch und recht ästimiere ich's doch nich, un nennen täte ich ihr lieber anders.«

Gustel war während dieser langen Rede des alten Kellermann dunkelrot geworden; da stand Paul und hörte die Predigt an, und sie gab überhaupt nicht gern jemandem recht, sie hatte immer gar zu gern das Rechte selber zu allererst gewußt; am allermeisten einem alten Gärtner und Faktotum gegenüber, der wie ein Höhlenbär aus dem Spargelgraben gekrochen kam. Aber sie konnte nicht anders, was er sagte, bezwang sie, und schließlich war sie doch ganz allein schuld, wenn der alte Kellermann besser wußte was recht und gut war, als Gustel Elwers.

Sie streckte ihm die Hand hin. »Nicht böse sein, Sie haben recht; gedankenlos war's und gar nicht hübsch, und ich will sie nicht wieder so nennen.«

Der Kellermann fing sich die kleine Hand, die der Sommer in der Villa Schering ganz braun gebrannt hatte, zwischen seine beiden rauhen Gärtnerfäuste ein und klopfte sie kräftig, während ein Ausdruck gerührter Zärtlichkeit sein runzliges Gesicht erhellte.

Als Paul nachher, vor der Graziensäule stehend, den Alten einen famosen Kauz nannte, dachte Gustel natürlich: und der wird Kellerwurm genannt. Aber sie sagte es nicht, wenn es auch noch so schön paßte, gerade heute, wo er sich die tiefen Spargelgruben entlang wand wie ein Regenwurm; – das würde sie ihm und seinem ehrlichen Namen nun nie wieder antun – er hatte recht, der alte Gärtner, mit dem sie zwar allezeit recht »nett« gewesen war, dessen wunderlich barockes Wesen sie aber doch weit, weit zu übersehen gemeint hatte.

»Süße Mama,« flüsterte sie am Abend, da sich die Sommerfrischler und die Bewohner der Villa Schering trennten – »manchmal habe ich mich gründlich gesehnt, und daß ich mich jetzt zur andern Partei schlagen muß, kommt mir sehr merkwürdig vor, aber man lernt ungeheuer viel da drüben, ungeheuer viel! Alles will einen erziehen vom Professor an über Fräulein Lisbeth und Kellermann bis zu den Steinen herab – alles redet dem lauschenden Ohr.«

»Und geben die kleinen Ohren auch acht, meine Gustel?« fragte Mama, den Kopf des Töchterchens zwischen die schlanken Hände nehmend.

Gustel nickte – Tränen stiegen in ihren Augen auf und sie sagte leise: »Weißt du, Mama, ich war sonst immer schrecklich zufrieden mit mir; so von draußen sieht die Welt aber ganz anders aus.«

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