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Der Dampfer mit den lieben Gästen war fort, aber der Tag war einmal »festlich angerissen«, wie Herr Kalkoff sagte, man aß auch noch zusammen Abendbrot und zwar diesmal oben auf dem Nordpeerd. So nannten die Fischer den höchsten Punkt der Düne nach Nordosten, der sich wie ein Pferdekopf gegen die See reckte. Oben stand ein stattliches Gasthaus, und der Wirt beeiferte sich, seinen Gästen zu zeigen: was der da unten kann ›im Brandenburg‹, das kann ich hier oben auf dem Nordpeerd auch!
Man lachte und scherzte durcheinander, und als zuletzt Krachmandeln aufgetragen wurden, aß und verlor jegliches in großer Schnelle eine Menge Vielliebchen.
Nur Lydia wehrte sich lebhaft und tapfer, aber da legte ihr der Zufall eine Doppelmandel auf den Teller, und als sie die eine Hälfte zerbissen hatte, stibitzte Doktor Born mit Indianergeschicklichkeit die andre.
»Ich habe! ich halte! ich esse! ich gewinne!«
»Nein,« sagte Lydia ehrpußlich, »ich beschenke mich nicht mit jungen Herren.«
Alles lachte. Doktor Born aber rief: »Schenken ist ja nicht unbedingt nötig – vor allen Dingen erst mal gewinnen – dann wollen wir weiter sehen.«
»Nein, nein, aufs Ungewisse lasse ich mich erst recht nicht ein!« rief Lydia, aber da sie ihre Hälfte schon gegessen hatte, war sie auf den guten Willen des lustigen Doktors angewiesen, und alle bemühten sich nun, ein recht verwickeltes Vielliebchen und eine sehr merkwürdige, geschenklose Sühne für den Verlierer herauszufinden.
Endlich wurde bestimmt, sie sollten jedesmal am letzten Tage des Monats sich eine Postkarte schicken, auf der nichts zu stehen brauche als: Ich denke noch daran! – es dürfe auch noch andres darauf stehen, wenn man gerade etwas zu sagen habe. Und dies so lange, bis eins den Tag versäume; der Säumige sei dann der Verlierer.
Als Sühne aber wurde endlich herausgefunden: »Wer verloren hat, muß den Gewinner zu seiner Hochzeit bitten!«
»Ich weiß ja gar nicht, ob ich mich verheiraten werde,« sagte Lydia ärgerlich, worauf Doktor Born mit seinem treuherzigsten Schelmenmund antwortete: »Ich weiß es auch noch nicht ganz genau, Fräulein Krafft, aber das ist ja eben das furchtbar Aufregende: unser Kontrakt ist ganz und gar auf das Glück gestellt.« – Dabei steckte er seine Mandelhälfte in den Mund und knackte sie lustig mit den blanken Zähnen entzwei. Gerade als sie so weit waren, kam der Briefbote und brachte den etwas von ihm bevorzugten Herren vom Wald die Post, die mit dem Dampfer eingegangen war. – »Aha,« rief Kalkoff, »da haben wir einen Brief aus Holkwitz!« – Lydia wurde flammend rot und beobachtete fast ängstlich die Züge des Bankiers, der eifrig seinen Holkwitzer Brief las. Nun, er lächelte und nickte ihr zu: »Schön, schön, schön! Der Papa scheint mir Geschäftsmann, praktischer Mann. Aber das gefällt mir und was er da schreibt, paßt mir just. Es eile ihm nicht mit dem Verkauf, ich solle mir die Sache bei Gelegenheit ansehen – dränge ein andrer – wolle er mich benachrichtigen – ich verstehe schon!« Kalkoff lächelte wieder. »Ja, ja, ich verstehe, Diplomat ist er, der Papa – nun, es drängt ihn wohl auch nichts zum Verkaufen?« endete er, den fragenden Blick auf Lydia gerichtet.
Und Lydia sagte verlegen: »Ach nein; er tut's gar nicht gern, aber ich – wir möchten gern in die Stadt ziehen und Vater –, Vater ist wirklich reich genug, um sich nun auszuruhen.«
»So, so – nun, wenn die Frauenzimmerchen das wollen und meinen, dann werde ich die Mühle schon bekommen. Wenn ich nächstdem im Altenburgischen zu tun habe, seh' ich sie mir an. Dann bewähren Sie sich nur hübsch als Bundesgenossin, Fräulein Krafft!«
Doktor Elwers hatte auch einen Brief außer seinen Zeitungen bekommen, ihn gelesen und schweigend in die Tasche gesteckt. Als sie in der neunten Stunde nach Hause gingen – Kalkoffs konnten sich noch nicht von dem Mondschein und der konzerterregten Gesellschaft trennen, die von Myrrha immer wieder ein »lustiges« Liedchen verlangte, – rief er Lydia an seine Seite.
»Ich habe auch einen Brief Ihres Vaters bekommen. Außer einem Gruß für Sie enthält er eine Anfrage über Bankier Kalkoff und dessen Verhältnisse. Ich muß darüber zwar in Berlin noch einmal gründlich nachfragen, werde aber doch gleich morgen antworten, daß ich den Mann für sicher halte, und dabei will ich auch noch einmal erwähnen, daß wir Sie noch acht Tage in Berlin herumführen möchten. Ihr Vater fragt nämlich an, rote lange unsre Sommerfrische noch daure. Ich denke, Sie werden gern einmal an unsern Großstadtherrlichkeiten nippen?«
»Ja,« sagte Lydia leise, aber in leidenschaftlichem Ton, worauf Doktor Elwers lächelnd fortfuhr: »Und dabei werden Sie sehen, daß man alle die Berliner Herrlichkeiten nur sehr bedingungsweise als solche bezeichnen kann. Was uns in Ferienstimmung entzückend scheint, plagt und ärgert uns zu Arbeitszeiten oft ganz besonders.«
»Und da die Arbeitszeiten im Leben längeren Raum beanspruchen als die Ferientage, so täten wir gut, die Städte zu schelten und das wohlseinbefördernde Landleben zu loben.«
Diese Worte, die aus Charlottens Munde kamen, klangen plötzlich hinter ihnen drein; Charlotte war den beiden auf Gehörweite nachgekommen und beeilte sich, ihre Gegenwart bemerklich zu machen.
Da Doktor Elwers wartend stehen blieb, nahm sie Lydias Arm und sagte schelmisch: »Das meinte doch dieser Herr mit seiner philosophischen Abhandlung; wie steht's? Geben wir ihm recht, oder wehren wir uns gegen jede Art von Moralpredigt?«
»Ich wehre mich gegen gar nichts, was Herr Doktor Elwers sagt, nur ist er leider niemals einen Winter lang in Holkwitz gewesen.«
Inzwischen mußte Gustel als allerletzte mit Friederiken langsam Schritt für Schritt den kleinen Berg hinaufklimmen, der vom Strand nach dem Dorfe führte.
Es ist, als gehe es auf den Montblanc, dachte sie, ärgerlich über Friederikens Stöhnen und Seufzen. Aber gleich darauf schalt sie sich tüchtig aus: Friederike war doch krank! und sagte freundlich: »Soll ich dich nicht führen? Man hat dir heute zuviel zugemutet.«
Friederike nahm grollend und schmollend Gustels Arm, schwer legte sie sich auf und ließ sich ziehen wie Ida und Frida, wenn sie müde wurden.
Gleichzeitig aber sagte sie im Tone tiefer Kränkung: »Zuviel zugemutet! Bin ich ein Greis? Wenn mir das zuviel wäre, dann begrabt mich nur gleich, ich bin so schon unglücklich genug. Zuviel war's übrigens gar nicht, nur der Aerger war schuld, den konnte ich nie vertragen – kaum arbeite ich ein wenig, so liegt mir Charlotte von früh bis abend mit Abmahnungen in den Ohren und am Strand ist's auch unerträglich – Hermine Gesterding trägt die Nase eine Viertelelle höher, als es erlaubt ist, Myrrha Kalkoff reißt die Unterhaltung jedes verständigen Menschen an sich, und Lydia Krafft fängt auch schon an, sich ganz selbstverständlich unter die Erwachsenen zu mischen.«
»Nun, und ich?« fragte Gustel halb lachend, halb zornig.
»O du! Ueber dich muß ich mich auch ärgern – weniger über das, was du tust, als über das, was du unterläßt. Du übertreibst es leider Gottes nach der andern Seite, du bist noch das reine Baby – mit siebzehn Jahren muß man sich doch nicht als Kindermuhme mißbrauchen lassen – kennst du nicht das häßliche, altdeutsche Sprichwort: ›Wer sich zum Schaf macht, den fressen die Wölfe?‹ Das kannst du dir merken, sonst kommst du sicher im Leben einmal ganz zu unterst – ich werde mich gewiß nicht zum Schaf machen.«
Gustel lachte Tränen. »O Friederike! Nicht so und nicht so ist es dir recht! Du hast dir doch jetzt geradezu widersprochen. Wie soll man denn nun eigentlich sein?«
»Immer gerade so, wie der Augenblick es verlangt,« antwortete Friederike in ihrem ärgerlichen, eigensinnigen Ton.
»Ja! nur weiß Gustel manchmal nicht ganz genau, was der Augenblick verlangt; jetzt eben nur, jetzt weiß sie es – nämlich: daß wir zu Bett gehen und uns rund und gesund schlafen – und vorm Einschlafen nur an sehr hübsche Sachen denken, von wegen der Träume. Gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht!«
»Sie ist doch auch leichtfertig,« dachte Friederike, verdrießlich die Treppe der »Hoffnung« hinaufsteigend: »manchmal denkt man, sie habe Gemüt und Verstand – Irrtum, eitel Irrtum – ein Glückskind ist sie.«
Am andern Morgen aber, als die Freundinnen auf den Badeplatz kamen, wurde Charlotte von dem Glückskind vor der Brettertüre zurückgehalten. Gustel sagte leise: »Können wir nicht ein wenig in den Busch wandern, ich habe ein sehr schweres, sehr volles Herz.«
Charlotte nickte Zustimmung; sie kehrten um, überschritten den schmalen Sandstreifen und folgten dem lauschigen Pfad, der in den Busch hineinführte, ein dichtes Laubgehölz, das den Blick auf den Damenstrand verdeckte.
Es war ein schöner, stiller Tag, nur die höchsten Blätter regten sich ganz leise in dem Hauch, der von der See kam, aber keine Schwüle lag in der Luft. »Wonnig,« sagte Gustel und breitete die Arme aus.
»Da ist das schwere Herz wohl schon leicht geworden?«
Gustel schüttelte heftig das Köpfchen. »Nein, aber Sie werden, können und müssen natürlich helfen. Erstens begreife ich nicht, was mit Friederike los ist. Vorige Woche war sie beinah lustig, jedenfalls ganz behaglich, und nun sieht sie auf einmal die ganze Welt grau mit schwarzen Tupfen.«
»Die arme Friederike hat wieder zu arbeiten versucht – ganz wenig nur – aber mit sehr schlechtem Erfolg. Ich fürchte, ihre Nerven sind so mißhandelt worden, daß nur lange Schonung helfen kann und sie am besten tun würde, ihr Examen vorderhand aufzugeben.«
Charlotte sprach sehr ernst. Gustel sah sie entsetzt an. »Das tut sie nie!«
»Wahrscheinlich jetzt noch nicht, vielleicht erst, wenn es ihr mißglückt ist.«
»Der klugen Friederike?«
»Klugheit hilft nicht gegen Krankheit.«
Gustel sah bekümmert vor sich hin. »Sie tut mir unmenschlich leid,« sagte sie endlich.
»Mir auch, Liebling. Soviel ich kann, will ich ihr tragen helfen, ich bin wenigstens am Ort und kann ihr auf die Finger sehen. Das Schlimmste aber: die Enttäuschung muß sie mit eigenen Kräften durchkämpfen. Nun? War dies alles, was dir das große Herzchen schwer machte?«
Gustel schüttelte die Last Friederikens, die sie eben so schwer bedrückt hatte, ab, und nahm eine andre auf ihre Schultern. »Nein, ich glaube, wir haben noch etwas sehr Unglückliches hier. Ich meine Hermine Gesterding. Denken Sie nur, schon vier Jahre lang ist sie bei dieser übermütigen Myrrha, trotzdem sie entzückende Eltern und Geschwister hat und gar nicht fort zu sein brauchte! Aber in all der Zeit ist sie auch nicht ein einzigesmal zu Hause gewesen, obwohl sie sich herzbrechend sehnt, und die zu Hause sich auch sehnen, so daß sie der Schatten der Familie ist. Begreifen Sie das?«
»Woher weißt du es denn?«
»Woher ich das weiß? Nun, so da und dort her, es fliegt einem zu. Man sieht und hört so vieles, und wenn man das zusammenfügt, ist es ein großes, tragisches Schicksal, was ich nur nicht ganz verstehe. Das meiste hat mir, glaube ich, Erna letzthin in Saßnitz erzählt.«
»Ach so, ihr habt da zusammen geklatscht.«
»Geklatscht?« Sehr betroffen sah Gustel Charlotten an.
»Gewiß, weshalb habt ihr denn von Fräulein Hermine geredet, die gar nicht mit war? Zweifellos aus Neugierde, und da hat jede ihr Bröckchen dazugegeben und ihr habt aus Gehörtem und Vermutetem ein nettes Ragout zusammengekocht, mit Phantasiesauce begossen.«
»O herzallerliebste Charlotte, ich glaube wirklich, Sie haben recht, ungefähr so war es, ganz abscheulich. Aber heute ist es sicher keine Neugierde mehr, heute tut sie mir nur unmenschlich leid. Seit gestern – seit –« Gustel stockte; wenn sie jetzt erzählte, was sie, sie ganz allein gestern mit Herminen erlebt hatte, das wäre ja wohl auch wieder geklascht gewesen, also fuhr sie zögernd fort, »seit ich sie mit ihrer Schwester zusammen gesehen habe. – Und daß ich Ihnen das jetzt hier alles erzählen wollte, war nur, weil ich dachte, Sie würden helfen können, vielleicht gar Hermine bereden, daß sie wieder nach Hause zu den Eltern ginge – denn – denn die Mutter soll zart sein – sagte mir Frau Sorgert, soll ihre Tochter brauchen –«
»Weiß Hermine das?«
Zaghaft nickte Gustel und Charlotte sagte: »Wenn sie das nicht zum Entschluß treibt, wie soll ich helfen? Nein, Gustelchen, da wollen wir uns nichts weismachen, mir hat es noch keinmal so geschienen, als ob ich Einfluß auf Hermine üben könne. Und wo man nicht nützt, schadet man leicht mit Worten. Laß uns freundlich mit ihr sein – das ist das einzige, was wir tun können, und dazu brauchst du mir keine Geschichten zu erzählen.«
Sie wandten um und kehrten zu den Badehütten zurück, Gustel nachdenklicher noch, als sie am Morgen aufgestanden war.
Dieser Sonntag wurde überhaupt ein nachdenklicher Tag. Nach dem Bade wanderten sie zum Südstrand, wo bei dem Seemannsheim Gottesdienst im Freien gehalten wurde – sonst mußte man nach der freundlichen alten Middelhagener Kirche wandern, das war schon ein weiter, sandiger Weg. Und hier in Gottes freier Luft zu stehen, Gesang und Predigt zu hören, worein das leise Rauschen des Meeres klang, wie eine Stimme der Unendlichkeit, das war herzbewegend. Gustel meinte, dem lieben Gott noch nie so nahe gewesen zu sein, wie in dieser Sonntagmorgenstunde.
Dann kam der Nachmittag, an dem ein Spaziergang ins Land hinein gemacht werden sollte. Da gab es, was man sich eigentlich im Sand und Steingefilde des Strandes schwer vorstellen konnte, Wald, Feld, wohlbebaute Aecker, freundliche Dörfer, Erdbeerschläge trotz des Thüringerwaldes und schilfumsäumte Binnenseen.
Bienenstöcke standen in den Grasgärten der freundlichen Häuser und »es ist hier eigentlich gerade wie daheim,« sagte Lydia, als sie in Sellin ihren Kaffee tranken.
Dort war es Myrrha, die Gustel zum Ueberlegen und Nachdenken brachte. Myrrha benahm sich merkwürdig häßlich gegen Hermine, anders als sonst, ganz gewiß anders. Und Gustel begriff nicht weshalb. Hermine ließ doch so stolzgelassen all die spitzen, unfreundlichen Worte an sich vorbeigleiten.
»Myrrha müßte sich doch endlich schämen und schweigen,« sagte sie leise zu Lydia.
»Ich glaube aber, das reizt Myrrha eben, daß sie sich schämen muß,« antwortete Lydia noch leiser.
Gustel schüttelte den Kopf; am meisten ärgerte sie sich über Doktor Born und ihren herzeigenen Bruder – was waren das für Ritter! Sie neckten sich mit allen denen herum, die geneigt waren zu lachen, anstatt sich der bedrängten Schönen gegen den Lindwurm Myrrha anzunehmen, wie es doch von alters her die Pflicht der Ritter war.
Doktor Born eine Strafrede zu halten, dazu war der Spatz doch nicht keck genug, aber Paul holte sie sich, sobald sie ihn allein erwischen konnte.
Kaum war er nach der Heimkehr in den Garten geschlüpft, um sich dort vor seinem Horaz etwas daran zu erinnern, daß er ein Gymnasiast am Ende der Ferien sei, so huschte sie ihm nach und setzte sich neben ihn auf die Laubenbank.
»Ich arbeite, Stift.«
»Na, weißt du, ›Stift‹! Siebzehn! Ich solle mich nicht zum Schaf machen, sagte Friederike.«
»Natürlich nicht; denn du bist meine Schwester – ›wärst du auch leichter als Kork und ungebändigter als der Adria wilde Flut‹ –«
»Was?«
»Das steht hier, Schwesterchen, in einer Ode des Horaz, die sehr schön ist, aber nichts für euch Mädchen, und die ich jetzt par coeur lerne, wie der Franzose sinnig sagt, anstatt unsres ›auswendiglernen‹, was zur Oberflächlichkeit geradezu herausfordert. Also flink, was willst du, ›kleine Großmama‹.«
»Das geht nicht so flink,« sprach Gustel und rückte sich behaglich zurecht, »trotz Oden, die nicht für uns Mädchen sind, will ich dir eine richtige Pauke halten.«
Paul lachte.
»Lache nicht; ich meine es ernsthaft. Warum verteidigst du Hermine Gesterding nicht, wenn Myrrha sie mißhandelt? Sie ist doch auch dein Ideal.«
»Ei, Gustel, du weißt doch! Ich schlage mich jetzt zu den Waldweibchen. Was kümmerst du dich denn auf einmal um meine verflossenen Ideäler?«
»Sie dauert mich – statt zu Hause bei all ihren Lieben, sitzt sie hier in der Fremde bei dieser Myrrha!«
»Gesellschafterin wollen alle sein, sagt Frau Kalkoff, weil sie da wie die großen Damen leben können – die Frau hat am Ende gar nicht so unrecht!«
»Pfui, Paulemann!«
»Man braucht da nicht allzuviel gelernt zu haben.«
»Jetzt bist du aber abscheulich! Kannst du was dafür, daß Papa dich so viel lernen läßt? Sogar Oden?«
»Nein. Aber wenn mich niemand etwas lernen ließe, dann täte ich's auf eigene Faust, und Gesellschafterin würde ich nie! – ebenso gern Leibzwerg oder Menageriemohr.«
»Weil dich niemand wollen würde! Aber ich begreife dich nicht, sonst bist du tapfer und ritterlich, und hier versagst du dem Schwachen deine Hilfe.«
Paul machte ein drollig beschämtes Gesicht, zog die Schultern ein und duckte sich, wie Herr Born, wenn er Unsinn machte.
»Ja, ja, ja! Du sollst recht haben, mein wildwütendes Schwesterchen, ich bitte um Gnade – ich werde sie von nun an ritterlich beschützen, werde meinen Schild über sie halten und sollt' ich mit Myrrha in die gewaltigste Fehde kommen. Aber das möcht' ich doch noch wissen, aus wessen Seele heraus du mir diese famose Pauke über Ritterpflicht und Männerwürde gehalten hast. Wer wird nachgeahmt: Fräulein Charlotte, Fräulein Klementine, Professor Schering oder Professor Rhenius?«
»Fräulein Auguste Elwers ahmt niemand nach; sie ist immer sie selbst und unvergleichlich.«
Gustel hatte sehr eifrig und sehr tapfer, Paul all die Zeit sehr behaglich und unbewegt gefochten, daran aber hatten beide nicht gedacht, daß drüben in Kalkoffs Garten sich an ihre Laube auch eine Laube schloß und daß man dort auch ihre leise gesprochenen Worte verstehen müsse.
Drüben in dieser Laube aber saß Hermine, und je weiter das Gespräch fortschritt, desto angstvoller hielt sie den Atem an, desto banger drückte sie ihr Kleid zusammen, damit nur kein Geräusch ihre Anwesenheit verriete.
Aber ihre Lippen zitterten und mit aller Kraft mußte sie die Bewegung niederhalten, die in ihr emporstieg.
Sowie Gustel die Laube verlassen hatte und Paul, die Finger in den Ohren, sich wieder über seinen Horaz beugte, schlich sie aus der Laube, huschte zwischen den buschigen Wegen nach der Hecke, schlüpfte durch das Hinterpförtchen hinaus, eilte dort, im Schutze des Schwarzdorns, laufend fast, in den Wald und stand hier plötzlich atemlos still.
Sie konnte nicht mehr. Niemand war hier, vor dem sie ihre Verzweiflung verbergen mußte, sie hob die Hände empor, ließ sie wieder sinken, hob sie noch einmal und drückte sie gegen die Augen.
Was hatte sie hören müssen! Man bemitleidete sie! Für erbarmungswürdig wurde sie gehalten! Der gutmütige, kleine Backfisch empfahl sie der Ritterlichkeit ihres Bruders Schulfuchs, und der ließ sich nach reichlichem Zureden herab, der stolzen Gesterding seinen Schutz zu spenden!
Ein Wehruf kam von ihren Lippen, und dann warf sie sich plötzlich ins Moos und ein leidenschaftliches Schluchzen schüttelte ihre schlanke Gestalt.