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In den nächsten Wochen sahen sie sich täglich; Advokat Heller schwärmte für den entzückenden Kollegen. Das sei sein Mann, bescheiden und wissensreich, und wenn ein anderer mit Bettelmünzen groß tue, so werfe er wie ein Verschwender mit Ideen und Anregungen um sich.
»Du wirst sehen,« sagte er zu Regine, »der Mann macht Karriere, der endet nicht als simpler Rechtsanwalt.«
Im stillen aber lachte Heller die Medizinmänner aus und hielt sich für einen feinen Psychologen. Was brauchte er die Ärzte, die ihn immer auf die Zukunft vertröstet hatten. Er war in seinem Hause selber Arzt, er hatte es bewiesen. Aus dem ewigen Einerlei hatte er Gine gerissen und den Interessen der Welt wiedergegeben. Schwer freilich hatte sie es ihm gemacht, und seine ganze Mannesenergie hatte er einsetzen müssen, um ihren Widerstand zu brechen. Nun, es war gelungen, die Mühe war nicht umsonst gewesen. Er lächelte still zufrieden in sich hinein. Das stand in jedem Falle fest, Kollege Gent war ihnen in dieser Zeit ein wahrer Freund geworden. Heller hatte gleich am Anfang mit Gent den Fall besprochen, ganz freimütig, weil er Vertrauen zu ihm hatte. Wie fein und treffsicher hatte der Kollege erwidert: Auch ich habe den Eindruck, daß Ihre Frau Gemahlin den Grübeleien der Einsamkeit verfallen ist.
Das war ihre gemeinsame Diagnose gewesen, und von dem Fund ausgehend, hatten sie den Schlachtplan entworfen: Man war jeden Tag unterwegs gewesen, so gut wie jeden Tag und immer da, wo es etwas zu hören oder zu sehen gab – heute in der Philharmonie bei Richard Strauß – morgen im Opernhaus, wo Weingartners Genie Wagner klassisch wiedergab, tags darauf im Deutschen Theater, am nächsten Abend souper bei Dressel und so fort in infinitum. Ohne Advokat Gents Hilfe, das gestand sich Heller ohne weiteres ein, wäre alles das nicht denkbar gewesen. Der hatte sich geradezu geopfert, von allen Verpflichtungen freigemacht, um mit ihm die Aufgabe durchzuführen, Frau Regine dem Leben wiederzuschenken. Dazu hatte es Gent getrieben nach jenem seltsamen Gespräch zwischen ihm und der jungen Frau. In bewegter Stimmung war er damals heimgegangen, ganz von dem Empfinden erfüllt, für das sie selber das rechte Bild gefunden. Ja, ihm war zumute gewesen, als ob er einem Begräbnis beigewohnt und Leidgängerworte vernommen hätte, die ihm noch beim Nachhauseweg in den Ohren gesurrt hatten.
Von der Stunde an waren seine Gedanken bei ihr gewesen, Erst, als er sich entschloß, von neuem mit Hellers zusammenzutreffen, hatte er seine Ruhe wiedergefunden. Dann hatte er es für seine Pflicht gehalten, auf dieses junge Wesen Einfluß zu gewinnen, ihrer Lebensfeindlichkeit die Bedingungen zu nehmen. Behutsam hatte er es angefangen, ganz allmählich erst eindringlicher werdend. Ein Gärtner war er gewesen, der mit Mühe und Sorgfalt ein verkümmertes Pflänzchen zu erhalten sucht. Sie hatte sich im Anfang scheu vor ihm zurückgezogen, ihn mißtrauisch betrachtend, fast als ob sie bedauerte, ihn zum Zeugen einer herbern Stimmung gemacht zu haben. Aber allmählich hatte es kaum merklich in ihren Augen aufgeleuchtet, und mochte sie auch in ihrer Zurückhaltung sich stets gleich bleiben, eines war sicher, nicht wie einen Fremden behandelte sie ihn – ja, oft meinte er sogar jenen leisen, herzlichen Ton zu vernehmen, den man nur einen Freund hören läßt.
Sie lächelte freilich zu seinen Versuchen sie weltfreudig zu stimmen, sie nannte ihn einen schlechten Asketen – gleichwohl gab sie endlich nach und ließ sich in jenen Strom sinnlicher Freuden mit fortreißen, in welchem sie sich nach Gents Worten von allem Unbehagen der Seele freibaden sollte.
»Ich tue Ihnen das alles zu Gefallen,« sagte sie ihm einmal, »weil wir nun doch gute Kameraden geworden sind, weil ich wünschte, daß Sie die gute Gesinnung auch auf mein Kind übertrügen, dem ich einen Freund zurücklassen möchte – wenn ich ...« Er wollte sie unterbrechen, aber sie wehrte mit einem scheuen Lächeln ab. »Ich will sagen,« fuhr sie fort, »wenn ich früher fortmüßte, als ich es um seinetwillen möchte. Sie sehen mich so ernsthaft und erschreckt an, Herr Doktor, als wenn man nicht auch diesen Fall voraussehen dürfte. Warum soll man nicht vom Tode sprechen?«
Unmutig entgegnete er: »Sie haben sich an diesen Sterbegedanken so festgeklammert, daß er keine Freudigkeit der Empfindung in Ihnen mehr aufkommen läßt. Das ist es, was mich für Sie, gnädige Frau, schreckt. Ich für mein Teil bin nicht todesbang, aber ich bin doch nicht Asket genug, um ewiger Sklave des Memento mori zu sein. Der Lebende soll sich ans Leben halten – das Leben, ist wert, gelebt zu werden.«
Sie sah ihn etwas spöttisch an, so daß er einigermaßen in Verwirrung geriet.
»Und sie glauben wirklich,« sagte sie, »Sie könnten mir mit diesen Lustbarkeiten eine andere Weltanschauung geben?«
»Ich dachte in der Tat,« erwiderte er langsam, »daß Ihre Verstimmung den großen Kunsteindrücken weichen würde.«
»Ja, wer sagt Ihnen, daß auf mich Kunst wirkt?«
»Für so abgestumpft hielt ich Sie nicht.«
Sie: »Kunst genießen zu können setzt eine rein gestimmte Seele voraus!«
Gespräche solcher Art führten sie oft; und wenn Advokat Heller wie ein Sieger einherschritt, so war der Kollege Gent nahe daran, die Schlacht aufzugeben. Er blieb einige Tage fort – aber in diesen Tagen litt er Qualen. Die Arbeit war ihm leid – der Tag so lang und eine verzehrende Unruhe bemächtigte sich seiner. Er erschrak vor sich selbst, was war aus ihm geworden, der den Frauen scheu und ängstlich fast aus dem Wege gegangen war und vor jeder Berührung mit ihnen wie eine Schnecke in sich selbst zurückgekrochen war? Ja, was war aus ihm geworden? Was wollte er eigentlich? Liebte er diese Frau, war das vielleicht der letzte Grund, weshalb er Bekehrungsversuche machte? Er gab sich darauf keine Antwort. Aber wenn er sie wirklich liebte, was dann? Immer wieder kam er auf diesen Punkt zurück. Er hatte die Frauen bislang gemieden – ein unantastbares Mysterium waren sie ihm gewesen. In heimlicher Furcht, es könnten seine reinen Vorstellungen befleckt werden – war er ihnen aus dem Wege gegangen. Er gehörte dieser ganzen Anschauung nach zu jenem Typ von Männern, der häufiger, als man denkt, in den oberen Jahrgängen der Zwanzig zu treffen ist.
Aber jetzt: von neuem stets verfolgte ihn dieses: wenn es dennoch Leidenschaft wäre, die ihn zu ihr trieb? Denn elend und krank, seiner selbst nicht Herr, war er in diesen Tagen geworden, die ihm eine Ewigkeit schienen. Vielleicht war es nur starke Gewöhnung, die ihn am Gängelbande hielt, vielleicht war es ihm nur Bedürfnis, die Hoheit ihres Wesens persönlich zu empfinden, was wußte er? Gelacht hatte er über die Psychologen und Romanschreiber, über Stendhal, der von der Krystallisation der Liebe ausging, über all die andern, die von ihrer Allmacht sprechen und sie mit der Kraft des jungen Frühlings verglichen, der über die Haide braust und mit seiner Gottgewalt die Wasser der Berge mit sich fortreißt, gutmütig gelacht hatte er und Phantasten sie genannt. Und jetzt!
Er hielt noch einige Tage an sich: er stürzte sich mit Zwang in die Arbeit. Zwingen wollte er es. Er hatte einen Prozeß vor sich, der sein ganzes Interesse in Anspruch nahm – und doch so viele Gedanken für Frau Heller frei ließ. Eine Kindesmörderin sollte er verteidigen, die auch an sich Hand zu legen versucht hatte. Das Wesen dauerte ihn – und seltsam, so oft er zu ihr in's Untersuchungsgefängnis kam, beschlich ihn die Empfindung, daß die Unglückliche ihrer ganzen Art nach Frau Heller ähnelte. Ja selbst eine entfernte äußerliche Ähnlichkeit war vorhanden. Den herbgeschlossenen Mund, den düsteren Blick hatten beide; beiden war die gleiche Lebensfeindlichkeit eigentümlich. Dem Advokaten ging das Verhör mit dem Mädchen nahe. Zuerst schwieg sie auf alle seine Fragen, und sah teilnahmslos mit verschränkten Armen, die Unterlippe ein wenig heruntergezogen, zu ihm empor. Erst ganz allmählich gelang es ihm, sie zur Aussprache zu bewegen. Aber schon die Art, wie sie mit ihm verhandelte, bewegte ihn.
»Sie wollen oder sollen mich verteidigen?«
»Ja!«
»Dann werden Sie eine rührende Rede halten, die in die Zeitungen kommt, nicht?«
»Ich möchte nicht rührend, sondern wahr sprechen,« entgegnete er ernst, »und gerade dadurch Ihrer Sache nützen.«
»Das möchten Sie?«
Sie sah ihn beinah spöttisch an, geradeso, wie Frau Heller ihn bei ihren Gesprächen öfter angesehen hatte. Dann sagte sie: »Um die schöne Rede werden Sie kommen, Herr Doktor. Ich leugne nichts – gar nichts.«
»Es kommt nicht auf das Leugnen an, Fräulein. Es kommt darauf an, ob Sie aus Motiven gehandelt haben, nach denen Sie vor den Geschworenen milder beurteilt werden könnten. An der schönen Rede liegt mir absolut nichts.«
Eine Weile hatte sie vor sich hingesonnen, dann fragte sie: »Was soll ich beginnen, wenn ich herauskomme, Herr Doktor, ich will Ihnen das Leben nicht sauer machen. Das Kind hab ich mit voller Überlegung« – sie schüttelt sich einen Augenblick wie im Krampf, ehe sie noch einmal wiederholte, »mit voller Überlegung fortgeschafft. Ich würd es heute grad so tun. In all den Monaten war ich darüber mit mir im Klaren.«
»Wollen Sie mir sagen,« fragte er, »warum Sie das getan haben?«
Da ließ sie die Arme sinken und sah ihn still an. Endlich antwortete sie: »Das Wurm sollte nicht so unselig werden wie ich.« Und dann setzte sie langsam hinzu: »es war ein Junge ... ich hatte Furcht, es könnt einen Schurken geben wie sein Vater.«
Der Advokat sah betroffen zu ihr empor. Die Ausdrucksweise des Mädchens verwunderte ihn.
Sie mochte ahnen, was in ihm vorging.
»Ich bin guter Leute Kind,« sagte sie, und einen Moment leidenschaftlicher werdend, fuhr sie fort, »wen kümmert es, was ich mit dem Wurm angefangen hab ... es gehörte ja mir ... mir allein, und wen kümmert es, daß auch ich fort wollte ... was hielt man mich ... was ... ich kann ja doch nicht leben, schrie sie ... ich kann ja nicht ... und mit erschütterndem Schluchzen: »Ich geh ja doch fort ... ich muß fort ... ich muß zu dem Kinde,« stieß sie wie irre hervor.
Gent verließ sie bald. Es war an dem Tage nichts mehr aus ihr heraus zu kriegen. Nachdenklich schritt er nach Hause. Zu Hellers wollte er nun doch nicht mehr. Die Lust und Stimmung war ihm vergangen. Was gab es doch für verhärmte Existenzen, von denen man in seiner warm geheizten Stube keine Ahnung hatte. Hatte da Frau Regine nicht doch Recht, als sie damals den Selbstmord verteidigte und von Menschen sprach, denen der Erdboden abgetragen war? Frau Heller ... Frau Heller ...! Den Advokaten packte ein Grauen. Was würde er beginnen, er mit seinem Leben, wenn am andern Morgen der Kollege mit verzerrter Miene die Tür zu seinem Zimmer aufreißen und ihm ins Ohr brüllen würde: »sie hat sich umgebracht ... so hören Sie nur, sie hat sich umgebracht!«
War das so ausgeschlossen? War er denn nicht überzeugt, daß in ihrer Seele solcher Drang wuchs? Wer hatte das Recht, so ein armes Geschöpf zu schelten, das mit dem Leben nicht fertig werden konnte? Es kam ihm auf einmal so unsäglich trivial vor, daß er mit diesen kleinen Kunststücken auf sie wirken wollte – als wenn das Allheilmittel wären! Aber gab es denn überhaupt Allheilmittel in dieser Zeit, die dem Skeptizismus und Materialismus gehörte?
Seit langem war der Advokat nicht in so verzagter Stimmung heimgekehrt. Die alte Haushälterin sah ihn scheu von der Seite an. Das veränderte Wesen des Herrn tat ihr weh; und doch hätte sie sich lieber den Finger abgebissen, als ihn zu fragen. Sie war noch aus jener strengen Zeit, wo die Dienenden mit ihrer Herrschaft litten, aber die Grenze der Ehrfurcht und des Respektes scharf gezogen war.
»Der Herr Doktor Heller sind drinnen, schon eine gute Stunde,« sagte sie, als er eintrat.
Ein Schrecken durchfuhr ihn, er sah sie einen Moment starr an.
»Wer?« fragte er dann mit schwerer Zunge. Aber ohne auf ihre Antwort zu achten, eilte er in sein Zimmer. Vor der Tür blieb er stehen und lauschte. Aber er hörte nichts. Er nahm sich zusammen. »Mein Gott,« murmelte er zitternd, das kann ja nicht sein. Er klinkte auf.
Heller sprang ihm mit der vergnügtesten Miene entgegen. »Sie sind mir schön!« rief er, »verlassen uns treulos desertieren einfach, und denken das ginge so. Außer uns sind wir. Und wenn meine Frau wieder einen Rückschlag bekommt, Sie sind daran schuld. Im Ernst, Kollege, was stellen Sie mit uns an – und wie haben wir Sie vermißt – wo steckten Sie denn eigentlich?«
Advokat Gent sog jedes Wort dieser langatmigen Rede wie eine Wonne ein, jedes Wort gab ihm ja neue Gewißheit, daß sein schreckhaftes Ahnen nur Hirngespinst war!
»Ich hatte zu tun!« stammelte er, »ich konnte wirklich nicht!«
Heller sah ihn zwinkernd an.
»Machen Sie nur keine Ausflüchte. Sie fühlen sich schuldig und treten Buße an. Das heißt, Sie kommen sofort mit. So will es meine Frau.«
Gent zauderte noch, aber Heller ließ ihn nicht locker, so daß er, ohne mit sich selbst ins Klare gekommen zu sein, nachgab.
Frau Heller empfing ihn mit bleichem, leidendem Gesicht.
»Die Freunde werden schlecht von Ihnen behandelt,« sagte sie. »Das ist doch wider den Pakt!«
»Gewiß,« gab er ausweichend zurück, »und ich kann nichts anderes zu meiner Verteidigung sagen, als daß ich des öfteren kommen wollte, durch allerhand jedoch zurückgehalten wurde.«
»Darf man nach den Gründen forschen?«
Er wurde erst verlegen, dann erzählte er ihr rückhaltlos von seiner Klientin.
Sie hörte ihm gespannt zu. »Ich begreife das Mädchen,« sagte sie leise. »Ich begreife sie so gut und ich finde es grausam, daß der Staat sich zwischen sie und ihr Eigenes schiebt.«
»Ich bin heut mit Ihnen einer Meinung,« erwiderte er. »Es ist das aber ein Problem, das so bald nicht aus der Welt geschafft werden wird. Der Staat folgt übrigens einem Selbsterhaltungstriebe und macht sein Recht auf den Menschen geltend. Er schützt schon das keimende Leben.«
»Der Staat ... immer der Staat – und so ein armes Menschenkind kann sich langsam zu Tode martern, wollte es nach ihm und seinen Gesetzen fragen.«
»Sie greifen natürlich auch den Staat an,« und lächelnd fügte er hinzu: »Ihnen ist ja wohl nichts heilig. Sie kommen gleich hinter Max Stirner, der den Staat wie so vieles andere nur als eine fixe Idee nimmt.«
»Wenn er das tut, so ist er mein Mann,« gab sie zurück.
Ihm wurde das Gespräch peinlich. Mit feinem Fraueninstinkt merkte sie die Wirkung ihrer Worte.
»Berührt Sie das unangenehm?«
»Aufrichtig gesprochen: ja!« entgegnete er. Diese Selbstherrlichkeit, die alles leugnet und nur die eigene Person gelten läßt. Die den Staat fortwerfen möchte, weil er der individuellen Freiheitsbetätigung hinderlich ist, diese Selbstherrlichkeit, die sich über Religion, Form und Sitte, über alle Kulturwerte hinwegsetzt – denn Sie werden schwerlich leugnen können, daß Staat, Religion, Sitte große Kulturerrungenschaften darstellen – ich sage mein beschränkter Verstand räumt keinem, auch nicht dem größten Geiste, die Berechtigung zu solcher Freiheit ein; ja, die großen Geister haben sich auch innerhalb dieser Beschränkungen frei gemacht und entwickelt.«
»Jetzt muß ich erst ein wenig nachdenken,« antwortete sie, indem sie den Zeigefinger, wie es dem Advokaten schien, mit einem leisen Anflug von Koketterie an die Stirn legte, »damit das, was ich zu erwidern habe, nicht allzu frauenhaft klingt. So, jetzt habe ich's. Ich hab wohl die Spitze verstanden. Die größten Geister sind nicht zu Rande gekommen, darum sollen sich die Kleinen erst recht bescheiden. Dagegen aber stemme ich mich. Die Kleinen haben viel mehr Grund sich zu wehren. Denn die Großen sind innerlich befreit – und für sie existieren kaum noch die Hemmnisse der Außenwelt. Aber ... wir ... wir Kleinen fühlen sie an Ecken und Enden. Ja, Herr Rechtsanwalt! Und diese persönliche Freiheit ist doch das letzte Ziel – aller Ethik und allem Nazarenertum zum Trotz! Und damit ist auch nicht Kulturniedergang, sondern -aufgang verknüpft. Denn so innerlich Freie werden auch die Freiheit der anderen respektieren, deshalb, weil sie, mit den Dogmen und fixen Ideen einer verlebten Kultur fertig, notwendigerweise eine gewisse Bergeshöhe erreicht haben und dem beengenden Tal entwichen, Freiluft atmen. Solche Herrennaturen werden nicht den Fuß auf den Nacken der anderen setzen – sondern sie emporzuheben suchen. Und in diesem Sinne werden sie sogar ethischer sein, als Sie, Herr Rechtsanwalt! In Parenthese, ich gehöre nicht zu diesen starken Naturen.«
»Doch, Sie gehören dazu – Sie sicher!«
»Gott geb's, ich glaube es nicht.«
»Ich wünschte, Sie hätten mit diesem Unglauben recht. Denn die Schlüsse, die Sie ziehen, sind nach meinem Dafürhalten Trugschlüsse, verehrte Frau! Ich für mein Teil sehne mich nach Menschen, den Übermenschen, den Sie schildern, schenke ich Ihnen gern, weil ich ihn schlechterdings für unmöglich halte. Wenn Frauen so wie Sie sich zu entwickeln streben, so bleiben bittere Enttäuschungen nicht erspart. Ich leugne nicht, daß Sie von einer hohen, sittlichen Auffassung ausgehen, aber wer nicht mit dem Menschlichen rechnet, und Überwerte annimmt, der verrechnet sich leicht. Das ist meine Ansicht, verehrte Frau.«
»Die ich nicht zu teilen vermag!« entgegnete sie schroff. »Jedes Ideal – von unserer Kardinalfrage ganz abgesehen – stellt etwas für den Menschen Überwertiges dar. Wer sich nur an Mittelwerte hält, dessen Seele ist flach und nüchtern, ohne Höhe und Tiefe.«
Er verbeugte sich. »Die Evangelien, gnädige Frau, enthalten für mich die sittlichen Ideale: Sie sind in ihrer Reinheit uns gewiß nicht erreichbar, aber sie rechnen mit allem Menschlichen in uns. Dennoch ist in ihnen Tiefgang. Mögen philosophische oder unphilosophische Köpfe solche Theoreme aufstellen – ich für mein schwaches Teil traue mehr der Weisheit des alten, treuen Buches. Ich werde nie den Gedanken los, daß diese Festnagler fixer Ideen selber Propaganda für eine solche machen. Aber ihre fixe Idee ist ein wollüstiges Hirngespinst – während das, was sie angreifen – es mag seine Leiden, Fehler und Schwächen haben, und ich bin der Letzte, das zu leugnen, trotz alledem eine Basis hat, die fest genug war, um auf ihr zu bauen.«
»Man baut oft auf schwachem Grunde,« sagte sie ernst. »Die Baumeister waren leichtsinnig oder unfrei und geistlos. Der Bau steht eine Weile, und scheint probat, aber dann wird es mit einem Male in seinen Mauern dumpf und stickig, Krankheitsstoffe sammeln sich, und wer nicht an Leib und Seele verderben will, verläßt den Bau. Ich möchte, Herr Doktor, daß auch Sie den alten Bau verließen, dessen Grund und Boden der Sturmflut preisgegeben ist.«
»Ich liebe das Alte, bin selbst ein bißchen antiquiert – und warte auf die Sturmflut. Ich habe übrigens vorhin noch etwas vergessen, setzte er schwerfällig hinzu, das ich mit Verlaub noch nachtragen möchte. Mich dünkt, als ob Frauen Ihres Schlages in dem harten Ringen nach dem Geistigen, in dem Streben nach möglichst weitem Umfassen alles Umfassenswerten, ihr bestes verlieren. Ich meine, diese geistigen Exerzitien gehen auf Kosten des feinen Inhalts ihrer Seele. Ich gehöre zu diesen Philistern, gnädige Frau, denen angst ist vor der Verstandesfrau, denen am Weibe das Gemüt die Sonne ist, wo sie sich wärmen mögen. Aber verzeihen Sie,« unterbrach er sich, »mir scheint, wir werden beide gar pathetisch und sprechen in Bildern. Da sei Gott davor,« scherzte er.
Sie ging nicht auf diesen Ton ein.
»Daß ich mit Ihnen so streiten muß, Herr Doktor! Was nützt Ihrem armen Wesen hinter Schloß und Riegel sein Gemüt? Das hat sie elend und todesmürbe gemacht, viel pessimistischer als Ihren großen Pessimisten, der im Grunde seines Herzens ein leidenschaftlicher Optimist war. Denn sie zieht die Konsequenzen ihres Erdenjammers: sie sagt einfach nein, sie versagt sich und ihr Kind dem Leben – und das alles von Gemütswegen, Herr Rechtsanwalt!«
Advokat Gent hörte ihr mit Staunen zu. Er sah allmählich ein, es war ihr nicht beizukommen, aber er empfand sie als so außergewöhnlich, so denkscharf und wissenstief, daß diese Erkenntnis ihm nicht wehe tat, ja eher eine Art von reiner Freude in ihm hervorrief.
»Von Gemütswegen ist sie elend geworden,« antwortete er auf ihre letzten Worte, »aber von Gemütswegen hat sie wahrscheinlich auch ihr höchstes Glück gefunden.«
»Wir kommen nicht zusammen, Herr Doktor,« meinte sie kopfschüttelnd. »Denn solch ein Genießen, dessen man sich nachher mit Schaudern erinnert, weil man sich ihm ohne Sinn in elendem Rausche hingegeben, verdient ja gar nicht den Namen Glück. Das empfindet man als eine Schändung, die einen, wenn man nicht aus hartem Holze ist, um den Verstand bringen kann. Aber,« fuhr sie fort und ihre Miene nahm einen mütterlichen Ausdruck an, »das ist ein Problem, das allein eine Frau zu erfassen vermag. Es ist,« sagte sie langsam, »das Geheimnis der Scham, aus dem alle Qual entspringt.«
Der Advokat erhob sich und schritt einige Male durch das Zimmer. Ihre letzten Worte hatten einen jähen Verdacht in ihm geweckt. Er kämpfte mit sich einen Augenblick. Als er zu einem Entschlusse gekommen, lag ein erregter Ausdruck auf seinen Zügen. Er trat dicht vor sie hin.
»Gnädige Frau,« sagte er mit gedämpfter Stimme, »wenn ich nicht wüßte und sähe, in wie glücklicher Ehe Sie leben, ich könnte auf den Gedanken kommen, Erlebnisse wie die der Frau Kammerherrin Alving hätten gleiche Anschauungen in Ihnen geweckt. Manches erinnert mich an Frau Alving mit einem Stich in Noras Puppenheim.«
»Ich bin erfreut, daß Sie meine Modelle gefunden haben,« entgegnete sie, und er sah, wie sie leicht errötete und den Blick von ihm wandte.
In diesem Moment trat Heller ein. Er hielt in den Händen eine angezündete Lampe mit rotem Schirm. Sein Gesicht leuchtete. »Wißt Ihr,« sagte er, »ich habe soeben an Adolph Ernst telephoniert und Billets für heute abend zu Charleys Tante bestellt. Es geht doch nichts über das Lachen – und lachen soll man dort ... ja, was habt Ihr denn – Ihr macht ja beide ganz merkwürdige Gesichter? ...«
Frau Heller stand auf. »Du irrst,« sagte sie, »es ist das grelle Licht der Lampe. Übrigens, Dein Einfall ist gut – auch ich möchte lachen.«
»Und Sie, Herr Doktor?«
»Ich bin unbedingt für Charleys Tante.«
»Dann bitte ich um pardon bis ich Toilette gemacht habe.«
Sie entfernte sich mit einem leichten Neigen ihres Hauptes.
Advokat Gent blickte ihr betroffen nach und überhörte Hellers Frage.