Herman Grimm
Das Leben Michelangelos
Herman Grimm

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VII

Das Ziel der Flucht war Venedig. Sie reiten nach Norden, wo diesseits der Apenninen noch ein Zipfel ferraresisches Gebiet lag. Zu Castelnuovo in der Carfagnana, so wurde der dem Herzog von Ferrara gehörige Strich Landes benannt, machen sie Halt. Hier fand eine tragische Begegnung statt. Tommaso Soderini, den Bruder des Kardinals, und Niccolo Capponi trafen sie, Mitglieder der an den Kaiser geschickten Gesandtschaft, welche, nachdem sie eine Zeitlang hingehalten und mit ungewissen Worten vertröstet worden waren, endlich die Überzeugung vom Scheitern ihrer Bemühungen gewinnen mußten und auf der Rückreise bis Castelnuovo gekommen waren. Sie zögerten, nach Florenz zu gehen. Michelangelo verweigerte es, Capponi aufzusuchen, durch Corsini erfuhr dieser, wie die Dinge zu Hause standen, und was er hörte, warf den alten, gebrochenen Mann so völlig nieder, daß er dadurch ein Ende seiner Laufbahn fand. Er legte sich hin und starb, während Soderini nach Pisa ging und von dort erst, als ihm mit der Achterklärung gedroht wurde, nach Florenz zurückkehrte. Mit den Soderinis hatte es eigentlich schon 1523 ein Ende, als der Kardinal bei der Papstwahl unterlag, die Ereignisse von 1530 haben der Familie den letzten Stoß gegeben.

Aus der Carfagnana ging die Flucht über das Gebirge nach Ferrara weiter. Gleich hinter Ferrara liegt Polisella am Po, von wo man am bequemsten zu Wasser nach Venedig gelangt. Als sie sich dort einschiffen wollen, bittet Corsini Michelangelo haltzumachen. Er müsse noch einmal in die Stadt zurück, Michelangelo möge auf ihn warten. Corsini aber kam nicht wieder; der florentinische Gesandte wußte ihm so eindringlich zuzureden, daß er sich zur Umkehr entschloß. Auch Piloto scheint mit den Pferden hier kehrt gemacht zu haben. Michelangelo ging mit seinem Diener allein nach Venedig weiter. Er fuhr, wenn er diesen Weg wählte, den Po hinunter, im adriatischen Meere dann die Küste entlang nach Norden und erreichte die Stadt, unter allen italienischen Städten damals die einzige, welche ihre alte Freiheit im alten Sinne bewahrt hatte.

Wie ein phantastisches Gedicht erscheint die Erzählung von den Schicksalen Venedigs im großen Bericht von den Erlebnissen der Menschheit. Überall wo sich sonst großartige Verhältnisse gestalten, erblicken wir ein Volk, ein Vaterland, eine politische Entwicklung der Staatsform in fast notwendig wechselnden Übergängen vom Anfang zum Verfall: hier nichts von alledem. Kein Volk, denn zusammengefundene Menschen ohne bestimmtes Herkommen gründen diesen Staat: kein Vaterland, denn auf sumpfigem, mitten im Meere gelegenem Erdboden bauen sie eine Stadt ohne Mauern, und das Gebiet, das sie dazu erobern, besteht aus weit auseinanderliegenden Teilen: ein Stück Lombardei, ein paar Küstenstädte Italiens, griechisches Festland, überall Nester, die an die Felsen geklebt sind, und deren jedes nur zufälliger Besitz ist, der sich vertauschen oder entbehren läßt. Als bestände England heute nur aus Zypern, Gibraltar, Irland, Indien, Australien und Kanada, und als regierender Mittelpunkt dafür London, aber ohne England, die Stadt allein, mitten im Meere liegend. So für die Venezianer: das Meer und das Verdeck ihrer Schiffe war ihr Vaterland. Und endlich, keine Entwicklung; denn was die Venezianer als Staat gewesen sind, waren sie so gut wie von Anfang an: eine mit eisernen Klammern ineinander verschränkte Aristokratie, die sich immer enger zusammenziehend das herrschende Element blieb. Niemals hat eine Herrschaft der Parteien stattgefunden, nie politisches Volksleben bestanden, nie sind Männer aufgetreten, die von den Massen getragen, sich an die Spitze der Dinge stellten; und als nach einem Jahrtausend des Bestehens der Untergang eintritt, plötzliches Einbrechen und Verschwinden. Kein Nachklang der alten Herrlichkeit. Niemand heute, in dessen Bewußtsein die Idee fortlebte vom alten Glanze des venezianischen Staates. Denn die Venezianer unserer Tage haben in ihren Wünschen nichts gemein mit dem Geiste der Familien, deren Namen im goldnen Buche verzeichnet standen. Nur die Stadt selber ist geblieben, ihre Paläste leer, wie ausgeblasene glänzende Eier, aus denen sich keine Jungen mehr erbrüten lassen. Auch Florenz und Rom und Genua sind nicht mehr, was sie waren, aber der Wechsel der Jahrhunderte hat hier niemals das treibende Leben ausgelöscht, und immer erfüllt eine sich rührende Menge die Straßen. Venedig aber steht da wie ein Theater, in dessen Kulissen die helle Sonne scheint, und samt den Helden, die darin spielten, ist alles und alles auf- und davongegangen.

Auch damals schon, im Jahre 1530, als Michelangelo nach Venedig kam, stand das Wachstum seiner Macht still oder ging abwärts, was dasselbe bedeutet, aber noch immer, wo die Flotten der Republik erschienen, waren sie mächtiger als alle anderen des Mittelmeeres. Und dieses Meer zu jener Zeit, was heute der Ozean ist, und Italien das Land der Kultur und die Mitte der Welt. Freilich hatten die Türken den indischen Handel der Venezianer über Ägypten zerstört, und Spanien und Portugal begannen auf weiteren Wegen Indien und Amerika auszubeuten. Noch aber bildete Venedig das Zentrum des Verkehrs. Denn wie Englands Macht heute auf dem politischen Zustande aller fünf Erdteile beruht, deren Staaten es sämtlich durch die ungeheure Energie überbietet, mit der es alle seine Kräfte zu konzentrieren weiß, so lag die Stärke Venedigs in den Verhältnissen der europäischen Länder, über denen es sämtlich im Vorteil war.

Venedigs glänzendste Zeiten waren die, als nach dem Fall des deutschen Kaisertums Europa in unendliche Bruchstücke auseinanderfiel und nirgends mehr gemeinsames Handeln für große Zwecke möglich schien. Den Fürsten waren durch den Adel die Hände gebunden, die Städte hielten sich zurück, Geld war schwer zu schaffen; wird es endlich aufgebracht, so sind es zusammengelaufene Gewässer, keine stetig fließenden Quellen. In Momenten von größter politischer Wichtigkeit fehlt es. Todesfälle in Fürstenhäusern, Familienverbindungen, Aufstände im Innern lassen Untätigkeit oder Wechsel des Systems eintreten und verhindern das Verfolgen großer Pläne. Stets nur plötzliche Gewitter, die sich bald hier, bald dort entladen und in deren zufälliger Wiederkehr kein sicherer Zusammenhang ist. Keine von allen diesen Störungen in Venedig. Eine große unsterbliche Korporation sitzt wie eine Schar Adler auf ihrem Felsen und späht auf Raub aus. Geld ist da unter allen Umständen, Männer fehlen nie, kein anderes Hindernis bei den Entschlüssen der Regierung als die Ruhe und Vorsicht. mit der man sie faßt; wo zugeschlagen werden soll, ist man imstande zuzuschlagen. Mit bewunderungswürdigem Scharfsinn werden die Dinge betrachtet und die Vor- und Nachteile der Unternehmungen abgewogen, persönliche Leidenschaft muß schweigen, der Einfluß des Zufalls sogar wird kontrolliert und durch die genauesten Instruktionen die Willkür abgewendet. Bei der Wahl des Dogen werden aus 30 durchs Los gefundenen Edelleuten 9 ausgelost, diese wählen 40, daraus wieder 12 ausgelost, diese wählen 25 und so weiter, und der Doge, der endlich daraus hervorgeht, muß durch die Versammlung aller noch einmal bestätigt werden. Unmöglich für diesen, seine Familie emporzubringen, wie die Päpste es vermochten, oder Tyrannengelüste zu hegen, wie die Medici, aber unmöglich auch, daß er Widerstand gefunden hätte, wie die Könige von Deutschland, Frankreich und Spanien, in deren Reichen die Rebellion kein Ende nahm. Alle die verbündeten Edelleute bilden die eine Republik, zu deren Vorteil jeder Willen sich preisgibt und die dem Auslande gegenüber niemals geteilter Meinung ist.

Wir besitzen einen schönen Brief Aretins, worin er Rom und Venedig vergleichend, den Gegensatz hervorhebt, der zwischen diesen beiden Häuptern der Welt wartete. »Wer sie nicht gesehen hat«, schreibt er, »der kennt die beiden Wunder des Erdkreises nicht. Wie in Rom in übermütigen Sprüngen dem Glücke nachgesagt wird, während in Venedig die Regierung ernst und in gravitätischer Würde Schritt vor Schritt vorwärts geht. Kein tollerer Anblick als die sich entgegenarbeitende Verwirrung des römischen Hofes, verglichen mit der ruhigen Einheit der Republik von Venedig. Vom Paradiese könnte man sich vorstellen, wie es darin zugehe, ohne es gesehen zu haben, kein sterblicher Mensch aber, der nicht mit eigenen Augen sah, kann eine Vorstellung haben von den sich kreuzenden Wegen in Rom und von der großartig einfachen Straße, auf der bei uns gewandelt wird. Hier und dort ungeheuere, ineinandergreifende Werke, jenes aber mit gewaltigem Getöse, dieses in unmerklicher Stille weiterarbeitend.«

»Wer nach Venedig kommt«, fährt er fort, »dem müssen alle andern Städte wie elende Armenhäuser erscheinen. Ich mußte lachen neulich über einen Florentiner, als er eine prächtig geschmückte Gondel mit einem Hochzeitszuge darin sah, den Sammet, das Gold, die Edelsteine, von denen die Braut starrte! Wir sind ein Lumpenhaufen dagegen! rief er aus und hatte nicht unrecht, denn bei uns gehen Bäcker- und Schusterfrauen einher wie in anderen Städten Edelfrauen kaum. Wie die türkischen Paschas leben wir hier! Und welch ein Fleisch wird in Venedig gegessen! Hierher und nicht nach Zypern sollte das Reich der Venus und Amors verlegt werden, wo alle Tage Festtag ist und niemals Überdruß und Nachwehen hinterherkommen, wo niemand an das Ende der Dinge und den Tod denkt und die Freiheit mit flatternden Fahnen einherzieht!«

Selbst die letzte Phrase enthält nichts Unwahres. Denn obgleich in der Tat die Aristokratie in Venedig alle Gewalt in Händen hatte und denen, welche nicht zu ihr gehörten, kein Schatten von direktem Einfluß blieb, so war eine solche Teilung der Herrschaft jedoch nicht nur überall sonst hergebracht, sondern sogar nirgends weniger empfindlich als in Venedig. Denn in anderen Ländern und Städten mußte die herrschende Aristokratie sich unter fortwährenden Kämpfen in der Höhe zu erhalten suchen, in Venedig schwamm sie sicher oben auf, und indem dadurch das Gefühl eines bedenklichen Gegensatzes zwischen Hoch und Niedrig fortfiel, bildete die Masse derer, welche ohne hohe Geburt Geist und Intelligenz besaßen, einen natürlichen Anhang an die mächtigen Familien, die sich diesem Einflusse wiederum frei und ohne rückhaltauflegende Gedanken hingaben. Wehe dem, der gegen die Regierung hätte wirken wollen! Aber die Regierung war so empfindlich dennoch dem öffentlichen Bewußtsein gegenüber, und in allen ihrem Streben auf die Befriedigung des allgemeinen Vorteils aus, daß eine Opposition, wo sie sich gezeigt hätte, immer nur die Frucht persönlichen Ehrgeizes oder des Hasses gegen diejenigen sein konnte, welche zufällig in Macht und Ansehen standen. Was dann aber geschah, war Sache des Adels unter sich und berührte die Politik des Staates nicht. Das Volk lebte ungeniert und sicher. In religiösen Dingen hielt man sich unabhängiger von Rom als irgendwo. Venedig war die Zuflucht der Verbannten und Verfolgten. Wäre in jenen Zeiten die Idee eines einigen freien Italiens möglich gewesen, im Anschluß an diese Stadt allein hätte sie sich durchführen lassen. Aber wenn davon die Rede sein soll, muß in Betracht gezogen werden, wie befangen alle Welt damals war in den Satzungen, die einmal, wo es auch war, die hergebrachte Form des Lebens bildeten. Die unvordenkliche Zeit übte noch ihren ganzen Zauber aus. Allgemeines, jeden gleich aburteilendes Recht war ein Gedanke, den niemand begriffen hätte. Einer von uns heute, in solche Verhältnisse zurückversetzt, würde sich in eine furchtbare Sklaverei verschlagen glauben, die keinen ohne Ketten lassend, von der Geburt an dem Niedrigsten wie dem Höchsten Weg und Steg vorschrieb, von denen abzuweichen nur außerordentlichen Naturen möglich ward.


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