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»Wißt ihr schon! Wißt ihr schon?« ging es am Nachmittag unter den Badegästen auf dem Strand hin und her, »das Sturmzeichen ist aufgezogen, der Dampfer kann nicht ausbooten, die Ankommenden müssen bis zur Saßnitzer Landungsbrücke hinüberfahren.«
»Ach, die armen Menschen, wie gräßlich!«
»Warum denn? Dort ist's herrlich bequem, da können Waldweibchen ohne alles Herzklopfen ans Land kommen,« meinte Paul.
Lydia hätte das Herzklopfen gern bestritten, aber so geradezu lügen wollte sie doch auch nicht und heute, bei »dem herrlichen Wind«, hatte sie noch mehr ängstliche Hochachtung »vor der großen Badewanne« bekommen. Ins Wasser war überhaupt nur Gustel gesprungen und auch sie war mit wenigen andern, »Russen« benannten Damen dicht am Strand geblieben; über die Bretterbrücke hinaus, nach dem eigentlichen Badeplatz, hatten die Waschfrauen, wie Ida die Badefrauen nannte, heute niemand gelassen.
»Lat se man ja nich versupen!« hatte der Lotse gesagt, der die äußersten Bretter vor den Sturmwellen barg.
Paul hatte sich nach dieser Zwiesprach von den Waldweibchen getrennt, denn er ging natürlich auch ins Wasser und behauptete nachher wie Gustel, es sei »einzig« gewesen; was Lydia sich durchaus nicht vorstellen konnte.
Ja zu Haus, im Mühlgraben, wo das Bretterhäuschen stand, unter dem das Wasser noch leise bewegt wurde von den Schlägen des großen Schaufelrades, da badete sie gern – aber hier in der freien Luft, wo die Sonne blendete und ein Schock übermütiger Menschenkinder durcheinanderlachten und lärmten?
»Wart nur, das lernt sich! Wonnig! Wonnig! Wonnig!« tröstete Gustel, als sie mit triefendem Haar nach Hause rannte, wo Frau Bevermann sich kopfschüttelnd dieses »nassen Pelzes« annahm, während sie Mausi Schnurren erzählte vom Seepferdchen und dem Fräulein Pfahlmuschel, das dem Seepferdchen nachgereist war und sich dabei verschwommen hatte und nun den Weg zu seinem guten, alten Pfahl bei Swinemünde nicht wieder fand.
»Is sie mit unsern Schippchen hergeschwommen?«
»Freilich; sie hat Mausi lachen hören und konnte nicht anders, sie ist immer hinter Mausi hergeschwommen und nun werfen sie die Wellen am Göhrnerstrand hin und her und da weint sie schon die ganze Nacht, wovon es immer mehr Wasser wird, und hört nicht auf, denn da ist keine Lachmausi mehr und der gute, alte Pfahl, an dem sie sich ausruhen möchte, ist auch himmelweit.«
»Hab' ich den ganzen Weg gelacht?« fragte Mausi nachdenklich.
Natürlich. Mausi hatte gelacht, und lachte jetzt wieder am Strand, wo Ida und Frida mit Os und Ot ein Sandschloß bauten, das mindestens die ganzen Ferienwochen hindurch stehen bleiben sollte: fest und unerschütterlich.
Da wurde plötzlich die Nachricht von dem Mißgeschick des Dampfers ringsum erzählt.
»Paulemann,« rief Gustel, »komm flink mal her und sieh nach dem Höwt hinaus, dies Zeichen heißt doch: Südstrand?«
»Natürlich. Das Schiff kann nicht hier im Ostwind halten, aber am Südstrand werden die Fischer die Fahrt unternehmen. Ach, kommt, kommt schnell mit nach dem Südstrand, das wird großartig!«
Die drei eilten zu den Eltern, die in ihrer bretternen und tannenumgrünten Schutzlaube saßen. Auch hier in der langen Reihe der Bretterlauben, deren eine die andre stützte, war Herr Kalkoff Doktor Elwers Nachbar, und die Herren hatten sich's nebeneinander im Sande bequem gemacht.
Neben ihnen lag Myrrha und durchsiebte mit den feinen Fingern den Flugsand auf Meereswunder.
»Da guckt mal, ich hab' ein Stück Bernstein!«
Sie hob die Hand, auf deren rosiger Fläche ein winziges Stück des goldigen Edelharzes lag. Als sie aber hörte, was die drei beabsichtigten, sprang sie auf, warf den Fund in den Sand zurück und rief eifrig: »Ich komme mit, heute gibt es gewiß hundert Prozent Seekranke.«
Lydia fand die Bemerkung herzlos. Kein Waldweibchen würde so etwas gesagt haben, und das war nun Paul Elwers' Ideal!
Paul sah sich eben jetzt nach dem zweiten Ideal um: »Wo ist denn –?« – »Dort!« antwortete Myrrha, mit etwas spöttischem Lächeln seiner Frage zuvorkommend, »fliegen Sie hin und holen Sie unser ›Bild ohne Gnade‹, sie ist heute vollständig in Kunst und Größe versunken.«
Paul hörte nicht, was nach dem »holen Sie« noch kam, er eilte schon zu den geborgnen Booten, bei denen Fräulein Gesterding, ruhig hinaus übers Wasser blickend, neben einem Herrn stand.
»Mein gnädiges Fräulein,« rief er atemlos, »ich soll Sie holen, wir wollen nach dem Südstrand.«
Hermine wandte den Kopf, fast unmerklich nur, zu Paul Elwers hin: »Lassen Sie sich nicht stören, vielleicht komme ich nach.«
Der Herr aber rief: »Ei, seht doch! Primaner Waldmann.«
Und Paul schwenkte auch vergnügt seinen Strohhut, verbeugte sich und antwortete: »Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen, Herr Beinah-Böcklin.«
»Sie kennen sich?«
»Nein. – Wenigstens nur in spukhafter Beleuchtung. Unsre Gesellschaftsbekanntschaft könnten Sie ja jetzt vermitteln. Denn mit dem Namen: Beinah-Böcklin möcht' ich nicht gerade auf die Nachwelt kommen.« Dabei lachte der Maler und gar nicht in den Knurrtönen, die er am Morgen bei der Arbeitsstörung zu hören gegeben hatte.
Fräulein Gesterding rümpfte ihr schlankes Näschen ein ganz klein wenig, dann stellte sie vor: »Unser Nachbar, Herr Elwers aus Berlin, Herr Professor Hans Wehrmann.«
»So, nun kennen wir uns also zweimal und nun lassen Sie sich von uns langsamen, älteren Herrschaften nicht aufhalten, dort winkt man Ihnen, wir zwei kommen nach, fein sacht und beschaulich.«
Einen Augenblick zögerte Paul noch, da das Ideal aber nicht den kleinsten Blick für ihn hatte, folgte er dem Winken und eilte zur Jugend.
Es waren viele der Badegäste auf dem Weg nach dem Südstrand, auch die Fischer stapften schon mit ihren schweren Wasserstiefeln auf dem schmalen Fahrweg hinab zum Ufer. Hier war es sonst sehr still; steinig und rauh schob sich das Land bis ans Wasser hinan; eine wohltätige Gräfin hatte dort für Invalide ein Schifferheim erbaut, und die alten, schlottrigen Gestalten, die sich nach dem altgewohnten Strand schleppten, um da, still in der Sonne sitzend, ihr heimatliches Wasser zu sehen, waren sonst die einzigen Menschen, die man hier zu finden sicher war.
Die flinken Füße der ungeduldigen Jugend überholten Jens Sture, der, die Pfeife im linken Mundwinkel, bedächtig nach dem Landeplatz am Südstrand wanderte.
»Das gibt wohl schlechte Arbeit heute?« fragte Paul, und Jens Sture, der den Kurfremden gegenüber den tauben Mann zu spielen pflegte, antwortete freundlich; denn das war Doktor Elwers sein Junge, und Doktor Elwers wurde für einen halben Mönchguter gerechnet.
»Es werden nich veel kommen, Herr Paul, manch eine Landratte, die booten wollte, krigt dat all mit de Bangnis un kommt lever morgen von Saßnitz dal.«
Als sie aus der kleinen, buschigen Hohle, in die der Feldweg endete, auf den Strand traten, kreuzte draußen schon der Dampfer; richtig hatte er nur einen Wimpel aufgezogen, und das eine Boot, nach dem der Wimpel rief, war bereits unterwegs mit Jürgensen, dem Lotsen, an Bord; hoch hinauf schoß es auf den Wellenkämmen und dann scharf wieder hinunter.
»Famos!« rief Paul. Lydia pries heimlich ihr gutes Glück, das sie nicht heute auf den Dampfer da drüben geführt hatte.
Jens Sture, dem obgelegen hätte, das zweite Boot hinüber zu rudern, hatte nun nichts zu tun, stellte sich behaglich und breitbeinig in den Sand, steckte die Hände in die Rocktaschen, zog kräftig an seiner Pfeife und verfolgte den Lauf des kleinen, schwanken Fahrzeuges.
»Süh man, twee Frugenslüd!«
Nun sah auch Gustel, daß dicht an der Falltreppe des Dampfers zwei Damen standen, augenscheinlich auf das nahende Boot wartend. Jetzt zogen die Schiffer schon die Ruder ein, der letzten Welle das Antreiben an den Dampfer überlassend, der majestätische Verbeugungen zu machen schien; nun waren sie dicht an der Breitseite, die Falltreppe schlug herab und die beiden Frauengestalten schickten sich zum Abstieg an. Es sah lebensgefährlich aus, der Dampfer stieg und fiel, das Boot tanzte wie ein Kork, unten stand breitbeinig der eine Schiffer und streckte die Arme aus – die erste der Damen betrat entschlossen die Treppe, wurde aufgefangen und saß unten, ehe Gustels Schrei: »das ist Charlotte!« verhallt war.
Lydia ließ die Hände, mit denen sie sich die Augen zugehalten hatte, sinken und starrte Gustel entsetzt an. »Nein, o nein,« stammelte sie und ihre Zähne schlugen gegeneinander. »Gustel – sie werden ganz bestimmt ertrinken.«
Noch immer stieg und fiel der Dampfer, noch immer tanzte das Boot, noch immer saß nur ein Badegast auf der schmalen Bank; aber Lydia war ein bißchen kurzsichtig, für sie war die zögernde Gestalt dort an der Falltreppe nur ein verschwimmendes Püppchen.
»Na man to!« sagte Jens Sture ärgerlich und warf die Pfeife in den andern Mundwinkel. Als nun aber der Steward des Dampfers die Zögernde packte und dem Schiffer hinabschob, während ihn selbst wieder oben einer an dem Jackenschoß hielt, rutschte Jens Stures Pfeife wieder zufrieden auf ihren gewohnten Platz zurück.
» Well,« sagte er, und da sie gleichzeitig drüben mit scharfem Stoß vom Dampfer abgekommen waren, wandte er sich vom Wasser weg zu Gustel.
»Gut Freund?« fragte er.
Sie nickte, ohne den Blick vom Boot zu wenden. »Ja, ja, sie ist's, ganz bestimmt – ich werde doch Fräulein Charlotte kennen!«
»Die Erste?«
»Natürlich die Erste!« Gustel hatte nach der Zweiten überhaupt nicht mehr gesehen, nachdem sie Charlotten zu erkennen meinte.
»Die Erste hat Mumm,« sprach gelassen Jens Sture, womit er vermutlich andeuten wollte, daß er das Fräulein dort im Kahne für sehr beherzt halte.
Im selben Augenblick schrie Lydia auf; eine Welle war dem Boote nachgekommen und hatte ihre Schaumkrone über die Insassen ergossen.
»Sie ertrinken!«
Jens Sture lachte mit beiden Mundwinkeln. »Nee, nee, min lütt Dearn. Nu versupens all nich mehr.«
Und Paul setzte der unwissenden Landratte eifrig auseinander, daß einzig Gefahr sei, solange das Boot am Dampfer liege, weil dabei das kleine Ding leicht unter das Schiff geraten könne.
Jens Sture hatte recht, das Boot flog ungefährdet Welle auf, Welle ab und legte mit einem gelinden Stoß an der kleinen Brücke an.
Gustel stand schon oben zwischen Gischt und Schaum. »Charlotte,« rief sie jauchzend, »herzliebstes Fräulein Charlotte! ich habe Sie gleich erkannt!«
Dabei zog sie die über und über Durchnäßte nach dem Strand und umarmte sie zwei-, drei-, viermal.
»Halt, halt, Liebling! laß mich zu Atem kommen und so schnell als möglich uns alle beide in trockene Sachen. Weißt du, wo die ›Hoffnung‹ steht? Dort habe ich Wohnung bestellt.«
Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als Jürgen, Frau Beckers Sohn, schon mit einem Karren für die Sachen herbeikam. Heute hatte man die Koffer der Damen gleich mit in das Personenboot genommen, so war alles bei der Hand, und im Vorwärtslaufen begrüßte Fräulein Charlotte Lydia und Paul, den sie sofort als Gustels Ritter vom Anhalter Bahnhof wieder erkannte.
Gustel aber stand vor der zweiten der Angekommenen mit einem Herzen, das ganz und gar nicht voll Liebe war.
»Guten Tag, Friederike,« sagte sie langsam, »du bist wohl seekrank?«
Friederike Schauroth sah so aus, daß man dies wohl denken konnte: grüngrau von Farbe, hager und faltig; braune Schatten lagen breit um ihre Augen.
Sie merkte auch gar nichts von dem Zögern, mit dem Gustel sie begrüßte, so viel Mühe machte es ihr, ihre Glieder den Hang hinauf nach dem Dorfe zu bringen. Unwillkürlich griff Gustel zu. »Komm, gib deine Tasche und häng dich ein.«
»Du bist sehr freundlich. Seekrank war ich nicht, wir landeten noch gerade im rechten Augenblick; aber es war gräßlich, die elenden Nerven halten gar nichts mehr aus.«
»Wenn man ein Angsthase ist, hat man natürlich Nerven,« dachte Gustel, schwieg aber, während Friederike, bleischwer auf ihren Arm gestützt, bergan keuchte und dabei in abgebrochenen Worten herausstieß: »Du, du siehst gesund aus, zu gesund beinah; natürlich! und dabei fällt dir die Sommerfrische, die andre so nötig hätten, in den Schoß.«
»Du bist ja nun auch da,« sagte Gustel gelassen, worauf Friederike etwas Unverständliches brummte.
Villa Hoffnung stand gerade da, wo der Querweg vom Südstrand in die Dorfstraße einmündete, und Frau Beckers sah schon nach ihren Gästen aus, froh, daß der Wind sie ans Land gelassen hatte.
Mit allerlei bedauernden Ausrufen wurden sie in die hübschen einfachen Zimmer gebracht. Frau Beckers mußte heizen, Paul wurde um Tee zum Krämer nebenan geschickt und Gustel rannte hilfreich hin und her, während Charlotte trockene Sachen auspackte, von Zeit zu Zeit ihrer jungen Freundin eine Umarmung gönnend.
Als das Feuer prasselte, der Tee brodelte, die Kleider in Reih und Glied lagen, hieß es: »So, nun geht meine kleine Enthusiastin nach Haus; wenn Friederike warm im Bette steckt, sag' ich im Spatzennest guten Abend, Jürgen Beckers zeigt mir den Weg. Ja, ja! ich komme ganz gewiß und nun auf und davon!«
Friederike hatte all die Zeit über, ohne sich zu rühren, in einem Sessel gehockt, sie sagte kaum adieu, geschweige denn schönen Dank, als Gustel davon ging. Unten am Haustor lehnte Lydia.
»Ich warte auf deinen Bruder,« sagte sie sehr eilig, »er benachrichtigt Fräulein Kalkoff.«
Myrrha hatte sich, sowie sie merkte, daß da Bekannte anlangten, zu andern Badegästen gesellt und kam nun mit denen langsam zum Dorfe herauf.
Paul war ihnen entgegengelaufen, um seine Treulosigkeit zu entschuldigen und mitzuteilen, was da Wichtiges angelangt sei.
Als er den beiden Waldweibchen nachkam, sprach Gustel mit leidenschaftlichem Anteil das Erlebnis der letzten Stunde durch, so gründlich und so ganz bei der Sache, daß sie überhaupt nicht merken konnte, wie Lydia kein einziges Wörtchen dazu gab. Paul beteiligte sich desto munterer, und das Geschwisterpaar machte dann auch zu Hause solchen Freudenlärm, daß Papa lachend sagte: »Wir müssen wirklich Frau Bewermann in die ›Hoffnung‹ schicken und Fräulein Brant bitten lassen, heute abend mit uns zu essen. Dann ist vielleicht Aussicht vorhanden, daß unser Wildfang wieder etwas in Rand und Band kommt.«
Diese Bemerkung half Gustel ein bißchen ins sittsame Geleis zurück, vorher bekam Papa aber noch einen echt backfischmäßigen Entzückungskuß für den himmlischen Einfall.
Und Fräulein Charlotte kam. Die »gute Fee« Gustels, Tante Rickwitz' Patchen, die Hauptperson aller Eisenacher Wonneberichte, saß nun endlich im Kreis der Familie Elwers und mußte sich betrachten und liebhaben lassen.
Es war ein wunderschöner Abend; während draußen der Ostwind fauchte und drüben im Wald die Bäume zum Aechzen brachte, saßen sie in der großen Unterstube des Häuschens und schlossen Freundschaft.
Nur eins störte Gustels volle Glückseligkeit, das war der Gedanke, daß es alle Tage so hätte sein können, aber nicht alle Tage so sein werde, sondern daß Friederike Schauroth morgen als Störenfried dabei sitzen wollte.
Friederike Schauroth, gerade Friederike! Und weshalb überhaupt jemand! Wären sie allein ihrer nicht genug gewesen?
Unwillkürlich wurde sie schweigsam, und auch während sie Charlotte mit ihrem Laternchen nach Haus brachte, fand sie sich nicht aus dem Bedauern über den Störenfried zu dem ersten reinen Entzücken zurück.
»Ueber was denkt denn mein Gustelchen so schwer und tief nach, daß es in unverbrüchliches Schweigen versinkt?«
Gustel drückte Charlottens Arm fest an ihr Herz. »O – ich – aber ich will nur meine aufrührerischen Gedanken eingestehen – ich dachte, wieviel schöner es sein würde, wenn Sie allein gekommen wären.«
»Mißgünstige Gustel!«
»O! Friederike könnte ja in Saßnitz baden, da sind auch sehr nette Leute, oder sonst wo, wo es noch viel schöner ist – ich – ich wollte Sie doch so unmenschlich gern einmal ganz für mich allein haben!«
»Das würde Waldweibchen Lydia sehr wenig beglücken; und außerdem, kleine Gustel, höre mir einmal mit deinem warmen Herzen aufmerksam zu. Friederike könnte an allerlei gesunden Erdenfleckchen Sommerfrische halten, was sie aber vor allem braucht, ist eine Aufsicht, die sie vier Wochen lang wirklich von den Büchern zurückhält. Das Seminar erlaubt ihr, ihrer Jugend wegen, erst Michaelis übers Jahr das Examen zu versuchen; statt nun diesem Ziel mit Ruhe und stetem Fleiß zuzustreben, ließ sie sich vom Erwerb- und Ehrgeizfieber erfassen. Sie vermehrte die Fächer, in denen sie das Examen machen will, versuchte mit kleinen Erzählungen, die nachts geschrieben wurden, Geld zu verdienen, verzweifelte, wenn das nicht gleich gelang, und wollte auch während dieser ganzen Ferien die Arbeit nicht ruhen lassen. Da wir aber deutlich jetzt schon sehen, daß Friederike auf diesem Wege bald so nervös und elend sein wird, daß sie nicht einmal übers Jahr das Examen bestehen kann, hab' ich sie mitgenommen und denke dafür zu sorgen, daß sie während dieser vier Wochen kein Buch anrührt. Freilich eingepackt hat sie ihrer genug, und mit Zwang allein werd' ich's nicht ausrichten. Ich hatte bei diesem guten Werk sehr auf mein lustiges Gustelchen gerechnet, das mit guter Laune und hübschen Einfällen unsern gelehrsamkeitswilden Eigensinn in Vergnügen und Gesundheit hineinlocken werde.«
Als Charlotte die letzten Worte sprach, standen sie der »Hoffnung« gegenüber, deren Fenster allesamt in tiefem Dunkel lagen. Gustel hatte andauernd geschwiegen, jetzt setzte sie plötzlich das Laternchen zu Boden und umschlang Charlotten fest mit beiden Armen.
»Wissen Sie was,« flüsterte sie ganz dicht an Charlottens Ohr, »der Schaurig bin ich, denn ich wollte eben richtig eifersüchtig werden, aber nun will ich versuchen, so zu sein, wie Sie denken, daß ich sein kann, mit aller Leidenschaft will ich. Und sollt' ich's einmal vergessen, dann zupfen Sie mich ein ganz klein bißchen am Ohr, nicht wahr?«
Statt aller Antwort strich ihr eine weiche Hand sanft über die Wangen und ein Kuß schloß ihr die Augen.
»Gute Nacht, Gustel.«