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Jürgen Beckers' Durchgängerei und ihre Folgen.

»Mutterchen! Wanda ist krank – schmal, elend, blaß, braunringlich – gar nicht mehr das alte Waldweibchen. Erna sagt's; Erna hat sie besucht. Zwar ist Erna sonst nicht mein Orakel, weißt du, aber gute Augen hat sie, und wenn du Papa die Sache vorstellen wolltest, so könnte das Spatzennest auch diesem Waldweibchen Erholung und Sommerfrische bescheren.«

»Herzenskind, in acht Tagen beginnen die Schulen wieder und wir reisen ab.« Gustel sah die Mutter erschrocken an. »Sind wir schon vier Wochen hier?«

Ja, vier Wochen waren schon ins Land gegangen; für acht Tage konnte man Wanda nicht gut von München nach Rügen bestellen. »Und Berlin, Gustel, ist keine Erholung für ein Großstadtmädel, das ist Konfekt auf Zuckerzeug.«

Gustel hing das Köpfchen und hatte Schreck und Enttäuschung noch nicht überwunden, als es bescheiden an die Tür klopfte und auf den Hereinruf Frau Stine Steen den Kopf ins Zimmer steckte.

»Nur herein, Frau Steen,« sagte Mama freundlich, »was haben Sie uns zu berichten?«

Frau Steen kam bedächtig näher. »Jürgen Beckers is fort,« sagte sie, sobald sie vor Frau Elwers stand.

»Jürgen? fort?«

Stine Steen nickte kräftig mit dem Kopfe; zweimal sagte sie selbst die größte Neuigkeit nicht.

»Aber,« rief Gustel, »ich hab' ihn doch erst gestern abend gesehen –«

»Gestern abend?«

»Nach unsrer Rückkehr! Nein – doch nicht,« unterbrach sie sich selber. »Auf dem Schiff hab' ich ihn gesehen, er kam mit dem ersten Boot nach dem ›Rügen‹, stieg auf und ging zum Steuermann.«

»S–timmt. Un da is er baben bliewen, un is nich wedder to Hus kamen, un up stunns is en Jung us Thiessow antreckt, de het Mutter Beckers seggt, ehr Jung is nah Hambug un hat sick up en Schipp verhüert aewer Kap Horn nah Bombey, un morgen fahrt's af, un nu kommt he nich wedder as sin Vadder ook.«

»Nach Indien?«

»Ja, nah Indien, un de Nam von dat Schipp is ›Hoffegut‹, wo se al mit de ›Hoffnung‹ ken Glück nich hebben.«

»Die armen Leute!«

»Ja – wo nu blot noch de Moder un de twee Dearns da sünd, un de Jung nu nich mehr Water hahlt un de Damens de Stüweln putzt un Treppens kehrt, un nu keens weet, wie Beckersen alleen fahrig warn scholl. Nix vor ungod, Frau Doktors, nu hebb' ick dat all vertellt, un nu gun Tak oock!« – Stine Steen empfahl sich, nach dieser ungewöhnlich langen Rede, feierlich grüßend, keinen Hauch schneller als sonst. Der Kopf war aber noch ebenso rot wie vorher, und als sie den Doktor auf der Treppe traf, blieb sie stehen und begann ihre Geschichte von neuem mit denselben Worten: »Jürgen Beckers is fort.«

Drinnen schmiegte sich Gustel an die Mutter und sah sie fragend an.

»Ist es sehr schlimm für Beckers, daß der Jürgen fort ist?«

»Ich glaube wohl; die Frau braucht die Hilfe des Sohnes, besonders jetzt, wo sie für das ganze Jahr verdienen müssen, und besonders heuer, wo sie für ihr Häuschen abzahlen soll.«

»Dann muß Jens Sture ihn wieder holen!« Gustel rief es so eifrig, daß die Mutter lächelte. »Du meinst, Jens Sture kann alles.«

»Beinah alles. Wenn er an die Hamburger Polizei telegraphierte und dann nachreiste?«

»Vielleicht ginge das. Aber ich glaube, es hülfe nicht viel. Der Junge hat sich in den Kopf gesetzt, sein Vater sei im Indischen Archipel bei jenem Schiffbruch der ›Hoffnung‹ auf eine wüste Insel verschlagen, oder in Gefangenschaft geraten, und ist in diesen Gedanken bestärkt worden, weil bis vor zwei Jahren einzelne Matrosen jener Mannschaft zurückkehrten. Holen wir den Jürgen jetzt nach Hause, so geht er vielleicht in einer der nächsten Wochen wieder fort, wahrscheinlich ohne Botschaft zu hinterlassen, und die Mutter weiß dann nicht einmal, mit welchem Schiff er in die Welt hinaus ist.«

»Hoffegut«, sagte Gustel leise, und da eben jetzt Paul, Lydia und das kleine Mädchenpaar hungrig in das Frühstückszimmer stürmten, wurde die Geschichte gleich noch einmal und von allen Seiten beleuchtet. – »Schneidig!« rief Paul.

»Abscheulich!« behauptete Frida, und Ida dachte, sie würde nie ums Kap der guten Hoffnung fahren und wenn selbst das Schlaraffenland dahinterliegen sollte.

»Da geht Papa den Weg hinunter!«

»Zu Frau Beckers!«

Das war nun höchst spannend und die Frühstückenden hielten abwechselnd Fensterwacht; – nach einem Viertelstündchen kam der Vater wieder aus Frau Beckers Haus, Fräulein Charlotte mit ihm; auf ihrem Weg trafen sie Herrn Kalkoff und langsam, sehr langsam nahten sich die drei dem Spatzennest. »Jetzt möcht' ich Luchsohren haben,« sagte Paul.

»Der Horcher an der Wand –«

»Nein, das trifft hier nicht zu! Dort unten wird von Wichtigerem geredet, als von mir.«

So war es auch. Die drei kamen nach geraumer Beratungszeit herauf und alle durften hören, was geplant wurde.

Frau Beckers war wirklich in großer Verlegenheit. Alles bisher Verdiente hatte sie bereits auf Schulden abgezahlt; so besaß sie nicht einmal so viel, um sich eine in Stettin wohnende Muhme zu Hilfe kommen zu lassen, denn die Reisekosten hätte sie der Muhme natürlich bezahlen müssen.

Das Reisegeld wollte Herr Kalkoff allerdings nachher hinüberschicken, aber schließlich war damit wenig getan, und Fräulein Charlotte hatte gemeint, solch ein Konzert wie die Saßnitzer gestern, könnten sie für die »Hoffnung« und den auf der »Hoffegut« in die Welt segelnden Phantasten vielleicht auch noch zurechtbringen. Die Herren hielten das für einen sehr vernünftigen Frauenzimmereinfall. Herr Kalkoff wollte nach Saßnitz fahren, um von Frau Sorgert zu erbitten, daß sie ein paar Lieder sänge. »Geben Sie acht,« sagte er halblaut zu Charlotte, »sie kommt, schon um die spröde Schwester bei dieser Gelegenheit einmal zu sehen.«

»Spröde Schwester – das ist Hermine,« dachte Gustel. »Weshalb sie nur gestern nicht mitkam? Sie hätte doch unglaublich stolz auf ihre Verwandten sein müssen.«

Papa Elwers versprach, die Erlaubnis des Schulzen zu erobern; Myrrha sollte mit Herrn Born eine drollige kleine Aufführung zum besten geben: Gesang und Kostüm. »Sie ist eine famose kleine Komödiantin,« sagte Herr Kalkoff stolz.

»Ein Prolog wäre nun noch zu dichten.« Herr Kalkoff verlangte das von Doktor Elwers, Doktor Elwers schob es Fräulein Charlotte zu und Fräulein Charlotte erklärte lachend, Herr Born sei unbedingt der rechte Mann für so etwas.

Da Herr Born nicht da war, konnte er sich nicht wehren, er mußte das gute Werk wirklich vollführen.

Als ihm nachmittags am Strand erzählt wurde, auf welche Art er sich als hilfreicher Mensch erweisen müsse, zog er mit einem drolligen Gesicht die Schultern hoch, duckte sich, als stürze ein Platzregen auf ihn nieder, aber wehrte sich nicht; »dulden wir still, um der guten Sache willen.« Und er machte wunderhübsche Verse für die Witwe Beckers, deren Mann mit der Hoffnung davongefahren und nicht wiedergekommen sei und deren Sohn, ein leichtherziger Hoffegut, dem Vater ins Blaue hinein nachsegle. Jetzt wollten sie diesen hoffenden Menschenkindern die Villa Hoffnung ersingen und erreimen, damit sie die Hoffnung wirklich alle Zeit ihr eigen nennen könnten, und die Kunst doch einmal wisse, weshalb sie nach Brot gehe.

Das ganze Unternehmen glückte von Anfang an aufs beste. Der Schulze gab die Erlaubnis, der Wirt zum Haus Brandenburg spendete seinen schönen Speisesaal, Frau Sorgert sagte die Lieder zu und kam schon am frühen Morgen mit ihrem Mann und Jung Wölfchen auf dem großen Passagierdampfer herüber – ein Entzücken fürs Spatzennest. – Sorgerts hatten Wölfchens wegen Doktor Elwers' Gastfreundschaft angenommen, trotz der Einladung des Bankiers.

Sobald Frau Adelheid sich ausgeruht und gefrühstückt hatte, schlüpfte sie hinüber nach der Villa Kalkoff, und ein wenig später sah Gustel die beiden Schwestern in ernstem Gespräch in der Laube des Gärtchens sitzen.

»Wir waren Ostern zu Hause, Hermine,« sagte Frau Adelheid sehr langsam, nachdem sie über das »guten Tag – wie geht's?« hinaus waren.

Herminen stieg das Blut heiß in die Wangen, ein lebhaftes Wort drängte sich auf ihre Lippen, aber sie bezwang sich und sagte ruhig: »Sie waren doch alle gesund?«

Adelheid schüttelte den Kopf.

»Nein, ich finde Mama sehr zart, viel zarter als früher. Sie braucht mehr Hilfe.«

»Ach so. Ich soll nach Hause kommen, ein Ruf auf Umwegen.«

Das klang bitter gleichgültig und trieb auch Frau Adelheid das Blut ins Gesicht.

»Hermine!« – gleich nach diesem Ausruf, sagte sie ruhiger: »Es ist nicht so. Ich dachte aber, du würdest kommen, wenn ich dir sagte, daß Mutter dich braucht.«

»Wenn ich gebraucht werde, mögen sie mich geradewegs rufen, darauf warte ich billig.«

»Du weißt sehr gut, Minni, daß deine leidenschaftliche Bitte, die sich die Erlaubnis zur Annahme dieser vergnüglichen Stellung erzwang, derart war, daß Papa dich nicht rufen wird. Du wolltest fort, du wolltest dich draußen unterhalten, du wolltest nicht Haustochter sein. Wenn ich etwas über dich höre, klingt es ja freilich allzeit von Festen, Reisen, Glanz und Pracht; ich kann mir aber nicht helfen, ich denke, du müßtest nun davon genug haben, und wenn du nur den Entschluß faßtest, hier abzubrechen, du würdest zu Hause glücklicher sein.«

Ein Lächeln bewegte Herminens Mund, das nicht wie fröhliches Lächeln Liebreiz gab, sondern die Schönheit ihres Gesichtes verzerrte. Zu Hause glücklicher sein, dachte sie – als ob ich hier glücklich wäre – auch nur eine Stunde des Tags! – Dabei sahen ihre auf das Grün des Waldes gerichteten Augen nichts, als jene Scene am Strand, wo Myrrha Kalkoff ihr die bitterste Beschämung ihres Lebens zugefügt hatte.

Aber sie antwortete keinen Laut, und Frau Adelheid fuhr dringend fort: »Bedenke doch, Minni, was du daheim hast! Wie reich wir sind vor unzähligen Familien, obwohl Papa jetzt nur noch Pächter ist, dort, wo er früher Herr war. Sieh, die alten Bekannten in unsrer Heimat haben von Anfang an gefunden, daß er noch derselbe Mensch sei wie ehedem: aller Ehren und Freundschaft wert – und wir Geschwister – müssen wir nicht sehr glücklich sein, ein jedes über die sieben andern? Sind nicht alle wohlgeraten und eine Freude der Eltern?«

»Außer mir natürlich,« sagte Hermine hastig und stand auf, weil Adelheid die Träne nicht sehen sollte, die ihr im Auge stand. »Gib dir keine Mühe, ich kann nicht nach Hause, ohne daß nach mir verlangt wird – und ich will auch nicht.«

Auch Adelheid stand auf. »Weil du ein trotziges Herz hast! Denn das glaube ich dir nun und nimmermehr, daß du dich bei Kalkoffs auf die Dauer heimisch fühlen kannst; dazu bist du viel zu sehr unsre Art und unsre Lebensführung gewöhnt – du willst einfach nicht zugeben, daß du dich geirrt hast, aber das sage dir doch früh und abends, daß du an dir selbst und an den Eltern unrecht tust.«

Gustel sah von dem Wohnstubenfenster aus, an dem sie den kleinen Wolfgang in ihren Nähtischschätzen kramen ließ, wie die Schwestern Gesterding drüben ins Haus gingen. Ein Viertelstündchen später kam Frau Kapellmeister Sorgert zurück. Sie sah müde aus und es bedurfte der ganzen jauchzenden Glückseligkeit des Knaben, um sie wieder zum Lächeln zu bringen.

Nachher aber war sie sehr lieb und »draußen in der Welt«, wie Gustel Hotel Brandenburg und den Strand nannte, hatte sie für jeden, der herankam, ein freundliches Wort und einen freundlichen Blick.

Ganz Göhren war entzückt von »seiner Konzertberühmtheit«, zumal diese erklärte, hier sei es so schön, daß sie ein ander Jahr ihren gestrengen Hausvater um eine Göhrener Sommerfrische bitten werde.

Der gestrenge Hausvater sah aus, als ließe er sich leicht erbitten, am eifrigsten stimmte Wölfchen für Göhren; zwar behandelte man ihn auch in Saßnitz nicht übel, hier aber wurde er geradezu großartig verwöhnt. Mausi ging nicht von seiner Seite, seit sie ausgeschlafen hatte, Ida und Frida, Os und Ot schleppten alle Schätze ihrer Sandburg heran und versprachen, ihn zum nächsten Seeschlangenkrieg mitzunehmen, Paul ließ ihn auf seiner Schulter sitzen, alle Damen schenkten ihm Schokolade und Doktor Born schnitt ihm so schöne Gesichter, daß Ida schließlich ganz empört sagte: »Für uns ist Onkel Doktor noch nie so nett gewesen!«

Auf des Kapellmeisters Wunsch war das Konzert vor Tisch. »Ganz Göhren« strömte ins Haus Brandenburg, die Fremden alle, manch einer der Fischer auch, sie wollten doch sehen, was ihr Doktor da für die Beckers losließ. Gustel, die mit Lydias Hilfe den Kassenwart machte, wurde immer vergnügter, denn »es regnete Geld«.

Dann, als die Musik begonnen hatte und keiner mehr kam, saß sie auf ihrem Türstühlchen und hörte mit gefalteten Händen zu. Es war wieder wunderschön, alle törichten kleinen Alltagsgedanken entflohen – eine ganz stille Gustel saß da, bis auf einmal als Dank für den brausenden Beifall Frau Sorgert die Noten beiseite legte und nach einem kurzen Wort zu ihrem Manne das Schumann-Eichendorffsche Lied sang:

»Aus der Heimat hinter den Blitzen rot,
Da kommen die Wolken her,
Aber Vater und Mutter sind lange tot,
Es kennt mich dort keiner mehr.

Wie bald, ach, wie bald kommt die stille Zeit,
Da ruhe ich auch, und über mir
Rauscht die schöne Waldeinsamkeit,
Und keiner kennt mich mehr hier.«

Gustel wußte nicht, daß dies Lied das Lieblingslied der Eltern Gesterding war, daß es die Tochter ihnen wieder und wieder vorgesungen hatte, und doch konnte sie jetzt um des Textes und der schwermütig sehnsuchtsvollen Melodie willen nichts andres denken als: Hermine.

Ihre Augen suchten sie, es war von den Türplätzen aus nur das Halbprofil des schönen Gesichts zu sehen, Gustel meinte aber deutlich Bewegung und Schmerz zu erkennen und hätte sich für eine Träne verwettet.

Nach dem Konzert war sie freilich bitter enttäuscht, sie hatte gedacht, jetzt werde Hermine auf die Schwester zueilen, sie umarmen und sich an ihrem Halse ausweinen, aber nichts von alledem geschah – die Göhrener verliefen sich, die Konzertgesellschaft, die im Haus Brandenburg zusammen essen wollte, stand zerstreut im Saal herum und Doktor Born zählte das eingenommene Geld.

Das war viel mehr, als sie alle gehofft hatten.

Jens Sture guckte Born über die Schultern und schmunzelte mit beiden Mundwinkeln zugleich, hatte er doch die geliebte Pipe diesmal draußen gelassen. »Von wegen der Zärtlichkeit von die Weiberstimmens.«

»Dat's 'ne Sach! vergelt's Gott!«

»Da kann Frau Beckers ein schönes Stück ihrer Schulden abzahlen,« sagte Doktor Elwers vergnügt. »Nun, wer trägt das Geld hin?«

»Fräulein Gesterding – ihrer Schwester danken wir die Höhe der Einnahme.«

»Fräulein Gustel Elwers – die hat die Hand an der Tür am begehrlichsten ausgestreckt.«

»Nein, nein, Herr Doktor Born – der hat die Hoffnung am schönsten in Verse gebracht.«

»Fräulein Myrrha vielleicht – unser dramatisch-mimisch-drastisches Genie?«

Myrrha schüttelte lachend die Locken. Sie sei nicht zum Himmelsboten geschaffen, kleiner Leute Dank habe einen häßlichen Ueberschwang, der ihr zuwider sei.

»Dann will ich!« rief Gustel und sprang hastig auf, denn sie ärgerte sich über Myrrha. Aber ihr Vater sagte, leise über ihr Haar streichend: »Ich werde zu Frau Beckers gehen, das scheint mir am passendsten. Eßt ihr einstweilen die Suppe, bis zum Fisch bin ich wieder zurück.«

Er winkte Doktor Born zu sich heran und die beiden Männer gingen zusammen nach der »Hoffnung«, wo die frische Wäsche heute genau wie an jedem Tag auf der Leine flatterte, und die beiden Töchter schon vom frühesten Morgen an unten in der Plättstube standen, ihr heißes Tagwerk verrichtend.

Als die beiden Herren zurückkamen, saß ihre Gesellschaft richtig noch bei der Suppe; für Doktor Elwers war zwischen Frau Sorgert und Frau Kalkoff ein Platz freigelassen und für Doktor Born zwischen Fräulein Gesterding und Myrrha; der Kapellmeister saß bei Charlotte und Mama Elwers, Paul zwischen Friederike und Lydia, was Friederike übelnahm, »sie sei weder Backfisch noch Baby, aber keines nehme sie für voll«. Gustel hatte Mausi und Wölfchen zu Nachbarn und ebenso mit diesen beiden, als auch mit den sich an Mausi anreihenden Paaren Os und Ot und Ida und Frida tüchtig zu tun. Nur Wölfchen zulieb war »das wilde Heer« zugelassen worden.

Gustel kam kaum zu Atem. Wenn Doktor Born, der ihr gegenübersaß, ein Neckwort herüberrief, sah sie allemal auf, lächelnd, aber wie aus einer andern Welt. Dann sah sie jedesmal Herminens blasses Gesicht, in dem deutlich von Kampf und Betrübnis geschrieben stand. Jetzt tat sie ihr leid, sie wußte selbst nicht recht, warum; vorhin, als die erwartete Umarmung ausblieb, war sie ihr sehr böse gewesen.

Sie hätte ihr gern geholfen, wenn sie nur die leiseste Ahnung gehabt hätte, wie das zu machen sei; sie konnte vor lauter Kindermuhmenpflichten auch gar nicht nachdenken, nur hie und da hatte sie einmal Zeit, sich über Friederiken zu ärgern, deren scharfe Stimme über den Tisch gellte und jedesmal etwas sagte, was irgend jemand unangenehm sein mußte.

Als nach dem Nachtisch Frau Bewermann und Sorgerts hübsches Kindermädchen Gustel ihrer Pflichten entbanden, stand alles auf. Kaffee sollte draußen im Schatten des Hauses getrunken werden. Von der See kam ein leiser, kühlender Hauch, es war einzig schön, so dazusitzen, satt und vergnügt, weil man eine Sorge hatte mindern können, und dabei Kaffee zu schlürfen und den leisen Sang der Wellen vom Strande herauftönen zu hören.

Herr Born überreichte eben Frau Sorgert den Prolog, um den sie ihn gebeten hatte, und erzählte ihr, wie nun, da die leiblichen Sorgen gemildert seien, Frau Beckers sich erst recht in Angst und Tränen um den davongelaufenen Buben abquäle. Dieser verstehe sich schlecht aufs Schreiben und tue es natürlich auch ungern, nun werde die Mutter wohl sitzen und bangen und nicht einmal einen Brief erhalten, selbst wenn der Jürgen glücklich in Bombay ankomme.

»In Bombay?« rief Frau Sorgert lebhaft, »aber da könnten wir doch etwas tun. Wir schreiben meinem Bruder, er soll auf den Segler ›Hoffegut‹ achten, läuft er ein, nach Jürgen Beckers fragen und uns Nachricht von ihm geben; sucht der Junge drüben wirklich nach dem verschollenen Vater, mag er ihm behilflich sein, soweit es in seiner Macht steht – ach, er tut gern, was er irgend kann, für einen Landsmann.«

Diesen Vorschlag fanden alle vortrefflich. Jens Sture wurde noch einmal herangeholt, damit alles, was vom Schiffbruch des alten Beckers bekannt geworden war, auch ordentlich aufs Papier käme, und dann schrieb Frau Sorgert gleich im Freien den Brief, der – so glaubte Gustel – nur richtig in Indien anzukommen brauchte, um Vater und Sohn Beckers auch glücklich wieder heim in die Hoffnung zu bringen.

»Und das haben Sie nun all die Zeit gewußt,« sagte Gustel vorwurfsvoll zu Herminen, »und haben trotzdem gar nichts von dem Bruder in Bombay gesagt!« »O –« antwortete Hermine und hatte wieder das Lächeln um die Lippen, das sie häßlich machte. »Man hätte doch nur gedacht, ich wolle mich mit dem Bruder wichtig machen.«

Da sah aber Gustel Elwers sie mit so traurigen, erschrockenen, mitleidigen Augen an, daß Hermine plötzlich, gegen ihren eignen Wunsch und Willen, Gustels Hand ergriff und leise und hastig sagte: »Bitte, fragen Sie meine Schwester nach denen zu Hause aus – ich möchte wissen, wie es allen geht, und sagen Sie mir's nachher. Sie können es getrost tun, denn jedermann glaubt, die Frage käme aus Ihrem Herzen. Aber lassen Sie ja nicht merken, daß es meinetwegen geschieht. Bitte, tun Sie's – nicht wahr? – Sie müssen!« Verwirrt stand Gustel da. Hermine war gleich nach dem: Sie müssen! zu Friederike getreten, die ihnen am nächsten stand, und sprach dort klug und gelassen über die Beethovensche Sonate, die Sorgert gespielt hatte. Nur an dem leisen Zittern des Tons hörte Gustel, daß dies dieselbe beschwörende Stimme war, die sie um etwas gebeten hatte, was ihr entsetzlich schwer schien.

Ja, wenn es ihr niemand geheißen hätte, wenn ihr von selber der Einfall gekommen wäre: frag' mal ein bißchen nach all den Gesterdingen, die dich ja eigentlich brennend interessieren! Die eine wäre ja im vorigen Jahr dein Riesenschwarm geworden, wenn du nicht schon so sehr viel Schwärme gehabt hättest, und für die zweite schwärmst du eben jetzt so sehr, daß du meinst: Menschen, die nicht singen können, seien arme Stumme, und die dritte war eins von deines Bruders Idealen – sei doch nicht dumm, Gustel, jetzt gleich auf der Stelle fragst du und denkst gar nicht an Herminens Verlangen!

Das ging nun freilich nicht, aber da Frau Sorgert eben bei den Kindern stand, faßte sie sich ein Herz, trat zu ihr und fand, daß sich am allerleichtesten von Indien reden lasse: das lag heute in der Luft.

»Ich denke mir's wundervoll, einen Bruder in Indien zu haben; ich habe mein Lebtag so gern von fremden Ländern gehört, Papa sagt, wenn mich das gute Futter nicht zu solch frechem, kleinem Hausspatz gemacht hätte, dann wäre ich ein Wanderschwälbchen geworden, das im Herbst allemal auf und davon flöge.«

Sie war sehr verlegen und kam sich unmenschlich ungeschickt vor, aber Frau Sorgert lächelte sie freundlich an und fand es ganz natürlich, daß man etwas von dem Menschen wissen wolle, an den vorhin der wichtige Brief geschrieben worden war. Deshalb erzählte sie bereitwillig.

»Unser Indier, das ist unser lieber Aeltester, Joseph – er und sein Freund, dessen Compagnon er ist, gehören zu jenen guten Leuten, die uns Kaffeeschwestern hier zu Lande mit dem unentbehrlichen Getränk versorgen. Sie haben in Bombay ihr Comptoir, aber auch da und dort eigen Land, das sie bewirtschaften lassen; da heißt es die Augen überall haben, das Klima und allerlei Gefahren nicht scheuen. Jedesmal, wenn ich einen Brief von ihm erhalte, ist mir's, als sei er uns neu geschenkt worden.«

»Und« – fragte Gustel, an Hermine denkend – »ist es lange her, daß er geschrieben hat?«

»Nein, nein, noch nicht acht Tage ist's her, daß ich einen fröhlichen Brief erhielt – er ist gesund und sein Freund und dessen junge Frau, eine gute Freundin von mir, sind auch bei Kräften und Frohsinn.«

Gustel hörte einen leisen Seufzer und wußte: das ist Hermine, sie hört zu und jetzt mußt du nach den andern fragen; aber ganz unwillkürlich sagte sie: »Eine gute Freundin von Ihnen hat er geheiratet? Die hier war, in Deutschland, und –«

»Freilich; – in Thüringen lebte sie in einem Städtchen dicht bei unsrem alten Gute und sie verließ alles, was sie gern hatte und gewohnt war, und folgte ihrem Bräutigam in die heiße, gefahrvolle Fremde.«

Nachdenklich blickte Gustel über das Wasser hin, als ob da drüben im Blau, wo die Dampfer ihren Weg nach Stockholm nahmen, die Küste Indiens zu sehen sei.

»Ob ihr das sehr schwer geworden ist?«

»Sie hatte Tränen in den Augen, aber sie lächelte, als sie Abschied nahm.«

Ein leises Stuhlrücken hinter ihr ließ Gustel zusammenschrecken. Richtig! das ging sie ja gar nichts an, nach ganz andern Sachen hatte sie ja zu fragen. »Und –«, stammelte sie, »und Ihre Schwester, die ich voriges Jahr auf der Schmücke traf? Die Frau Professorin – geht es ihr gut?«

»Unsre goldige Traud? Ja, sehr gut – wir haben sie Ostern besucht, sie und ihre kleine Jula – Traud war immer aller Welt Liebling – so etwa wie Sie, glaube ich –« Frau Sorgert sah Gustel, die brennend rot wurde, schelmisch an. Gustel aber sagte hastig: »Nun kenne ich schon drei von Ihnen und an den vierten hab' ich beinah einen Brief geschrieben und –«

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Frau Adelheid gab dem neugierigen Spatz gern freundliche Auskunft.

»Und nun sind wir ihrer immer noch vier, die Sie alle nach und nach kennen lernen sollen, wenn Sie uns in Berlin brav besuchen. Vier lustige, Gott sei Dank, gesunde Menschenkinder: ein Schulbübchen – ehemals kugelrund, jetzt ins Schießen gekommen, ein Backfischchen, dem böse Brüder nachsagen, es spiele noch heute mit seinen dreiundzwanzig Puppen, ein Landwirt und ein Referendar.«

Gustels Wangen brannten. Besuchen durfte sie Wolfgang Amadeus Mozarts Eltern! Himmlisch! und diese Erlaubnis gab ihr neuen Schwung; zwar kam sie sich über die Maßen zudringlich vor, aber die Hauptsache für die lauschende Hermine waren doch sicher die Eltern, also faßte sie sich ein Herz und fragte auch noch nach den Eltern.

Frau Adelheid lächelte ein ganz klein wenig über den neugierigen Spatz, gab aber freundlich Bescheid. Der Vater sei ein großer stattlicher Herr, braun von der Sonne und kräftig durch Luft und Bewegung; Mama sei ein zartes Frauchen, fein und weichherzig, die mache ihr Sorge, wenn auch die andern zu Haus meinten, es sei immer schon so gewesen; ihr, die sie die Mutter nur in Zwischenräumen sehe, scheine sie jedesmal hilfsbedürftiger geworden.

Da störte Myrrha die Zwiesprache, in einer halben Stunde könne der Dampfer kommen, jetzt wollten die andern Sterblichen auch noch etwas von der Frau Kapellmeister haben, Gustel sei ein fürchterlicher Enthusiast.

Als Myrrha aber die schöne Frau entführt hatte, fühlte Gustel ihre Fingerspitzen plötzlich von einer heißen Hand erfaßt und gedrückt.

»Ich danke Ihnen,« sagte Hermine mit leiser, belegter Stimme, »ich danke Ihnen, Sie sind ein gutes Kind.«

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