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So standen die Dinge, als nach jener Gesellschaft Advokat Heller sich mit dem Kollegen Gent, den er draußen in Moabit ziemlich häufig, traf, anzufreunden begann. Heller suchte diesen Verkehr. Er war durch gesellschaftliche Beziehungen seinen Kollegen einigermaßen entfremdet worden, und sein Standesbewußtsein fing sich zu regen an. Diese Geldleute behandelten ihn ohnehin mit einem souveränen Achselzucken, das nur durch Frau Lerchs Zuvorkommenheit ihm weniger fühlbar wurde. Außerdem, des Kollegen Persönlichkeit zog ihn an. Er fühlte, daß Gent einen Fond in sich trug, der ihm selber fehlte. Mit Genugtuung aber empfand er es, daß dieser bescheidene Mensch sich dessen selbst kaum bewußt war.
»Wissen Sie, Kollege, Sie sollten uns besuchen,« sagte er ihm eines Tages. »Ich glaube, wir stimmen miteinander.«
Gent schwieg einen Augenblick und sah nachdenklich vor sich hin.
Er hatte in den verflossenen Wochen so oft an die seltsame Frau denken müssen. Aber seine gerade und schüchterne Natur, die nur in reinen Sphären zu leben vermochte, hatte sich dadurch beunruhigt und gequält gefühlt. Was ging ihn diese Frau an? Zu diesem Schlusse gekommen, hatte er aufgehört, sich mit ihr zu beschäftigen. Er ging überhaupt den Frauen aus dem Wege. Für ihn kam nur seine. Mutter in Betracht, diese vornehme, alte Dame mit ihren treuen Anschauungen, ihrem reinen Stolze und diesem goldenen Gemüt.
Hellers Aufforderung hatte ihn verdutzt, so unerwartet war sie gekommen. Er empfand keine Sehnsucht nach Familienverkehr, und wenn er einige Beziehungen aufrecht erhielt, so geschah es, um nicht jeden Zusammenhang mit der Außenwelt zu verlieren. Aber so recht wohl war ihm doch eigentlich nur, wenn er des Abends in sein Junggesellenheim trat, wo die schweigsame Haushälterin ihm wirtschaftete.
Er bewohnte in der Bendlerstraße, da wo sie hart an den Tiergarten stößt, ein kleines Gartenhäuschen, das er ganz nach seinem Geschmack sich eingerichtet hatte. Wenn die Lampe brannte und zudem von der grünen Ampel, die in der Mitte des Zimmers hing, ein matter Schein zu ihm herüberdrang, war ihm gut zu Mute. Er fühlte sich geborgen bei seinen Büchern, die in eichenen Regalen wie treue Kameraden nebeneinander Posten standen, bei seinen Mappen, die auf kleinen Tischen lagen und Kunstschätze aus Vergangenheit und Gegenwart bargen. Er ging dann wohl mit verschränkten Armen nachdenklich im Zimmer auf und nieder, vertiefte sich jetzt in eine Klingersche Radierung, griff dann zu Hans Thoma, dessen einfach strenge Linien eine Saite in ihm trafen. Ober er schwelgte in Böcklins Gefilden. Er bedurfte dieser abgeschlossenen Ruhe und Einsamkeit; er empfand klar, daß er sich harmonisch sammeln müßte, um vor den unruhigen Geistern und Kobolden, vor den Zweifeln, die ihn bewegten, Ruhe zu haben.
Advokat Heller wurde ungeduldig, da Gent so lange mit der Antwort zögerte.
»Meine Frau würde sich so sehr freuen,« fügte er eifrig hinzu, ohne sich das Mindeste dabei zu denken.
Gent blickte ihn bei diesen Worten betroffen an und erwiderte zögernd: »Ich ... ich inkliniere so gar nicht für Familienverkehr.«
Diese Antwort reizte Heller – und er ließ ihn nicht mehr locker. Es schien ihm plötzlich ein kluger Einfall, wenn er des öfteren Bekannte in das Haus zog und so Frau Regine zwang, eine andere Miene aufzusetzen.
Ein helles Lächeln flog über seine Züge, als er Gents Hand faßte: »Sagen Sie ja! Wer weiß, ob es Ihnen nicht bei uns gefällt – und wissen Sie was,« fuhr er gesprächig fort, »die Sonntagsvisite schenk ich Ihnen, kommen Sie heute abend gemütlich zu uns. Topp? Schlagen Sie ein!«
Gent nahm zaudernd Hellers Hand: »Und Ihrer Frau, ob der das recht ist, wenn ich so hineinschneie?«
»Das lassen Sie meine Sorge sein.«
Sie schüttelten sich die Hände und trennten sich.
Gent schritt langsam nach Hause, er kam sich im Grunde überrumpelt vor und ärgerte sich. Nachdenklich bog er in das Königin-Augusta-Ufer ein und schritt die kahlen Bäumen entlang, auf denen der Reif sich festgesetzt hatte. Trübselig, und untätig lag der Kanal da, mit einer dünnen Eiskruste, überzogen.
Das stumpfe Licht dieses Winternachmittages tat ihm weh, er beschleunigte seine Schritte und atmete ordentlich erleichtert auf, als er sein Heim erreicht hatte.
Von dem Mittagsmahl nahm er nur wenig zu sich, so daß ihn Frau Katharine verwundert von der Seite ansah. Aber lange Gespräche oder auch nur Auseinandersetzungen liebten die beiden nicht, und so trug sie stumm das Geschirr hinaus.
Gent aber ließ sich auf einem der hohen Lutherstühle nieder und blickte in das fahle Licht der trüben Sonne, deren dürftige Strahlen schräg in das Gemach fielen. Er griff nach einem Buch. Doch die Glieder wurden ihm so seltsam schwer, daß er die Augen schloß und vom Schlaf sich übermannen ließ. Als er erwachte, war es stockdunkel.
Er riß die Flügel auf, atmete eine Sekunde die schneidende Winterluft ein und zündete im Nu die Lampe an.
»Herr Gott – sieben Uhr!«
In aller Eile machte er Toilette, dann stürzte er die Treppe hinunter. Eine nervöse Hast kam über ihn, eine fatale Angst; ohne recht zu wissen weshalb, eilte er wie ein Verfolgter durch die Straßen.
Einmal blieb er mitten auf dem Wege stehen und überlegte eine Sekunde, ob er nicht doch umkehren sollte. Er lachte laut auf, so daß die Vorübergehenden verwundert ihn anblickten. Was waren das für törichte Ideen, für vage Vorstellungen? Er war im Begriff einem Kollegen einen harmlosen Besuch abzustatten, und tat, als stünde er vor einem entscheidenden Schritt seines Lebens, als drohte ihm Unglück.
Gent war ein Tüftler – eine grüblerisch veranlagte Natur. Er nahm das Leben schwer. Wenn er sich auch durchaus als Durchschnittsmenschen anerkannte, so war er doch gegen sich voller Ansprüche, belauerte seine heimlichsten Regungen und arbeitete auf eigene Erkenntnisse hin, mißtrauisch gegen die Aufdringlichkeit des Marktes und das Urteil geschlossener Mengen.
Er zündete sich eine Zigarette an, blies den feinen, bläulichen Rauch in die kalte Abendluft und grübelte vor sich hin. Was hatte ihn nur an Hellers Frau so eigentümlich berührt? Und da glaubte er es gefunden zu haben: Ihn zogen die Menschen an, die seltenen, die Rätsel aufgaben, und diese junge Frau mit ihren müden, gleichgültigen Bewegungen, ihrer lässigen Art zu sprechen, ihrer nachdenklichen Überlegenheit, war ihm ein Geheimnis, das ihn bewegte.
Nun war er in die Charlottenstraße eingebogen und hatte sein Ziel erreicht. Er blickte zu der Hausnummer empor. Ah, noch drei Häuser weiter, da wohnten Hellers.
Wieder überkam ihn ein Gefühl der Unruhe. Mechanisch zog er seine braunen Glacéhandschuhe an, eilte die Treppen hinauf und drückte auf den weißen Knopf.
Als der helle Klang ertönte, hatte er seine Kaltblütigkeit wiedererlangt. Das Dienstmädchen nahm ihm die Sachen ab, und ehe er sich versah, war er in dem kleinen Salon mit den hechtgrauen, seidenen Möbeln, dessen Wände mit Gemälden bedeckt waren. In der Mitte stand ein marmorner Tisch mit eingelegter Mosaikarbeit und ihm gegenüber ein antikes Schränkchen mit Meißner Porzellan und allerlei zierlichen Kunstschätzen, die durch die Glastür lugten.
Gent hatte auf die Lehne des einen Fauteuils seine Hände gestützt und wartete nervös auf den Augenblick, wo sich die Portieren teilen würden. Eine lange Zeit verstrich ihm.
Zerstreut sah er sich im Zimmer um, bis sein Blick auf ein lebensgroßes Gemälde von Frau Heller fiel, das über dem Sofa hing. Sie war in der Tracht und Stellung jenes bekannten Bildes der Königin Luise gemalt, wie sie die Stufen hinabschreitet, im weißen, wallenden Gewande, mit lockerem Busen, ein Spitzentuch lose über die Schultern geworfen. Dabei wirkte das Bild doch ganz anders und ganz eigenartig. Es mußte Jahre zurückliegen, denn es stellte sie unzweifelhaft als blutjunges Mädchen dar, mit jenem unsäglich rührenden und geheimnisvoll-erwartenden Gesichtsausdruck, der aus den Mienen einer Frau, ach so schnell, entflieht.
Er blickte wie verloren auf das Gemälde; eine zitternde und weiche Traurigkeit durchdrang ihn. Silberne Pappeln mit ihrem schwermütigen Glanz tauchten vor ihm auf und warfen in das Bild bewegliche Schatten, die geräuschlos über die Farben glitten. Einen Augenblick – einen einzigen Augenblick, wie er sich dann der Seele einprägt für immer, sah er sich in eine fremde Welt gesponnen, um darüber alles andere zu vergessen.
Und jäh erwachte er, da sie plötzlich, wie aus dunkler Erde emporgewachsen in schwarzer, enganliegender Kleidung vor ihm stand und mit ihrem düsteren Gesicht, das Köpfchen ein wenig geneigt, ihn begrüßte.