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»Berlin, den 5. März 1893.
Geliebte Regine!
Du magst über meine Schwäche geringschätzig lächeln, ich kann nicht, anders. Ich wende mich noch einmal als Bittender an Dich. Werde nicht zornig, sondern urteile gerecht – nur Gerechtigkeit verlange ich. In unserem Eheleben hätte gewiß manches anders sein können, ich gebe auch ohne weiteres zu, daß ich Dir gegenüber oft den rechten Ton verfehlt habe. Aber nun frage Dich selbst, ob Du in allen Stücken schuldfrei bist. – Ich will jedoch nicht von der Vergangenheit reden. – Wir sind jung, wenn wir beide ernstlich wollen, dann kann, dann muß noch alles gut werden! Denke an das Kind – und, denke auch ein wenig an mich. Ich bin, seit Du fort bist, ein anderer Mensch. Ich suche Dich überall. Immer meine ich, Du müßtest plötzlich vor mich hintreten und Deine liebe Hand versöhnend mir entgegenstrecken. Ich flehe Dich an, laß das Vergangene vergangen sein. Ich kann ohne Dich nicht leben, ich kann es nicht. Sei mitleidig – wenn alle Liebe, in Dir tot ist. Fritzel sitzt neben mir, während ich diese Zeilen schreibe und fragt beständig, wann Du kommst. Du mußt zu uns, Du mußt, wenn Du mich und das Kind nicht unglücklich machen willst.
Ewig Dein
Edmund«
Reginens Antwort.
»Spare jedes Wort. Willst Du, daß wir wenigstens in Frieden auseinandergehen – so mach mir das Kind nicht streitig, das elend würde, wüchse es zwischen uns auf.
Regine.«
Als Heller diese Antwort las, knirschte er. Der Satan ... der Satan, stieß er zornig hervor. Aber dann schmiedete er seinen Plan. Hier war alle Güte verschwendet – hier kam nur noch seine Manneskraft in Frage. Auf der Stelle wollte er nach Dresden – rund ins Gesicht wollte er ihr's erklären, daß er sie zwingen würde, zurückzukehren, wenn sie nicht freiwillig ihm folgen würde. Das wollte er. Sie mochte es sich selber zuschreiben – auch seine Langmut hatte Grenzen. Und nicht zaudern! Sofort abreisen!
»Das Kursbuch!« herrschte er seinen Bureauvorsteher an. In einer Stunde ging ein Zug. Wie gut sich das traf. Er setzte sich rasch an seinen Tisch und schrieb an die Schwiegermutter.
»Teure Mama!
Wenn Du diese Zeilen erhältst, bin ich bereits auf dem Wege nach Dresden, um Regine sofort mitzubringen. Ich glaube, Du billigst meinen Entschluß. Morgen denke ich schon zurück zu sein. Alles weitere dann mündlich.
Dein treu anhänglicher
Edmund.«
»Dieser Brief wird sofort per Dienstmann besorgt!«
Der Bureauvorsteher nickte, und Heller begab sich in seine Privatwohnung, machte in aller Eile Toilette und fuhr nach dem Bahnhof.
»Eins Zweiter nach Dresden!«
Nur noch fünf Minuten Zeit. Er begab sich schleunigst auf den Perron und stieg in ein Coupée, in dem zwei Herren sich eifrig unterhielten.
Als sich der Zug in Bewegung setzte, holte der eine von ihnen ein Spiel Karten hervor.
Heller wurde jovial.
»Wissen Sie, meine Herren,« sagte er, »wenn Sie zufällig einen dritten Mann zum Skat brauchen – hier ist er.«
Die beiden waren kreuzfidel.
»Das ist ausgezeichnet, dann brauchen wir nicht das faule 66!«
Die Zeit verging wie im Fluge. Der Zug brauste in die Bahnhofshalle, den Spielern viel zu früh.
Man hatte um die halben gespielt – sehr solid – und Heller hatte sieben Mark gewonnen. Er war wirklich vergnügt, als er sich von seinen Reisekollegen verabschiedete.
Auf der Straße holte er einen Taschenspiegel hervor, um sich einer kurzen Prüfung zu unterziehen. Seh ganz gut aus, beruhigte er sich. Nun nahm er aus der Manteltasche die Glacéhandschuhe. Ah, machte er, die Dinger sind unmöglich, absolut unmöglich!
Er beschloß, dem Übel abzuhelfen und ging. langsam die Pragerstraße entlang, wo er bald in einem Handschuhladen dem Notstand ein Ende machte.
Nun setzte er sich auf die Funkenkutsche, wie der Volksmund in Dresden die elektrische Bahn nennt und fuhr nach Loschwitz, wo Regine sich aufhielt. Er lächelte schlau in sich hinein. Weiber sind Weiber und haben nur kurzen Verstand. Wie dumm, sich durch das Telegramm an den Arzt zu verraten – nein, wie dumm! In zwanzig Minuten war er in Loschwitz und machte sich sofort auf den Weg nach dem »Weißen Hirsch«, wo sie logierte. Nun schlug ihm doch das Herz. Wie würde diese Unterredung enden? Wie würde er sich stellen, wenn sie ihn mit ihren demütigenden Blicken maß? Er reckte sich ein wenig. Vor allem würdig und stark, einen gewissen leidenden Ernst in den Zügen. Er ging immer langsamer – ohne auf den Weg zu achten, der zwischen hügeligen Gärten, die dicht an die Elbe stießen, sich hinzog. Einmal blieb er unwillkürlich stehen. Auf dem Terrain einer Villa stand abseits ein winziges Häuschen, das einen engen Raum enthalten mochte. Und an dem Häuschen war eine Gedenktafel angebracht. Er las:
Hier schrieb Schiller bei seinem Freunde Körner am Don Carlos.
Nun wurde er gerührt. Er erinnerte sich plötzlich an eine Carlos-Aufführung, der sie im Deutschen Theater als Brautpaar beigewohnt hatten. Er sah sie deutlich, wie sie angstvoll nach der Bühne gesehen in einem seelischen Aufruhr, der ihn entzückt hatte. In den Pausen hatte sie kein Wort gesprochen, sich nur dicht an ihn geschmiegt und öfter verstohlen zu ihm emporgeblickt. Vergangene Zeiten. Er seufzte tief. Jetzt war er in der rechten Stimmung. Jenen Abend würde er ihr zurückrufen und all die anderen frohen Erinnerungen – und nichts nachtragen. Er beschleunigte seine Schritte, fragte eine Frau, die ihm begegnete, nach der Villa Urvasi und hörte, daß er keine zwei Minuten mehr von ihr entfernt sei.
Eine Katze sprang ihm über den Weg. Da verzog sich seine Miene. O, weh! murmelte er und wurde wieder mutlos. Unsinn ... Narretei! So abergläubisch zu sein.
Er stand vor der Villa, raffte sich auf und schellte.
Ein Dienstmädchen öffnete.
»Der Herr wünschen?«
»Bin ich hier recht bei Frau Dr. Hut!«
»Dann logiert hier Frau Regine Heller – ich bitte, mich der Dame zu melden.«
Das Mädchen zuckte mit der Achsel.
»Die gnädige Frau ist gestern abgereist!«
Heller glaubte, er hätte eine Ohrfeige erhalten. Er war so verblüfft, daß er zuerst kein Wort hervorbringen konnte.
Schließlich stammelte er: »Abgereist?«
»Gestern Mittag!« antwortete das Mädchen.
Das Blut stieg ihm zu Kopf.
»Ich möchte Frau Dr. Hut sprechen.«
»Bitte sehr!«
Er wurde in ein kleines Zimmer geführt, wo er etwa fünf Minuten warten mußte – eine Zeit, die ihm endlos vorkam.
Eine ältliche Dame, sehr reserviert, sehr gemessen in ihren Bewegungen, trat ein. Sie wiederholte, was Heller bereits durch das Mädchen wußte – er erfuhr nur noch, daß seine Frau ganz plötzlich sich fortbegeben habe, obwohl der Aufenthalt noch für Wochen berechnet gewesen sei. Sie hätte nur hinterlassen, etwaige Briefe ihr poste restante nach Berlin nachzusenden.
Heller empfahl sich kurz. Er war ganz niedergeschlagen. Sie ist also in Berlin kalkulierte er. Auf einmal blitzte es in ihm auf – kein Zweifel, sie ist bei Gent, mit dem sie sicher in Korrespondenz gestanden, denn das Nachsenden etwaiger Briefe konnte sich nur darauf beziehen. Dem werd ich das Handwerk legen, zischte er, diesem wunderlichen Heiligen. Er hatte ihn seit jener Nacht gemieden. Der Auftritt von damals war ihm nachträglich doch beschämend gewesen – und dann, er traute, ihm nicht mehr – die Schwiegermutter hatte vollkommen recht, ganz geheuer war die Sache nicht.
Er fuhr sofort nach Dresden zurück, nahm im Café König eine Erfrischung und benutzte den nächsten Zug nach Berlin. Er mußte auf der Stelle zu Gent. Bei ihm war sie, oder Gent wußte wenigstens, wo sie sich befand. Er wollte einmal sehen, ob ihn der auch jetzt noch naszuführen wagte. Da fiel ihm ein, daß er ihn wohl doch so spät nicht aufsuchen könnte. Auch war es ihm peinlich, zu ihm zu gehen. Es schien ihm das Vernünftigste, erst von den Strapazen ordentlich auszuruhen, bevor er neue Pläne schmiedete. Er trank noch einen Cognak, bevor er einstieg.
Die Rückfahrt war mehr als trübselig. Advokat Heller fand diesmal keinen Skat. Er lehnte sich in die Kissen zurück, ohne jedoch zu schlafen, übermüdet, in gereizter, galliger Laune, kam er in Berlin an.