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XXII.

Es war sieben Uhr abends. Die Dämmerung war hereingebrochen und verbreitete jenes stimmungsvolle Halbdunkel, das die modernen Maler so lieben.

Am Treppengeländer stand Frau Doktor Berger und winkte, indem sie sich leicht über die Brüstung lehnte, ihrem Bruder zu, der in ersichtlicher Anstrengung die Treppen hinaufkeuchte.

»Gut, daß Du da bist,« sagte sie in schlecht verhehlter Erregung. »Komm schnell herein.«

Der junge Mensch reichte ihr stumm die Hand und gehorchte. Auf seinen eingefallenen Wangen brannten hektische Flecke. Sie führte ihn in ein kleines Kabinett, das sie sofort zuschloß.

»Hier sind wir ungestört,« sagte sie. »Hast Du alles mitgebracht?«

Er fuhr statt aller Antwort in die weite Tasche seines Mantels, aus der er einen in Seidenpapier gehüllten Gegenstand hervorzog. Er entfernte das Papier und wies auf eine rotblonde Perrücke und einen Vollbart von der gleichen Farbe. Beides setzte er flüchtig auf.

Sie schrak doch zusammen.

»Du siehst grausig aus. Aber es ist gut! Kein Mensch erkennt Dich.«

Als er die seltsame Tracht wieder von sich genommen, sahen seine Züge grau wie trüber Kalk aus.

»Du hast wohl Furcht?« fragte sie etwas gereizt.

»Nein ... nein! Verlaß Dich nur auf mich,« entgegnete er heftig. »Und das ist schlimmstenfalles sicher,« fügte er mit einem unheilvollen Lächeln hinzu, indem er aus der Seitentasche ein Etui hervorzog, in dem sich ein Sechsläufer befand.

Sie wandte sich auf eine Sekunde ab – eine krampfartige Bewegung trat auf ihr Gesicht.

»Sag mir's nochmals, wie Du's anstellen wirst.«

Über sein Gesicht flog ein Schatten. »Wozu denn?« erwiderte er ungeduldig. »Das nimmt mir nur die Ruhe.«

»Ein einziges Mal noch!« drängte sie.

Er biß sich die Lippe wund. In leierndem Ton, als ob er einen gelernten Vers vortrüge, antwortete er: »Das ist doch sehr simpel. Sobald er schläft, krieche ich hervor und hole mit einem Ruck das Bündel aus den Kissen hervor. Erwacht er, halte ich ihm den Revolver vor die Nase und gebe, wenn es nötig wird, ein paar Schüsse ab – so 'n Denkzettel in die Schulter oder das Bein. Sorg Du nur, daß die Entreetür auf ist – und stell Dich vor allen Dingen schlafend. Der Schuft wird sich an Dich halten.«

Sie nickte.

Kurze Pause.

»Man müßte ihn eigentlich wie einen tollen Hund niederschießen, den Halunken,« stieß er auf einmal hervor, und seine Stimme bebte vor Wut.

Auch aus ihren Augen brannte ein wilder Haß. »Eine Kanaille ist das!« murmelte sie dumpf. »Du kennst nur den kleinsten Teil seiner Infamien. Gehst Du direkt nach Hamburg?« fragte sie unvermittelt.

»Nach Bremen. Das nächste Schiff geht von Bremen. Ich denke aber, es wird gar nicht nötig sein.«

»Weiß sie davon?«

Er wurde bei dieser Frage tiefrot.

»Ich habe vor ihr kein Geheimnis,« flüsterte er.

»Und was hat sie gesagt?«

»Daß es meine Pflicht ist. Dir zu helfen – daß sie beten wird.«

»Sie muß ein ungewöhnliches Wesen sein.«

»Das ist sie!« gab er warm zurück, und aus seinen Augen brach eine leidenschaftliche Glut. »Du, wenn ich fort müßte – nimm Dich ihrer an – versprich mir's, und des Kindes!«

Sie reichte ihm die Hand, die er schüchtern streichelte.

»Wenn Du die Briefe hast,« fragte er leise, »bist Du dann vor ihm sicher?«

»Einigermaßen. Wenigstens behauptet es Dörmann!«

»Nun der muß es wissen!«

»Ich denke auch.«

Sie schwiegen.

»Wo hast Du den Revolver her?«

»Aus Hamburg mitgebracht!«

»Und das da?« Sie wies auf Bart und Perrücke.

»Sie hat es besorgt, damals schon, als wir das erste Mal davon sprachen. Sie ist sehr klug. Und denk Dir, sie hat genau den gleichen Kopf wie ich.«

»Du wirst sehr hart da unten liegen.«

»Das macht mir nichts – ich habe offen gestanden nur Angst vor dem Alleinsein, wenn er nur nicht so spät käme.«

»Ich glaube, daß er vor elf zurück ist. Er hatte nichts besonderes vor und fühlte sich unwohl. In solchem Fall geht er früh schlafen. Haß Du Ahnung, wie der um sich besorgt ist – wie lächerlich, das Luder! Wie Du komisch aussiehst in der Maskerade – wo wirst Du übrigens die Briefe hintun?« unterbrach sie sich plötzlich. »Wie zerstreut wir sind – das Wichtigste zu vergessen.«

»Ich bringe sie zu ihr. Dort sind sie sicher. Du kennst ja ihre Adresse.«

»Schön!«

»Du kannst übrigens unbesorgt sein, sie rührt sie nicht an.«

»Ist mir ganz gleichgültig, ob sie liest, was der Narr mir geschrieben.«

Sie lachte jäh in sich hinein. »Du hättest bei der Szene dabei sein sollen, wie er sich spreizte, dieser alte Geck!«

»Meinst Du den Kommerzienrat?«

»Wen sonst!«

»In so 'nem Hause wär ich gern mal angekommen, das sind Lebensstellungen!«

»Du irrst,« entgegnete sie, »der Mann steht dicht vor dem Krach.«

»Red mir das nicht ein. Ist 'ne Weltfirma, weiß ich besser.«

»Der Mann steht dicht vorm Krach, sag ich Dir, verlaß Dich drauf.«

»Nicht möglich! Du, das kann nicht sein. Der Mann ist Börsenkommissar, weißt Du, was das heißt ... der Mann ist im Aufsichtsrat der westpreußischen Handelsgesellschaft ... der Mann ...«

»Kracht,« ergänzte sie unerschütterlich, »ist ein Gauner allerersten Ranges; von wem ich's weiß? Von ihm selber!«

Dieser verhungerte Mensch, dieser Phtisiker, der im Begriffe war, einen verhängnisvollen Gewaltakt zu unternehmen, und Mut und Ruhe darin fand, daß seine Geliebte unterdes für ihn betete, war von dem Gehörten so verblüfft, daß er für einen Augenblick alles andere vergaß.

»So 'n Gesindel!« sagte er nach einer Weile ganz entrüstet. »Ich bin wegen Unterschlagung von lumpigen hundert Mark um mein Brot gekommen – und ich brauchte doch das Geld nötiger wie's Leben – und so einer ... ne, ne ...!«

Sie zuckten beide empor. Und wie ertappte Schelme lauschten sie angstvoll.

»Es ist das Hausmädchen,« beruhigte sie ihn aufatmend. »Sie hat die Küche geschlossen. Es muß aber schon spät sein. Denn das Frauenzimmer hatte Urlaub, und die kommt nicht eine Minute früher. Wir müssen uns jetzt trennen. Mach Dich schnell fertig, damit Du in sein Zimmer kommst.«

»Bon ... bon!«

Er griff mit unsicherer Hand in seine Westentasche und suchte ein Fläschchen flüssigen Leims hervor. Dann maskierte er sich eiligst. »Der klebt fest – so, ich bin fertig.«

»Man kann Furcht vor Dir kriegen. Wie Du aussiehst!«

Sie wandte sich ab und war eben im Begriff, die Tür leise, unhörbar zu öffnen, als er ihr nachkam und seine feuchte Hand sich auf ihre Schultern legte.

»Nun?«

»Sie ist mir das Liebste auf der Welt. Vergiß sie nicht,« stammelte er und zitterte am ganzen Körper.

»Nein ... nein!« sie drückte ihm nochmals die Hand, aber sie blickte ihn nicht mehr an – ein Schauer hatte sie gepackt, ein Grauen.

Auf den Fußspitzen, wie Einbrecher, schlichen sie durch den Korridor.

»Hier ... hier ist es.«

Sie öffnete das Schlafzimmer ihres Mannes, ließ ihn hinein, schloß es wieder und schritt lautschlagenden Herzens in die Küche.


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