Anastasius Grün
Volkslieder aus Krain
Anastasius Grün

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Agnes.

        Es steht, es steht ein weißes Schloß,
Jung Agnes steht am Fensterlein,
Kämmt ihr gelb Haar mit goldnem Kamm.
Gefreit hat böser Türk' um sie,
Gefreit wohl hat er sieben Jahr'
In jedem Jahre siebenmal,
Doch gaben sie die Maid ihm nicht.
»Was ich Euch bitte, Mütterlein,
O Mütterlein und Herrin mein,
Laßt mich zur Türkengrenze gehn,
Mir schöne Blumen zu ersehn.«
»Was ich dir sage, Töchterlein,
Magst nicht zur Türkengrenze gehn,
Dir schöne Blumen zu ersehn,
Dort finge böser Türke dich,
Der um dich freite sieben Jahr
Und siebenmal in jedem Jahr,
Wir aber gaben dich ihm nicht.«
Jung Agnes doch beachtet's nicht,
Zur Türkengrenze wallte sie,
Und kleine Blumen pflückte sie.
Das erste Sträußchen schon sie band
Und es mit Bändern schön umwand:
»Das sei dir, Königssohn in Wien!«
Das zweite Sträußchen schon sie band
Und es mit Bändern schön umwand:
»Das soll für mich, die Agnes, sein!«
Das dritte Sträußchen schon sie wand,
Hielt schon die Blumen in der Hand,
Wie sie sich aber umgedreht,
Der böse Türke vor ihr steht,
Erfaßt sie bei der weißen Hand
Und schleppt sie fort ins Türkenland.

Zum Türken Agnes also spricht:
»Dies, böser Türke, bitt' ich dich,
Laß mich zur Mutter auf Besuch,
Daß ich doch Abschied nehmen kann!«
»Sollst erst zur Mutter auf Besuch,
Bis du ein Söhnlein mir gebarst,
Noch schöner wird's zu sehen sein,
Trägst du am Haupt ein Wiegelein.«
Jung Agnes wohl erwartet's schwer,
Daß ihm der Sohn geboren wär'.

Zum Türken Agnes also spricht:
»Dies, böser Türke, bitt' ich dich,
Laß mich zur Mutter auf Besuch,
Daß ich doch Abschied nehmen kann.«
»Sollst erst zur Mutter auf Besuch,
Wenn sieben Jahr das Söhnlein alt,
Noch schöner wird's zu sehen sein,
Wenn vor dir wallt das Söhnchen klein.«
Jung Agnes wohl erwartet's schwer,
Daß sieben Jahr das Söhnchen wär'.

Zum Türken Agnes also spricht:
»Dies, böser Türke, bitt' ich dich,
Laß mich zur Mutter auf Besuch,
Daß ich doch Abschied nehmen kann.«
»Sollst erst zur Mutter auf Besuch.
Wenn vierzehn Jahr das Söhnchen alt,
Daß lesen es und schreiben lern',
Zu raten wisse jedem Herrn.«
Jung Agnes wohl erwartet's schwer,
Daß vierzehn Jahr das Söhnlein wär'.

Zum Türken Agnes also spricht:
»Dies, böser Türke, bitt' ich dich,
Laß mich zur Mutter auf Besuch,
Daß ich doch Abschied nehmen kann.«
»Was soll ich täuschen dich noch mehr?
Nach Hause kehrst du nimmermehr!«
»Herbei, herbei, du Söhnchen mein,
Und schreibe schnell ein Briefchen fein
An Vater mein und Mütterchen,
Daß sie mich nimmer wiedersehn,
Und schreib ein andres Briefchen fein
Dem Königssohn nach Wien hinein,
Er mag ein andres Lieb ersehn,
Mich wird er nimmer wiedersehn.«


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