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Etwa zwei Wochen nach dieser Abendgesellschaft schritt Rechtsanwalt Heller in problematischer Stimmung aus dem großen Moabiter Gerichtsgebäude. Friedlose Gedanken bewegten ihn. Er fand sich nicht mehr zurecht in den Irrwegen der ihn umgebenden, eigentümlichen Verhältnisse. Es war auch kaum jemand da, der ihm zu helfen vermocht hätte. Er wollte nicht grübeln, gewiß nicht; denn alles Nachdenkliche lag seinem Wesen fern. Aber darüber war er sich klar, er trug nicht die Schuld – es lag in ihr und nur in ihr. Sie stand nicht mit der Mutter und stimmte nicht mit den Brüdern und machte ihm, dem Manne, das Haus zur Hölle. Weshalb sie sich ihm entzogen, ihm, dem sie sich zuerst so schrankenlos hingegeben, das begriff er nicht. Und er begriff nicht diese plötzliche Störrigkeit, die über sie gekommen, die ehedem fügsam wie ein Kind gewesen, einem bloßen Blick von ihm gehorchend, in seinen Händen weiches Wachs, und nun sich ihm entwindend, scheu und spröde. Deutlich empfand er, daß sie sich immer mehr von ihm entfernte und sein Unvermögen, ebenso gewaltsam über sie Herr zu werden. Wollte er mit starken Worten auf sie einstürmen, so verwirrten ihn ihre schreckhaften Blicke, oder es lähmte seinen Willen, wenn sie ihm schweigend zuhörte, dann lautlos sich erhob, ihn einen Augenblick durchdringend ansah und leise das Zimmer verließ. Abwarten, ruhig abwarten schien Rechtsanwalt Heller das Zweckmäßigste. Langsam ging er die Stufen hinauf.
Gottlob, er hatte Appetit. Der Magen knurrte ihm ordentlich. Und hell wurde es wieder in ihm. Man kam doch eigentlich nur in gute Stimmung, wenn die Magenfrage gelöst war. Gewiß von ihr war es niederträchtig, seine frohe Laune jedesmal zu stören. Was wollte sie eigentlich von ihm? Konnte es einen Genügsameren geben? War es ein vermessener Wunsch, wenn er eine angenehme Häuslichkeit und die Erfüllung dessen, was in ihrer Frauennatur lag, forderte. Er wurde ganz unwillig. Es kränkte ihn, daß er nicht wie früher den Mut fand, sie anzufahren und ihr den Text zu lesen. Er fluchte auf die Ärzte. Nerven – wo es sich um Launen handelte; Schonung, wo es vielleicht gerade darauf ankam, seinen Manneswillen durchzusetzen. Sein frisches Gesicht nahm einen kläglichen Ausdruck an. Was hatte er in seiner Ehe nicht schon alles durchgemacht. Was war das überhaupt für eine Ehe? Und wohin sollte das führen? War er nicht ein Narr, wenn er diese Demütigungen ertrug, sich mit befremdlicher Gebärde von ihr bei Seite schieben ließ, so oft ihn starkes Empfinden zu ihr trieb? Und wie leise das alles eingesetzt, wie versteckt, verstohlen und heimlich, so daß er es nicht verstand, und hilflos, in sich selbst unsicher und verlegen wurde, die Wandlung erst begriff, als er ihre ätzenden Wirkungen verspürte. Wenn er nur ahnte, was sie trieb und bewegte.
Die Lerchs trösteten ihn: es hinge wohl doch mit ihrer langen Krankheit zusammen. Und eine Zeit lang fürchteten auch alle das Schlimmste, damals, wo sie teilnahmslos vor sich hingebrütet und nicht einmal für das Kind empfänglich gewesen war.
Professor Mendel hatte die Familie beruhigt, eine Melancholie, wie er sagte, die hauptsächlich in ihrem geschwächten, körperlichen Befinden begründet war.
Er erinnerte sich noch ganz deutlich des peinlichen Auftritts, wie sie, nachdem der Professor fortgegangen, plötzlich aufstand und mit beängstigender Miene und einer Stimme, deren Klang dumpf, leise und doch zischend war, zu ihrer Mutter und zu ihm die Worte hervorstieß: der Professor war ganz überflüssig, für die maison de santé bin ich noch nicht reif. Und ehe er und die Schwiegermutter noch eine Antwort hervorbringen konnten, hatte sie schon die Thür hinter sich zugeschlagen und war auf ihr Zimmer geeilt.
Sie mied überhaupt jede Auseinandersetzung, die ihre Person betraf. Entweder hörte sie stumm zu, ohne eine Silbe zu erwidern, oder aber sie erhob sich plötzlich, um nach einer jähen Bemerkung unvermittelt sich zurückzuziehen.
Rechtsanwalt Heller schloß die Entreetür. Ein herzzerreißendes Weinen drang zu seinen Ohren.
Er stampfte mit dem Fuße auf. und warf ärgerlich die Sachen von sich. Dann riß er mit einer heftigen Bewegung die Tür auf, die zum Speisezimmer führte.
Niemand war drinnen.
Er wollte gerade am Telephon drücken, als Frau Regine eintrat.
»Was ist denn schon wieder mit dem Jungen, warum schreit er, was hat man mit ihm angestellt – was ...« Er unterbrach sich plötzlich und ging erregt durch das Gemach.
»Ja, bekomme ich denn keine Antwort?« schrie er und blieb stehen. Er fühlte ferne Sicherheit wieder schwinden und wie Scheu über ihn kam und Furcht vor ihren Blicken und dem leblosen Ton ihrer Stimme, aus dem sie alles persönliche Empfinden auszuschaben wußte, als läge es in ihren schweigsamen Wünschen, immer tiefer die Furche zwischen ihm und ihr zu ziehen.
»Ich weiß nicht, wen Du unter ›man‹ verstehst,« sagte sie endlich; »im übrigen, ich habe das angestellt, ich habe Fritz eingesperrt, ich! Er hat nach dem Fräulein gespuckt und wollte nicht abbitten, und deshalb darf er heute nicht bei Tische sitzen.«
»Man sperrt aber kein Kind ein ... ein Kind darf auch einmal ungezogen sein. Man legt das nicht alles gleich auf die Wagschale. Und dann, wenn ich abgespannt nach Hause komme, danke ich für das Konzert, ich will mich an dem Kinde freuen, ich will ...«
Das Geschrei wurde immer lauter, es schien beinahe, als ob der Knabe ahnte, daß der Papa seine Partei nahm.
»Laß ihn heraus«, sagte er kurz.
»Nein,« entgegnete sie, »das werde ich nicht tun, gewiß, ein Kind darf ungezogen sein, weil es keinen Verstand besitzt. Wenn es aber sein Unrecht nicht einsehen will, so muß man es strafen, so lange man noch Macht hat; so lange man es überhaupt noch leiten kann. Zieht man dann die Strafe zurück, so ist es gegen das Kind schlecht und charakterlos gehandelt.«
Er schwieg einen Moment, während das Blut ihm zu Kopfe stieg. Nur, wenn sie über den Jungen stritten, stand sie ihm Rede, zwar in lästigem Zwang und kaltem Widerwillen, aber in dem Bewußtsein, daß das sein Recht und ihre Pflicht sei.
Hellers gereizte Stimmung brach durch. Sein Groll mußte sich einmal entbürden. Wohl empfand er, daß sie Recht hatte, aber wie sie ihr Recht wollte, in überlegenem Hohn und steilen Worten, das kränkte ihn. Jetzt galt es nicht mehr das Kind, es galt Willen gegen Willen, und seine ganze Manneswürde stand auf dem Spiel. Rechtsanwalt Heller wurde auf einmal feierlich. Das lag überhaupt in seinem Wesen.
»Ich will, daß der Junge mit uns speist,« sagte er mit erhobener Stimme, »hörst Du, ich will das.«
In diesem Augenblick war er ihr lächerlich und tat ihr doch leid, leid, weil sie sich ihrer ganzen Überlegenheit bewußt wurde und so klar seinen Gedankensprung vor sich sah.
Sie konnte sich ihm nicht mehr geben, dazu war es zu spät. Aber daß er sie in naiver Selbstbehaglichkeit, bloß in ihrer Härte, in ungelösten Rätseln und hysterischen Weiberlaunen empfand, peinigte ihre Frauennatur in demselben Maße, wie es sie seelisch und körperlich immer weiter von ihm stieß.
Langsam wandte sie sich zur Tür, ein wenig vornübergeneigt.
Heller hielt sich nicht länger.
»Bleib hier!« herrschte er sie an.
Und da sie tat, als hörte sie ihn kaum, war er mit einem Sprung an ihrer Seite und umklammerte ihr Handgelenk. Die beiden ein wenig vorstrebenden Vorderzähne in die Unterlippe gepreßt, zwischen den Brauen gerade über der Nasenwurzel diese kurzen, tiefen Falten, den Oberkörper jetzt halbkreisförmig gebeugt, als wollte sie niederstürzen, sah sie ihn wortlos, durchdringend an.
Er ließ verwirrt ihre Hand frei und taumelte ein paar Schritte zurück. Seine weichen, knabenhaften Züge nahmen einen verstörten Ausdruck an.
Sie sprach keine Silbe; lautlos verließ sie das Zimmer.
Heller trat an das Fenster und preßte die Stirn an die Scheiben.
Aber dann überkam ihn eine maßlose Wut.
Er stand plötzlich an dem gedeckten Tisch, und ohne zu wissen, was er tat, hatte er einen Teller genommen und zur Erde geschleudert, daß die Scherben nur so klirrten.
Die Tür ging auf. Mit einem Ruck wandte er sich um.
Es war das Dienstmädchen, das den Jungen hereinbrachte.
Sie blieb erschrocken an der offenen Tür stehen. Das Kind mit seinen verweinten Augen klammerte sich ängstlich an ihrem Rocke fest.
»Was wollen Sie?« herrschte Heller sie an.
»Gnädige Frau haben befohlen,« antwortete sie verschüchtert, »daß ich den Jungen zum Herrn ... und dann wollte ich fragen, ob ich auftragen könnte ... gnädige Frau sind unwohl ... das Fräulein ist bei ihr.«
Jetzt fing das Kind an, laut zu weinen. »Fitzel bav sein ... Fitzel zu Mama ... Mama kank ...« schluchzte es kläglich.
Advokat Heller nahm seinen Jungen auf den Schoß und wischte ihm die Tränen aus den Augen. Und zu dem Hausmädchen mit halber Stimme: »Es ist gut, Sie können die Suppe bringen!«