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Der große Schrecken.

Fräulein Charlotte hatte einen ganz besonderen Grund gehabt, Gustel mit sich zu nehmen.

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Gustel wurde noch röter; sie preßte die Hände aufs Herz.

Kaum waren zwischen ihnen die ersten Wechselreden über das Eingewöhnen in der Villa beendet, so sagte sie: »Ich habe eine Einladung für Auguste Charlotte Elwers. Sie müssen aber erst Ihre Eltern fragen, ob Sie ihr folgen dürfen.«

Erstaunt sah Gustel auf, und Fräulein Charlotte berichtete weiter: »Ich hatte jüngst Gelegenheit, Ihrer Tante Rickwitz nach Gotha zu schreiben, da erwähnte ich meine Begegnung mit dem Großnichtchen Gustel und die Folge davon war eine sofortige Antwort mit einer Einladung für uns beide auf nächsten Sonntag. Haben Sie Lust?«

Gustels Wangen brannten – mit Fräulein Charlotte nach Gotha fahren, mit Fräulein Charlotte einen Sonntag lang zusammen sein – das war einfach himmlisch. Die märchenhafte, grollende Tante verschwand vor dem Glanz dieser Aussicht vollständig.

»Ach, gewiß, gewiß,« stammelte sie, »unbeschreiblich viel Lust!«

»Das freut mich, denn ich hätte Ihnen auch im andern Fall zugeredet; jedenfalls aber ist es vorher nötig, bei Ihren Eltern um Erlaubnis zu fragen.«

»Sie sagen gewiß ja, ich glaube, Papa freut sich sogar; ich schreibe gleich nachher.«

Gustel war leidenschaftlichen Eifers voll.

»Schön. Die Erlaubnis hier werde ich erbitten, den Wildfang lassen wir zu Hause und nach Gotha nehmen wir die netteste Gustel mit, deren wir überhaupt habhaft werden können, damit sie mich nicht etwa Lügen straft.«

Gustel wurde noch röter. Sie preßte die Hände aufs Herz und sagte: »Dann – dann – haben Sie etwas Liebes, Gutes von mir geschrieben, nichts von dem Gräßlichen, was ich auf der Fahrt angestellt habe!«

Fräulein Charlotte lachte. »Nein, Gustel, ich glaube nicht, daß jene Untat der gestrengen Großtante Lust nach Ihrer Bekanntschaft gemacht hätte.«

Die wundervolle Ueberzeugung: sie hat dich gelobt, weckte Gustels Uebermut. Das ganze Gesicht, Grübchen, Mundwinkel, Augen und Nasenspitze lachten die Angebetete an, und die kleine kecke Person sprach: »Ich weiß, was das heißt: Mi piace! Pallas Athene hat mir's übersetzt.«

Einen Augenblick lang begriff Fräulein Charlotte nicht, was diese Worte bedeuten sollten, dann aber kam ihr die Erinnerung, sie antwortete: »Das war nicht unbedingt nötig,« und gab Gustel damit die entzückende Ueberzeugung, daß wirklich sie gemeint gewesen sei.

Das darauf folgende war dann ein kleiner Wasserstrahl.

»Natürlich bezog sich dies sehr subjektive Urteil nur auf einen ganz, ganz kleinen Teil unsres ungeschliffenen Edelsteins.«

Gustel hätte brennend gern gewußt, welches dieser ganz, ganz kleine Teil sei, aber da holten Friederike und Erna sie ein und bald kamen auch die andern. Fräulein Charlotte wurde um eine Partie Boccia bestürmt.

»Die erste in diesem Sommer!« Sie gab nach und freute sich, wenn irgend ein besonders guter Wurf gelang, mochte er für Freund oder Feind sein; während Erna jeden schlechten Werfer ihrer Partei anhaltend ausschalt und Friederike, ohne sich um die andern Mitspieler zu kümmern, bei jedem eigenen schlechten Wurf sich über ihr Ungeschick aufregte.

Erst als Herr und Frau Professor Rhenius zum Kaffee erschienen, trieb man die Spieler ins Haus.

»Wer sich erkältet hat, bekommt Schelte und Fräulein Charlotte muß dann büßen,« sagte Professor Schering, die Hände der Jugendfreundin fassend. Aber die waren nicht kalt; sondern »warm wie ein Kachelofen zu Weihnachten«. Er mußte sich mit seiner Sorge auslachen lassen.

Wären Gustels Gedanken nicht immer wieder nach Gotha und zu dem künftigen Sonntag gewandert, so hätte sie heute eine Menge erleben können.

Gesungen wurde und gespielt, gegeigt und deklamiert. Jede brachte etwas von ihrer Kunst zu Tage, nur die beiden Neuen »durften noch dumm sein«, wie Erna sich höflich ausdrückte, nachdem sie ein Klavierstück mit anerkennenswerter Fingerfertigkeit vorgetragen hatte.

Aber Gustel hörte auch das nur halb. Die Musik begünstigte das Träumen zu sehr. Und von Gotha gingen die Gedanken zu Papa und Mama, was die wohl zu der Einladung sagen möchten, und von Papa und Mama wanderten sie zu Paul, zu Ida und Frida und Mausi – und ehe sie sich's versah, saßen die Augen dick voll Tränen. Sie mußte sich eine ganz grobe Rede halten, um mit dem »kindischen Heimweh« fertig zu werden.

Da Fräulein Klementine ihr erlaubte, gleich noch ein paar Zeilen nach Hause zu schreiben, wanderte die Erlaubnisanfrage in Pauls Brief mit der Familie Rhenius nach der Post und zwei Tage später war die Antwort da.

»Ich freue mich, daß Tante Rickwitz dich sehen will, sei unsre gute Gustel und denke daran, daß es jetzt in deiner Hand liegt, eine Verstimmung, die mich seit Jahren bekümmert, aus der Welt zu schaffen.«

Gustel empfand ein Stolz- und Angstgefühl in diesem Gedanken. Zum erstenmal grübelte sie darüber nach, was wohl zwischen Papa und Tante Rickwitz stehen möge, aber es fiel ihr ganz und gar nichts ein – nein, ganz und gar nichts – Papa hatte niemals darüber gesprochen. Glücksgefühl und Bangigkeit erfüllten sie auch, als sie am Sonntagmorgen von Kellermann nach dem Bahnhof gebracht wurde.

»Ja, sehen Sie, Fräuleinchen, das ist nun so – mir ist's sehr behaglich, wenn die Sonne so hübsch herunterbrennt, und Ihnen ist's wie ein Glühofen – was sich aus den roten Bäckchen lesen läßt; wenn einer lesen gelernt hat, will sagen die Augen aufmachen, sieht er überall Unterschiede. Und darin liegt die ganze Weltweisheit, die gelehrten Herren mögen doktorn und studieren, wie sie wollen: es ist niemalen nich ein Mensch wie der andre, wie's keine zwei Blätter giebt akkurat egal, und kann kein Gärtner vorher wissen, wie das Blatt aussehen wird, solang es drin in der Knospe steckt.«

Gustel hörte den Kellermann und hörte ihn nicht, ihr Herz klopfte, ihre Augen leuchteten. Und dort war ja schon der Bahnhof, Fräulein Charlotte stand auf den Eingangsstufen und hob winkend den kleinen grauen Sonnenschirm.

Mausgrau durchaus war Charlotte gekleidet und das schien Gustel, die ihr blaues Staatskleid anhatte, der Inbegriff von Feinheit und Schönheit.

Die zwei Fliederstengel, die die Herzallerliebste in der Hand trug, dufteten süß und schwankten leise auf und nieder, bis sie im Gürtel zu Ruhe kamen.

Frühlingsfee, dachte Gustel; da sie aber den Wildfang zu Hause gelassen hatte, sprach sie es nicht aus – auch war sie während der ganzen Fahrt ein lieber, bescheidener, fröhlicher Backfisch.

In Gotha erwartete sie ein schmuckes, älteres Dienstmädchen am Bahnhof.

Frau Rätin lasse sich empfehlen, Frau Rätin wäre gern selbst gekommen, aber die Damen Mehlmann seien noch nicht wieder abgereist und Herr Mehlmann sei auch gekommen, da habe sie zu Hause Pflichten.

Gustel sah die Dienerin, die ihnen die warmen Krägen sehr beflissen abnahm, nachdenklich an.

Wo hatte sie dies Mädchen nur schon gesehen? Gesehen hatte sie es ganz bestimmt, Gustel hatte ein gutes Gedächtnis – nur wann und wo, darauf konnte sie sich durchaus nicht besinnen. Freilich gab es jetzt auch viel zu viel andres zu schauen, als daß sie sich lange mit dem Mädchen beschäftigt hätte, ging sie doch neben Fräulein Charlotte und wanderte durch eine noch nie gesehene Stadt.

Schmucke Villen, blanke Straßen, rechts und links von Gärten umsäumt, in denen der Frühling die Augen aufschlug, düstere, schöne Alleen mit uralten Bäumen, prächtige Paläste, ein neumodisches Theater und dann enge, kleine, graue, winklige Gassen, in welche Treppen hinabführten, unter denen verdeckte Bäche flossen; und als die durchkreuzt waren, kamen sie wieder durch Alleen, vorbei an Villen und Gärten.

»Wir wohnen natürlich draußen, wo's grün ist, nicht in dem grauen Gerumpel,« sagte stolz-bescheiden das saubere Dienstmädchen; »das ist überhaupt nur noch ein ganz kleiner Fleck – der ›Pfirsichkern‹ sagen Frau Rätin immer, und ringsherum liegt das gute, angenehme Fleisch, das sind unsre neumodischen Vorstädte.«

In einer neumodischen Vorstadt wohnte die Großtante übrigens nicht; ihre Gäste durchkreuzten noch eine Allee, dann bogen sie in einen Heckenweg ein, voller Blütenduft und Vogelgezwitscher; der endete in einem grünen Garten, und hatte man sich zwischen dem vorgeschobenen Buschwerk dieses Gartens hindurch gefunden, so sah man über einen Rasen- und Beetplatz hinüber auf ein altmodisch niedriges Haus mit grünen Läden und einer grün gestrichenen Lattenlaube, gerade vor der Mitteltür.

Drinnen war's sehr behaglich; war man unter der Laube ins Haus hineingetreten, so fand man sich in einem freundlichen Raum: – mochten noch so viel Türen in ihn münden, mochten die Steinplatten mit Sand bedeckt sein, wie in uralten Bauernhäusern, es war doch behaglich.

In einer Ecke stand ein blankgescheuerter Tisch mit zwei Holzstühlen, »für den Fall, daß wir Armeleutsmittaggäste haben«, sagte die Magd; – in der andern stand ein großer Blumenstrauß auf kleinem Holzbrett und eine »Wartebank« daneben; es roch ein ganz klein bißchen nach Eierkuchen und zwischen diesen Kuchenduft mischte sich ein andrer, wie aus einer altmodischen Potpourrivase: Lavendel, Rosen und Thymian.

Gustel war eben mit dem Ablegen von Hut und Jäckchen fertig, als jemand die Treppe herunterkam: eine alte Dame, mittelgroß, etwas stark und schlecht zu Fuß, denn sie stützte sich schwer auf einen Krückstock.

Gustels Herz klopfte im schnellsten Takt, unwillkürlich trat sie ganz dicht an Fräulein Charlottens Seite, froh, unbeschreiblich froh, daß sie unter so gutem Schutze stand.

Die Großtante aber blieb auf der Hälfte der Treppe stehen und rief mit kräftiger Stimme in den Flur hinab: »Nur vorwärts, ich bin kein Werwolf!«

Als Gustel jetzt flink zu ihr hinauflief, ihr die Hand küßte und den Dank der Eltern für die Einladung bestellte, milderte sich der prüfende Ausdruck des etwas strengen Gesichts.

»Nun, nun! schön' guten Tag, mein Kind! Man muß doch einmal sehen, was aus der Verwandtschaft herauswächst auf dem nichtsnutzigen Berliner Boden. Laß dich anschauen! Nun, du hast ehrliche Augen und zierst dich nicht, das ist immerhin etwas; wenn auch noch lange nicht genug. Mit deinem Papa bin ich böse, jawohl, ordentlich böse, und denke nicht dran, wieder gut zu werden. Solch ein Ueberläufer! Schenkt ihm der liebe Gott gleich zuerst einen Jungen, damit das ehrliche Geschlecht der Elwerse nicht aussterbe, und er nennt ihn Paul! – Paul, wie noch nie einer unsrer Sippe geheißen hat. Christoph, Wendelin, Theobald mußte er von Gottes und Rechts wegen getauft werden, wie sich's für einen Elwers gehört.«

»Ich glaube, ›Paul‹ ist Mamas Lieblingsname«, stammelte Gustel, ganz verwirrt über die Anklage, die auf ihr Haupt hereinbrach, in einem Tone, als werde ihr mindestens eine Brandstiftung vorgeworfen.

»Lieblingsname, ja doch, sie ist keine Elwers – aber dein Vater mußte wissen, was sich schickt, und mußte seinen Mannesstolz und seinen Familiensinn gegen die Liebhabereien der Mama hochhalten. Aber der Familiensinn fehlt ihm eben, deshalb bin ich böse. Warum blieb er nicht in Bremen, wo die Elwerse hingehören? Weil sie ihn in Berlin um ein paar Groschen besser bezahlten! Und dann bittet er bei seinem Ersten überhaupt keine Blutsverwandten zu Gevatter, und erst beim Zweiten besinnt er sich mühsam auf die Tante Rickwitz, geborene Elwers, seines leibhaftigen Vaters leibhaftige Schwester. Die Zweite bist du?«

Gustel bejahte kaum hörbar.

»Heißt du Wendeline?«

»Nein.«

»Dacht' ich mir! Nun, vielleicht wäre es geschehen, wenn ich deine Patin geworden wäre. Aber ich bedankte mich dafür. Beim Jungen hatten sie mich nicht gewollt, beim Mädchen wollt' ich nicht. Nun, du kannst nichts dafür und mir scheint, so weit wärst du ein ganz nettes Patchen gewesen, aber in die zweite Reihe läßt sich die Tante Rickwitz nicht schieben, und wenn Papa das dann übelnimmt und nicht mehr zu Neujahr gratuliert, dann ist's eben aus – ganz aus. So! Und nun wollen wir gemütlich sein.«

Sie küßte erst Gustel auf die Stirn und dann Fräulein Charlotte, die längst hinter dem Backfischchen stand und sanft ihre Arme um die jungen Schultern legte, immer in der leisen Sorge, Gustels Wildfang möchte sich zu leidenschaftlicher Verteidigung des geliebten Vaters aufbäumen.

Gustel aber war ganz betäubt; ihr fiel gar nichts weiter ein, als die eine Frage: ist das nun ein Grund, um sich sechzehn Jahre lang bös zu sein? – Fürchten konnte sie sich nicht gerade vor der Tante, trotz dem langen Nachtragen, und obgleich sie die bitterböse Willkommrede mit starker, grollender Stimme gehalten hatte. Man hatte sie doch eingeladen – also war es doch versöhnlich von ihr gemeint – vielleicht gelang es Gustel, den Vermittler zu machen; daß Papa der Zwist leid tat, wußte sie längst, und die polternde Stimme klang eigentlich, als meine es die Tante gar nicht ganz so schlimm.

Unwillkürlich drückte sie im Hinaufsteigen ganz leise der Tante herabhängende Hand, und es wurde gelitten, wenn man auch nicht dergleichen tat, als sei irgend etwas geschehen.

Oben mündete die Treppe in einen wohnlich eingerichteten Vorraum gleich dem Flur unten, und von diesem Vorraum aus sah man durch eine offene Flügeltür auf einen Frühstückstisch, der, blank und einladend mit jungen Frühlingsblumen und wundervollen alten Geräten geschmückt, den hungrigen Reisenden entgegenlachte.

Tante Rätin ging voraus – »tack, tack«, sagte der Stock, allemal leiser redend, als empfinde er Respekt, wenn ihm ein Teppich unter die Spitze kam; nach ihr trat Fräulein Charlotte ein, und Gustel stand noch im Anblick einer schrankhohen, buntbemalten Wanduhr versunken, als drinnen schon das Vorstellen begann.

»Das ist meine liebe kleine Pate Charlotte, von der ich euch schon so viel erzählt habe, und das ist meine gute Minna Mehlmann, geborene Mehlmann, mit Schwester und Sohn, lauter Mehlmänner; der Karl ist auch mein Pate.«

Darauf machte Frau Minna Mehlmann, geborene Mehlmann einen kleinen Scherz über den Namen, der ihren Sohn darauf gebracht habe, Müller zu werden, und beim Klange dieser Stimme fuhr Gustel entsetzt herum und sah in das Zimmer hinein.

Nun wußte sie auf einmal, wo sie das saubere Dienstmädchen schon gesehen hatte! Vor vierzehn Tagen auf dem Bahnsteig in Gotha, wo sie die beiden sächselnden Damen in Empfang nahm, über die Gustel Wildfang sich so schnöde lustig gemacht hatte.

Und dort standen die beiden gutmütigen Damen auf Tante Rickwitzens chinesischem Teppich und versicherten Fräulein Charlotte, daß sie nur noch geblieben seien, um die Lieblingspate ihrer lieben Rätin endlich einmal kennen zu lernen.

Am liebsten wäre Gustel schlankweg umgekehrt und zu Fuße bis zur Villa Schering gelaufen – sie schämte sich entsetzlich und sie wußte sich auch gar nicht zu helfen. Sie konnte jetzt doch nicht sächseln! Das ging ja gar nicht, und reden wie alle Tage konnte sie doch auch nicht, dann merkten die beiden gleich, wie schlecht sie mit ihnen umgegangen war.

Da hatte Fräulein Charlotte auch noch den Händedruck des jungen Herrn Mehlmann erwidert, und suchend gingen die freundlichen grauen Augen nach ihrem Schützling aus.

Warum bin ich nicht ganz klein, dachte Gustel, und kann meinen Kopf in ihren Schoß stecken und brauche gar nicht mehr herauszugucken?

Das ging nun freilich nicht; Tante Rickwitz rief: »Vorwärts, Küken, Vorsäle sind zum Durchgehen, die Bouillon wird kalt.«

Es half nichts, sie mußte hinein. Tiefrot, linkisch, verlegen, mit noch nie erlebtem Herzklopfen trat sie in das Zimmer, in dessen Mitte die beiden Damen Mehlmann standen.

»Nein, so was!« rief die kleine, dicke Mama Mehlmann, als sie ihrer ansichtig wurde. »Nein, sieh nur, Garlchen! Das ist ja das liebe, kleine, lustige Bübbchen, von dem ich dir erzählt habe! das mir auf der Fahrt von Weimer so hübsch die vielen Bäckchen in das Goubé gehoben hat, wo wir beinah sitzen geblieben wären. Nein! un das liebe Ding is nu auf einmal unserer lieben Rätin ihre Nichte. Guten Dag, guten Dag! das ist doch mal enne Ueberraschung!«

Bei diesen Worten nahm die runde Mama Mehlmann Gustel beim Kopf und gab ihr einen herzhaften Kuß, das schlanke Fräulein Mehlmann tat desgleichen, Herr Mehlmann, ein hübscher blonder Mensch mit frischem, gebräuntem Gesicht, nahm ihre kleine heiße Hand und schüttelte sie kräftig.

Gustel wäre am liebsten in die Erde gesunken; nun waren sie auch noch so gut gegen sie! Und obgleich sie heute genau so unmodern gekleidet waren wie letzthin und noch ebensowenig hochdeutsch sprachen, kamen sie ihr doch gar nicht mehr komisch vor. »Wenn man so gut ist,« dachte sie, »sieht man auch ganz nett aus.«

Tante Rickwitz hatte sich inzwischen lebhaft über das Zusammentreffen gewundert; jetzt fand sie es an der Zeit, daß Gustel auch etwas sage.

»Irren sich meine beiden Enthusiasten, die jeden Spatz für ein nettes Mädelchen halten, nicht etwa in der Person?« fragte sie.

Da kam Fräulein Charlotte Gustel zu Hilfe. »Nein, wir sind beide mit den Damen von Weimar bis Gotha gefahren, sind aber nun natürlich überrascht, in den Fremden deine alten Freunde zu erkennen.«

Während Mehlmanns Damen sich tausendmal entschuldigten, daß sie über dem lustigen Backfisch die liebe Charlotte gar nicht beachtet hätten, konnte Gustel sich ein wenig fassen, sie antwortete aber so wenig und so leise auf alle an sie gestellten Fragen, daß Mama Mehlmann ihr, als sie sich zum Frühstück setzten, verstohlen auf die Schulter klopfte und flüsterte: »Nur Mut, nur Mut! Die Dante Rickwitz ist gar nicht schlimm, das klingt nur so!«

Gustel kam neben Herrn Mehlmann zu sitzen, und der junge Müller gab sich alle Mühe, den schüchternen Backfisch, der seiner Mama so behilflich gewesen war, ein wenig aufzumuntern. Er erzählte von seinen Fahrten auf dem Wald, von den mancherlei Mühlen, die er besichtigt, und daß er noch keine gefunden habe, die gleichermaßen so praktisch und so hübsch gelegen sei, wie er sich seine künftige Heimat wünsche – »da ich mir's doch einmal aussuchen kann,« sagte er, »so soll auch alles klappen.«

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Gustel kam neben Herrn Mehlmann zu sitzen, und der junge Müller gab sich alle Mühe, den schüchternen Backfisch ein wenig aufzumuntern.

Herr Karl Mehlmann sprach viel weniger sächsisch, als Mutter und Tante, er war weit umhergereist und konnte sogar von fremden Ländern berichten. Gustel antwortete nicht viel, aber ihre ausdrucksvollen Augen gaben ihm die Gewißheit, daß sie aufmerksam zuhöre. Manchmal antwortete sie auch, doch ganz leise, damit es doch ja nicht auffällig sei, daß sie heute anders rede als letzthin. Ihre größte Sorge war, daß ihr damaliger Uebermut nicht offenbar werde.

Und die Damen Mehlmann schienen wirklich gar nichts zu merken.

Ganz so schrecklich verlief für Gustel dieser Besuch in Gotha nicht, wie er begonnen hatte. Sie saß nicht allezeit den Damen gegenüber, sie durfte im Garten umherschweifen, bekam den Baum gezeigt, von dem ihr Papa einstens, als Bübchen »ohne allen Schaden« heruntergefallen war, durfte mit Herrn Mehlmann und Charlotte am Baumelschub kegeln und faßte ein wenig bessern Mut, da Mama Mehlmanns Gesicht andauernd freundlich blieb.

Auch Tante Rickwitz' Stimme war nicht wieder grollend geworden; tief klang sie zwar immer, aber je weiter der Tag hinging, um so vertraulicher wurde man.

Schließlich begleiteten alle vier die Eisenacher zum Sechsuhrzug nach der Bahn zurück. Eine der Damen Mehlmann verschwand auf dem Weg einmal in einem Laden und kam mit einem Päckchen zurück, das sich bei der Wegfahrt als Reisezehrung für das »liebe kleine Mädchen« entpuppte. Tante Rätin küßte sie auf die Stirn. »Adieu, Kindchen, du kannst deinen Eltern schreiben, du hättest mir gefallen; du bist noch etwas grün und linkisch, aber besser, es redet in deinen Jahren einer zehn Worte zu wenig, als eins zu viel. Ich lade dich wieder einmal ein, wenn die Charlotte herüberkommt.«

Das würde nun herrlich gewesen sein, wenn nicht auch dies Lob ihrer Bescheidenheit Gustel unverdient in den Schoß gefallen wäre – ohne die Gegenwart der Damen Mehlmann hätte der Wildfang natürlich mindestens zehn Worte zu viel gesprochen. Sie saß im Eisenbahnwagen ganz still in den Polstern und rührte sich nicht.

»Nun, Gustelchen?« fragte Fräulein Charlotte, als längst die letzten Häuser Gothas verschwunden waren. Da sah Gustel auf und hatte richtig ein paar bezwungene Tropfen in den Augen. »Wenn sie mich nur nicht gelobt hätten,« sagte sie beklommen, »mir ist gerade so zu Mute, als hätte ich etwas Kostbares genommen, was mir gar nicht gehört.«

»Ein Lob, das wir als unverdient empfinden, ist auch manchmal eine Strafe, Gustel, man muß sie eben hinnehmen.«

Ach, die lieben grauen Augen! – Plötzlich lag Gustel in Fräulein Charlottens Armen und schluchzte wie ein Jahrkind. Charlotte hielt sie ganz still umfangen und ließ sie schluchzen; dann aber sagte sie: »Nun werden die Tränen getrocknet und wir suchen uns die tapfere Gustel wieder zusammen, sonst denkt Villa Schering, ich habe das Fischchen zu einer Tante Werwolf geführt.«

Gustel hatte sich ausgeweint und suchte gehorsam ihre Tapferkeit hervor. Die Erlebnisse sahen jetzt wirklich nicht mehr so nachtschwarz aus.

Als der Zug in Eisenach einfuhr, sagte sie: »Es war schrecklich, aber manches doch auch wieder schön; die beiden Damen waren gar nicht mehr so komisch, nur rührend gut. Und Tante Rickwitz will mich wieder einladen!«

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