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Etwa eine halbe Stunde, nachdem sich Gent empfohlen hatte, verabschiedete sich auch Berger.
Als der Doktor seiner Frau ein Zeichen gab, schrak diese leicht zusammen, erhob sich aber auf der Stelle. Der Doktor zog sich nun behaglich seinen Pelz an, während Heller seiner Frau beim Umlegen des Radmantels behilflich war.
Auf der Straße schritten sie eine kurze Strecke schweigend nebeneinander, bis Berger stehen blieb und nach seiner Uhr griff.
»Es ist jetzt gerade halbelf Uhr,« sagte er. »Um viertelzwölf ist jeu bei uns, etwa zehn Tische. Ich wünsche, daß Du noch Toilette machst!«
Da sie nicht sofort antwortete, richtete er seinen gewöhnlich etwas gebückten Körper empor.
»Hast Du mich verstanden?« fuhr er sie hart an. Dabei klang seine Stimme, die stets belegt schien, noch heiserer als sonst. Sie nickte, ohne durch seine Anordnung irgendwie überrascht zu sein.
»Noch eins,« begann er wieder: »Wenn Du noch einmal vor dem Abendbrot fortläufst, ohne Näheres zu hinterlassen, so wirst Du die Folgen tragen. Das duld ich denn doch nicht. So und jetzt gib mir Deinen Arm.«
Einen Augenblick sträubte sich alles in ihr. Aber dann sah sie in seine drohenden Augen, die immer nach unten gerichtet waren, als könnte er keinem offen und gerade ins Angesicht schauen – und gehorchte schweigend, willenlos.
Mit einem perfiden Lächeln drückte er sie an sich. »Es ist besser, wir fahren,« meinte er, »damit Du noch Zeit hast, nach dem Rechten zu sehen.«
Er pfiff einem Kutscher, und sie stiegen in den Wagen.
»Wilhelmstraße achtzehn!« kommandierte er.
Der Wagen rasselte davon.
Eine kurze Weile Schweigen.
Dann beugte er sich über sie, kniff ihr die Backen und streichelte mit der Rechten ihren Scheitel.
Sie ließ alles mit sich geschehen.
»Siehst Du,« sagte er, »sobald Du willig bist, ist alles gut. Widerspruch vertrag ich nun einmal nicht. Und nun gib mir einen Kuß, Kleine! – Na! Du fängst doch etwa nicht von neuem an,« stieß er knurrend hervor, da sie zusammenschauernd sich ihm zu entwinden suchte.
»Nein ... nein!« rief sie ängstlich – und zwang sich zu ihm.
»Sehr schön ... so ist's schön, Du kleiner Teufel Du!« Und er lachte derb auf.
»Brr!« machte der Kutscher.
Der Doktor sprang zuerst heraus und half seiner Frau beim Aussteigen.
»Nur Getränke und etwas kaltes Büfett habe ich angeordnet,« sagte er beim Heraufgehen, »und vor allem eil Dich!«
Sie verschwand gleich darauf in ihrem Toilettenzimmer, während er sich in seine Studierstube begab.
Er durchmaß mehrere Male das Gemach und stieß halblaute Interjektionen aus, die schließlich in kurze Monologe übergingen.
Er blieb plötzlich in der Mitte des Zimmers stehen. Seine Züge waren heiter und strahlten Selbstbewußtsein aus.
»Hab ich nun Recht gehabt?« rief er in die Wände hinein. »Wie – was? Die Fäuste zeigen! Verratzt ist man sonst! Und seine Zangen glühend machen! Zum Teufel auch! Mit so einem Weibsbild wird man doch noch fertig werden. Das wäre!«
Er ging mit großen Schritten auf seinen Schreibtisch zu, schloß eine Schublade auf und entnahm ihr ein Manuskript.
»Über die Umbildung von Rechtsbegriffen.«
Er las die letztgeschriebenen Seiten. Es war das ein wissenschaftliches Werk, an dem er seit langem arbeitete.
»Wie logisch das alles ist und so in sich geschlossen!« murmelte er. »Der Preßdoktor kann doch etwas!«
Er legte das Manuskript wieder auf seinen alten Platz und stieß dabei auf ein Paketchen Briefe. Ein grausames Lächeln flog über seine Züge, als er das kleine Bündel in seinen Händen wog. »Die sollen mir noch nützen – wer kann es wissen!« Er schloß sie wieder in das Fach ein und trat von neuem seine Wanderung durch das Zimmer an. Feindselige Gedanken arbeiteten in ihm. Er wollte es ihr heimzahlen. So hatte er es denn doch nicht gemeint, als er sie dazu abgerichtet, ihm die Schüler und die Gäste ins Haus zu ziehen. So nicht! Die Stirnader schwoll ihm. Er stampfte heftig mit dem Fuße auf, als wollte er sich auf die Manier beruhigen.
Er dachte blitzschnell an alles zurück, wie sich die Dinge entwickelt hatten und so weit gekommen waren. Er erinnerte sich, wie ihm das doch fatal gewesen, als sie damals seine intimen Verhältnisse aufgespürt hatte. Wie sie ihm eine leidenschaftliche Szene aufgeführt und ihn dermaßen gereizt hatte, daß er sich – ja, das war das erste Mal gewesen, wo er sich an ihr vergriffen hatte. Was war dann gefolgt? Die Erinnerung an all das war ihm unleidlich. Wie hatte sie ihm zugesetzt mit dieser Melancholie, von der sie seit jenem Tage jählings heimgesucht wurde. Und schließlich war diese Gemütsstimmung in Zustände ausgeartet, daß er sie in eine Anstalt hatte überführen müssen, wo sie seinem zweiten Kinde das Leben gegeben. Eine erbauliche Zeit war es gewesen, dies dritte Jahr seiner Ehe!
Dann hatte es eigentlich nur noch Krieg zwischen ihnen gegeben, unausgesetzt Krieg! Nur mit äußerster Gewalt hatte er sie bändigen können, immer wieder hatte sie sich gegen seinen Willen aufgebäumt. Vor zwei Jahren nach den letzten, heftigen Auftritten war ihm der Boden doch zu heiß geworden. Auch fürchtete er, sie könnte von neuem in ihre Zustände verfallen. Das war der Grund gewesen, weshalb er seine Weltreise angetreten. Er wollte ihr inzwischen Zeit geben, zur Besinnung zu kommen. Aber was hatte dieses Satansbild angestellt? Hatte sich seine Abwesenheit zu nutze gemacht, um nichts weniger als zärtliche Verhältnisse anzuknüpfen. Nun, er wollte ihr das eintränken. Er wartete seine Zeit ab. Er konnte warten. Er hatte Briefe, diese sauberen Briefe des Kommerzienrat Bär, dem er ...
Mitten in diesem Gedankengange wurde er aufgestört. Der Diener trat ein und meldete, die gnädige Frau ließe sagen, daß die ersten Gäste bereits erschienen seien.
»Schon gut!« gab er zurück. »Ich komme sofort!«
Er nahm ein Taschen-Necessaire hervor und betrachtete sich in dem kleinen Spiegel. Darauf strich er sich mit der Bürste das rotblonde Haar zurück und schloß hinter sich die Tür.
Aus dem Salon drangen ihm Stimmen entgegen. Einen Moment lauschte er. Dann öffnete er so leise und vorsichtig die Tür, daß er kaum zu hören war.
Bei seinem Eintritt bemerkte er sofort den Kommerzienrat Bär und Felix Lerch, der mit Advokat Dormann sich angelegentlich unterhielt.
Ein verstecktes Lächeln huschte für eine Sekunde über seine Züge. »Sieh da ... sieh da!« murmelte er.
Mit einem flüchtigen Blick betrachtete er seine Frau. Sie hatte ein Kostüm aus schwerem, dunkelblauem Sammet angezogen. Nur der Hals war dekolletiert. An der Brust trug sie Marschall-Niel-Rosen und ebensolche im Haar. Ihre Augen strahlten. Sie schien die verkörperte Lebensfreude. Berger nickte zufrieden.
» Servus,« meine Herren, servus!« wandte er sich nach allen Seiten zu seinen Gästen, die sämtlich im Frack erschienen waren.
Frau Doktor Berger hatte diesen Wunsch einmal ausgesprochen mit der Begründung, daß wenn sie für die Herren Toilette machte, sie ein Gleiches von ihnen verlangen könnte. Man hatte sich ohne weiteres gefügt.
Berger ging auf seine Frau zu. »Siehst chick aus,« sagte er. »Wo hast Du denn so schnell die Prachtrosen aufgetrieben?«
»Dörmann!« entgegnete sie.
»Na ... na!« er lächelte bedeutsam und küßte sie auf die Stirn.
Auch sie blickte ihn lächelnd an. Die vollen Lippen ein wenig geöffnet, die Augen bewegt und sprühend – lag für ihn in ihrem Wesen beinah etwas sehnsüchtig Werbendes.
Er küßte sie nochmals und wollte sich wieder zu den Gästen wenden.
Sie hielt ihn aber zurück.
»Du!« sagte sie mit gedämpfter Stimme.
»Was denn?«
»Du – mein Bruder war in unserer Abwesenheit da. Und das Dienstmädchen sagte ihm, daß er wiederkommen sollte. Wir empfingen heute. Was tu ich da nur. Du willst es doch nicht!«
»Hm!« machte er, »wenn Du nett bist, gibt es schon Ausnahmen.«
Jetzt wurde die Tür etwas stürmisch aufgerissen und ein ziemlich großer Herr mit einer Art von Raubvogelgesicht, einen Klemmer auf der gebogenen Nase, das dunkle Haar, in dem sich zahlreiche Graufäden bemerkbar machten, absichtlich salopp gekämmt – trat ein.
»Ist aber nett von Ihnen, Hertel, wirklich nett, daß Sie gekommen sind,« rief der Hausherr und schüttelte dem neuen Gast kräftig die Hände.
Der Angeredete ging stracks auf die Hausfrau zu.
»Schönste der Frauen, ist das eine Freude, Sie zu sehen!« Er küßte ihr die Hand und sah sie mit herausfordernder Miene an.
»Sie sind nicht nur ein großer Dichter, sondern auch ein brillanter Schauspieler. Wieviel Stunden ist es her,« fragte sie leiser, »seit wir zusammen gewesen sind?«
»Zeit genug, um meine Sehnsucht von neuem zu entfachen. Ich war sehr vergnügt, als Ihres Mannes Rohrpostbrief kam.«
»Hören Sie mal,« begann sie wieder, »wenn Sie mich ein wenig lieb haben, kümmern Sie sich heute nicht um mich. Ich habe in der Zwischenzeit viel durchgemacht. Er ist wie ein Rasender. Sorgen Sie also für sich und mich.« Und mit lauterer Stimme sagte sie: »Also im Theater war wieder nichts?«
Der Angeredete blinzelte ihr unmerklich zu. Er hatte begriffen.
»Naturalistische Grünschnäbelei! Das sagt alles,« erwiderte er in demselben Tone. »Was soll ich Sie damit langweilen. Lesen Sie meinen morgigen Bericht. Sie nickte ihm freundlich zu und schritt langsam auf den Kommerzienrat Bär zu.
»Nun, lieber Rat!«
Der Kommerzienrat nahm ohne weiteres ihre schlanke Hand, die er über Gebühr lange hielt.
»Liebe Freundin, wenn Sie mich nicht toll machen wollen, vernachlässigen Sie mich etwas weniger. Ich bin empört ... ja empört!«
»Etwas Selterwasser?«
»Ich bitte – lassen Sie das! Wissen Sie, daß Sie mich eine volle halbe Stunde haben warten lassen? Eine volle halbe Stunde. Wissen Sie, was das für mich bedeutet? Für mich ist Zeit – Geld.«
»Hätten Sie nur fünf Minuten länger ausgeharrt!«
»Wollen Sie mir einreden? ...«
»Herr Rat, nicht anzüglich werden!«
»Ja, liebes Kind,« sagte er plötzlich, beinah etwas unwirsch, »ich bin doch kein Schuljunge. Ich bitte, das zu bedenken.«
Sie maß ihn mit einem kühlen Blick und wollte sich einer anderen Gruppe zuwenden.
»Sie bleiben ... hören Sie!«
»Ich höre,« gab sie zurück, »und verbitte mir vor allem diesen Ton. Sie sehen wohl nicht, daß mein Mann uns beobachtet. Ich dächte, Sie könnten etwas mehr Rücksicht auf mich nehmen.«
Der Kommerzienrat faßte sich.
»Ist es wahr, was mir soeben Ihre Frau erzählt,« rief er zu Berger hinüber, »daß Ihr epochemachendes Werk demnächst erscheint?«
Berger hatte die Arme verkreuzt, er besann sich eine flüchtige Sekunde, ehe er erwiderte: »Herr Kommerzienrat, ich hoffe vorher noch mit einer andern Arbeit zu debütieren und Ihr geneigtes Interesse dafür zu finden.«
»Wie interessant, lieber Berger. Wie interessant. Aber selbstverständlich!«
Dieses kurze Zwiegespräch hatte Frau Berger benutzt, um sich schleunigst zu Felix Lerch und Rechtsanwalt Dörmann zu begeben.
»Weißt Du, Felix, daß wir heut bei Deiner Schwester zu abend gegessen?«
Felix lachte.
»Was Ihr alles fertig bringt! Respekt kriegt man. Übrigens das Kleid steht Dir! Was Dörmann?«
»Was steht der Frau denn nicht? Können Sie mir das sagen?« fragte Dörmann zurück.
»Haben Sie wieder recht! Über das andere reden wir noch. Entschuldigen Sie mich – will schnell noch mal mit Bär was besprechen.«
Aber ehe er sich abwandte, rief er: »Wissen Sie, es ist gar nicht nötig, daß Sie noch mal zu mir kommen. In drei Tagen denk ich's Ihnen zu schicken.«
Er nickte ihm noch einmal gönnerhaft zu und ging auf den Kommerzienrat zu.
Dörmann reichte Frau Doktor Berger den Arm.
»Ist mir doch sehr lieb!« sagte er und atmete ordentlich erleichtert auf. Indem er ihren Arm ein wenig an sich drückte, flüsterte er: »Mir geht es gerade wie Dir, Helene. Nie Geld! Geld kenn ich überhaupt kaum noch.«
»Steht es wieder so arg?« fragte sie teilnahmsvoll.
Er zeigte auf seine Kehle.
»In acht Tagen muß ich hunderttausend auf den Tisch legen – oder perdu!«
»Herr mein Gott!« sagte sie und schrak zusammen, und schnell erratend fügte sie hinzu: »Felix soll das Geld schaffen, was?«
Er nickte.
»Ist aber anständig von ihm,« meinte sie.
Er machte eine wegwerfende Bewegung.
»Überschätz das nicht!« antwortete er trocken. »In einer halben Stunde hat er's auf der Börse zusammen. Ich habe ihm gesagt, an wen er sich nur zu wenden braucht. Die sind mir dort verpflichtet – können mich brauchen. Ist übrigens zu drollig, ein Lustspiel könnte man sagen, allen helf ich, die schwierigsten Dinge mach ich, und in eigener Sache bin ich hilflos wie ein Kind. Die Gauner haben mich in Händen.«
»Das ist auch merkwürdig,« gab sie zurück. »Man sollte es fast nicht glauben.«
»Was? Interessiert mich eben nicht,« scherzte er, »und kommt auch daher,« fuhr er fort, »daß ich für mich keine Minute Zeit habe. Ich komme kaum mehr zum Essen – geschweige denn dazu, mich mit meinen Gläubigern auseinanderzusetzen. Man ist halt ein geplagtes Tier!«
»Ich habe Dich auch seit ein paar Tagen nicht gesehen,« meinte sie. »Ich hatte ordentlich Sehnsucht.«
»Du machst Scherze,« erwiderte er und lachte erheitert auf.
»Wenn ich Dir sage!«
»Soll ich Dir einmal vorrechnen, wer mich alles vertritt?« Sie wehrte nervös ab.
»Sei nicht so zynisch! Was mach ich mir aus den anderen!«
Er verbeugte sich.
»Franzel!«
»Was befehlen die Gnädige?«
»Könntest Du mir etwas aushelfen ... ich bin auch arg in Verlegenheit. Die vielen Rechnungen ... die ...«
Er unterbrach sie. »Kind, Du hast Humor,« rief er und wollte sich schütteln vor Lachen. »Nach alledem, was ich Dir gesagt habe ... Donnerwetter, dazu gehört Mut. Aber Scherz beiseite, ich habe ... vierzig Mark habe ich in der Börse ... mein ganzer Reichtum. Recht viel für einen Mann, der zweihunderttausend Jahreseinkommen hat, nicht? Wenn ich heut verliere, muß ich Wechsel geben. Gewinn ich ... helf ich Dir. Selbstverständlich! Du weißt, ich helf Dir gern.«
Sie nickte vertrauensvoll. Sie kannte ihn.
»Du bist der Beste!« sagte sie.
»Da irrst Du. Viele behaupten das strikte Gegenteil. Und manche wollen mich sogar aus dem Anwaltsstande drängen. Sie meinen, ich sei ihnen nicht fein genug. Ja, ja,« sagte er, »das kommt davon, wenn man die größte Praxis und den meisten Grips hat.«
»Um Gott im Himmel,« rief sie, »wenn das geschieht, was willst Du dann anfangen?«
Er kniff ein wenig die Augen zusammen und sah sie eine Weile lustig und verschmitzt an, ehe er entgegnete: »Vorläufig hat's ja noch gute! Weile – und dann,« er reckte sich ein wenig, »dann, Kind, bleibt mir noch so viel anderes. Oder meinst Du etwa, ich könnte zum Beispiel nicht ebenso gut wie der« – er wies heimlich auf Hertel – »Theaterstücke, Romane und Kritiken schreiben – ich mit meinen Erfahrungen?«
»Alles kannst Du – alles, was Du willst,« antwortete sie überzeugt.
Er ironisch: »Ich danke für gütiges Zutrauen!«
Sie überhörte es.
»Sage mir nur, wie ist es denn möglich, daß Du bei Deinen Einnahmen immer in Verlegenheit bist?«
»Wenn ich das wüßte. Es scheint als ob ich das Gegenteil vom König Midas bin.«
»Was heißt das?«
»Frage Deinen Mann.«
»Puh!« machte sie.
»Na also,« hub er wieder an, »es gibt eben Menschen, denen der Besitz an sich Übelkeit erzeugt, die jeden Dukaten in Lebensfreude umwechseln müssen. Solche Menschen wie Du und ich zum Beispiel.«
»Das ist also kein Laster?« fragte sie naiv.
»Ganz im Gegenteil. Dazu gehört sogar ein ganz klein wenig Genialität.«
»Ist das lustig!« Sie klatschte kokett in die Hände.
»Weißt Du,« sagte er, »das war zu stark siebzehnjährig. Das steht Dir nicht.«
Sie zog das Mündchen etwas schmollend zusammen und gab ihm mit dem Fächer einen leichten Klapps.
In diesem Augenblick trat Berger in die Mitte des Saales und rief in die einzelnen Gruppen hinein: »Meine Herren, das Spiel beginnt.«
»Ich bitte um Urlaub,« sagte Dörmann.
»Du hast ihn – und viel Glück – den Gewinn teilen wir.«
»Wie Du befiehlst,« entgegnete sarkastisch der Advokat, »Übrigens, wenn ich Glück habe, so ist es klar.«
»Was ist dann klar?«
»Was im Grunde gar keines Beweises bedarf – daß Du mich an Ecken und Enden betrügst.«
Sie errötete leicht.
»Du bist ein Narr,« sagte sie, »aber einer, den man trotz seiner Arroganz gern haben muß. Ja, das bist Du!«
Hastig trippelte sie davon, um keinen Einwurf mehr zu hören.
»Frauenzimmerchen!« stieß leise der Advokat hervor und begab sich zu den Spieltischen, wo gerade die einzelnen Partien ausgelost wurden.
Noch einmal wurden die Interessenten gestört.
Zwei neue Gäste traten soeben ein, die die Aufmerksamkeit auf sich lenkten.
»Je später der Abend, desto schöner die Gäste!« rief Hertel mit komischer Betonung den Herren entgegen.
Die Börsenleute drängten sich um die beiden, die Abgeordnete waren und im Reichs- und Landtage Opposition machten.
»Nun,« fragte Felix Lerch beflissen, »wie stehen die Aktien?«
»Ja, das müßten Sie doch eigentlich besser wissen,« gab der zurück, welcher das größere Licht war und besonders scharf die Regierungsvorlagen zu kritisieren verstand.
»Machen Sie doch keine Witze,« rief Felix.
Der Kommerzienrat sah den Abgeordneten gespannt in das Gesicht, als erwartete auch er eine Offenbarung. Die Volksboten setzten staatsmännische Mienen auf.
»Wer weiß,« sagte der Bedeutsamere ernsthaft, »ob nicht die Herren Agrarier in den nächsten Tagen ein Börsengesetz durchdrücken, das Ihnen Tor und Tür verrammelt. Es gehen Dinge vor! Diese Gesellschaft hat jetzt Oberwasser!«
»Ja, wozu haben wir denn Sie?« warf Felix ein.
Die Abgeordneten zuckten à tempo die Achseln, »Was können wir gegen die Strömung,« sagte der Zweite.
»Na ... na!« rief Dörmann, »seit wann sind Sie so kleinmütig – ist ja die neueste Nummer!«
»Wollen wir eigentlich spielen, meine Herren,« rief Berger, »oder Politik machen. Ich denke wir warten mit dem letzteren noch ein bißchen. Erst ein paar Runden schlage ich vor – und dann müssen uns die Herren beichten. Lassen Sie sich vor allem nicht bange machen – der Direktor hat bereits eine Rede in petto, eine Rede sag ich Ihnen – Sie werden sehen, die Herren von der Regierung besinnen sich und ziehen schleunigst die Vorlage zurück.«
Man lachte etwas überlaut, man lachte beinah gezwungen, und setzte sich an die Tische. Das Spiel begann.
Frau Berger offerierte den Herren, die neueste Havanna-Auslese, und bald stiegen die Rauchwolken empor und hüllten die Spieler ein.
Kommerzienrat Bär war des öfteren bemüht, über seine Karten hinweg den Augen der Wirtin zu begegnen. Vergeblich – sie mied ihn geflissentlich.
Eine Zeit lang stand sie an dem grünen Maria-Theresia-Kamin, die Arme verschränkt, eine Zigarette etwas im Mündchen, nachdenklich den feinen Rauch in die Luft blasend. Dann promenierte sie zu den einzelnen Tischen, indem sie bald hier, bald dort den Kiebitz abgab. Aber beständig blickte sie nach der Tür. Leicht zuckte sie empor, als diese sich von neuem öffnete und ein schmächtiger, blasser Mensch mit verkümmertem Gesicht und nervösen Bewegungen eintrat. Sie ging sofort aus ihn zu.
»Ah,« sagte sie, »das ist schön, daß Du kommst, ich hatte es fast schon aufgegeben.« Dabei reichte sie ihm die Hand. Er hielt sie einen Augenblick fest.
»Ich mußte wohl,« entgegnete er und versuchte mühsam eine heitere Miene auszusetzen. Es gelang ihm schlecht.
»So komm,« flüsterte sie. »Wir setzen uns hinter die Palmen. Sie sind mitten im Spiel, wir können also ungestört reden.«
Er folgte ihr. Er war mittelgroß und hager, seine Züge waren eingefallen, seine Stirn schräg und niedrig. Allein sein geschlitztes Auge verriet Leben. Darin lag ein sinnlicher Ausdruck – und Gutmütigkeit; vielleicht auch Unterdrücktsein. Man wurde sich darüber nicht recht klar. Das schwarze Haar trug er kurz geschnitten. Sein Gang hatte etwas unsicheres. Das einzige Elegante an ihm war, daß er merkwürdigerweise Lackschuhe trug. Niemand hätte sie für Geschwister halten mögen.
Als sie sich gesetzt hatten, wiederholte er seine ersten Worte: »Ich mußte wohl kommen.« Und nach einer kleinen Pause: »Die Mutter ängstigt sich so. Sie möchte wissen, wie es Dir in den letzten Tagen gegangen ist.«
Eine Weile schwieg sie. »Beruhige die Mutter,« erwiderte sie dann. »Ich werde schon mit ihm fertig; ich muß ja. Vielleicht komme ich auch morgen für einen Moment hinüber.«
Nun schwiegen sie beide.
Ein verlegenes, scheues Lächeln trat allmählich auf die Miene des jungen Menschen. Sie sah es sofort.
»Was gibt es noch?« fragte sie, obwohl sie bereits wußte, um was es sich handelte.
»Nämlich,« antwortete er leise und schüchtern, »die Miete. Mutter sorgt sich bereits.«
Sie war ein wenig bleicher geworden und preßte die Lippen aufeinander.
»Daß ich das vergessen konnte,« sagte sie mechanisch. »Weißt Du, ich habe wieder so viel Erregungen gehabt, gerade in jüngster Zeit.«
Er nickte nur.
Nun überlegte sie. Es gab in ihr einen Kampf. So gut wie nichts hatte sie in ihrer Schatulle. Ihr Mann hatte ihr seit Wochen jeden Pfennig vorenthalten.
»Ich bringe das Geld morgen,« sagte sie aufseufzend. »Du bist gewiß auch in Verlegenheit!«
»Das laß nur!« gab er zurück.
»So sprich doch – vielleicht kann ich Dir helfen.«
Sein blasses Gesicht verfärbte sich jäh. Sie sah es und nahm wie eine Mutter seine Hand.
»Du hättest Dich wohl doch nicht mit dem Wesen einlassen sollen.«
Aber im Nu bereute sie ihre Worte.
Dieser blasse Mensch zitterte vor Erregung.
»Ich bitte Dich, sei mir nicht böse.«
Er schüttelte heftig den Kopf.
»Wie geht es Deinem Kinde?« fragte sie leiser.
Er lachte schämig in sich hinein, als ob er sich genierte. »Du,« sagte er, »es spricht schon ganz flott.« Er sah ihr mit einem Male voll in die Augen. »Vielleicht war es sehr unrecht – sehr leichtsinnig. Aber Du wirst mir's glauben: Ich bin nur glücklich, wenn ich bei ihr bin. Ich bin überhaupt erst Mensch,« schloß er zaghaft, »seit ich sie kenne. Sie opfert sich für mich.«
»Dann warst Du in Deinem Rechte.«
Sie erschrak. »Du hast gewiß noch nicht zu Abend gegessen.«
»Ich habe wirklich keinen Hunger!«
Sie lachte.
»Nie hast Du Hunger. Wenn's danach gehen sollte! Komm!« Und sie zog ihn mit sich fort.
Als sie nach etwa zehn Minuten wieder in den Spielsaal trat, kam Dörmann auf sie zu.
»Nun?« fragte sie gespannt, »wieviel bekomme ich ausgezahlt? Wie sind die Chancen?«
Er zog ein jämmerliches Gesicht.
»Etwa Tausend habe ich bis jetzt verloren, wenn es danach geht, bist Du treu wie Gold,« setzte er komisch hinzu.
»Da hast Du's!«
Er: »Kommerzienrat Bär hat seinen Glückstag!«
Sie: »Wie interessant! So ... so! ... Also doch!«
Sie warf einen Blick nach dem Kommerzienrat, der sich soeben erhob und an einen seiner Mitspieler sich mit den Worten wandte: »Ich muß ein wenig ausspannen. Bitte vertreten Sie mich doch.«
»Dörmann,« rief es von einem anderen Spieltisch, und der Advokat entfernte sich schleunigst. »Die Pflicht ruft!« entschuldigte er sich.
Der Kommerzienrat näherte sich Frau Berger, die ihn mit heller Miene empfing.
»Nun, noch immer böse?« fragte er.
»Wie kann ich das!« antwortete sie zweideutig.
»Ist mir lieb. Ich bin wirklich für den Frieden. Schließen wir Frieden. Sie diktieren die Bedingungen. Einverstanden?«
»Schön! Zuerst verlangen sie pardon wegen Ihres Benehmens von vorhin!«
»Ich tue das feierlichst!«
»Zweitens wird der besiegte Teil zu einer Buße verpflichtet, die er sich selbst auferlegen mag.«
Der Kommerzienrat schnitt ein verblüfftes Gesicht – dann brach er in ein herzliches Lachen aus.
»Sie sind,« – er zog sie in einen Winkel – »Du bist eine kapitale Person. Ich beuge mich respektvoll.«
Sie verzog keine Miene. Aber aus ihren Zügen war jeder Blutstropfen gewichen. Ihre Lippen waren fahl.
»Um Gotteswillen, was ist Ihnen?« rief der Kommerzienrat.
»Still!« rief sie gequält. »Sprechen Sie nicht so laut.«
Kommerzienrat Bär zog seine Brieftasche. Er gab sich den Anschein, als notierte er etwas. In Wahrheit knittern er eine Banknote zusammen – und wollte sie ihr in die Hand drücken.
Sie machte eine abwehrende, erschreckte Geste.
»Die Buße!« sagte er gutmütig schmunzelnd, »die Buße ... Sie wissen doch, Paragraph 2.«
»Legen Sie es auf den großen Palmentopf,« stieß sie heiser hervor.
» Bon!« erwiderte er. »Und nächsten Donnerstag habe ich das Vergnügen, Sie zu sehen?«
»Ja!« sagte sie dumpf.
» A reviderci!«
Er ging wieder zu seinem Spieltisch und trat auf dem Wege dahin einen Moment zu dem Blumenkorbe.
Eine Minute später machte sich Frau Dr. Berger an derselben Stelle zu schaffen, um gleich darauf aus dem großen Herrensalon zu verschwinden.
Im Speisezimmer saß noch immer ihr Bruder und ließ es sich wohl sein. Ein mitleidiger Zug trat auf ihr Gesicht, wie sie ihn halb ausgehungert die Bissen in sich hineinschlingen sah. Bei ihrem Anblick hielt er beschämt inne.
»Es ist eigentlich ne Schlechtigkeit!« meinte er. »Ich tue mir gütlich. Und das arme Ding zerbricht sich den Kopf, wie es das Kind und sich durchbringen soll.«
»Sie wird doch nicht davon satt, wenn Du ebenfalls hungerst?« entgegnete sie. »Hör übrigens mal, Hugo, vielleicht kann ich morgen doch nicht kommen. Du bist so freundlich und bringst der Mutter sechshundert Mark, die übrigen vierhundert behältst Du?« Damit reichte sie ihm einen zerdrückten Tausendmarkschein.
Er sah sie mit irren Augen an.
Vor seinen Augen flimmerte und flirrte es.
»Ne ... ne!« stammelte er ... »so unmenschlich viel ...«
Er sah nicht ihre Qual.
»Halte damit Haus,« sagte sie. »Aber nun gute Nacht!« Und ehe er ihr noch antworten konnte, war sie aus dem Zimmer.