Victor Hugo
Han der Isländer. Band 1
Victor Hugo

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VI.

Etwa eine Stunde darauf, nachdem Ordener den Spladgest verlassen hatte, schloß Oglypiglap, da es ganz Nacht geworden war und die Menge sich verlaufen hatte, das äußere Thor des Gebäudes, während Spiagudry die Leichname zum letzten Male mit Wasser begoß. Beide zogen sich dann in ihre bescheidene Wohnung zurück; der Lappe legte sich auf sein ärmliches Lager. Spiagudry setzte sich hinter einen Tisch voll alter Bücher, getrockneter Pflanzen, nackter Gebeine, und lag seinen Studien ob.

Er war schon mehrere Stunden in tiefes Nachdenken versunken und wollte eben seine Bücher mit dem Bett vertauschen, als er auf folgende Stelle des Thormodus Torföus stieß: »Wenn ein Mensch seine Lampe anzündet, kehrt der Tod bei ihm ein, ehe sie erlischt.«

»Der gelehrte Doktor mag mir verzeihen,« sagte er für sich, »so wird es bei mir diesen Abend nicht sein.«

Er nahm die Lampe in die Hand, um sie auszublasen.

Da rief plötzlich eine Stimme, die aus dem Zimmer der Leichname kam: »Spiagudry!«

Spiagudry zitterte an allen Gliedern, nicht als ob er an eine Auferstehung seiner Todten geglaubt hätte, denn dazu war er zu einsichtsvoll, nicht weil ihm die Stimme unbekannt, sondern weil sie ihm nur allzu bekannt war.

»Spiagudry!« wiederholte die Stimme zornig, »willst Du hören, oder soll ich Dir die Ohren ausreißen?«

»Möge St. Hospiz sich meiner erbarmen, nicht meiner Seele, sondern meines Leibs!« sagte der erschrockene Alte, ging mit einem Schritte, den die Furcht beschleunigte und zugleich verzögerte, der Thüre zu und öffnete sie.

Am Fuße des steinernen Bettes, auf welchem Gill Stadts Leichnam lag, stand ein kleiner untersetzter Mann, in verschiedenartige Thierhäute gekleidet, auf welchen zum Theil das abgetrocknete Blut noch bemerkbar war. Die Züge des kleinen Mannes hatten etwas außerordentlich Wildes. Er hatte einen rothen dichten Bart, sein Kopf, auf dem er eine Mütze von Elennsfell trug, war mit gleichen Haaren bedeckt; sein Mund war groß, seine Lippen dick, seine Zähne weiß und scharf, seine Nase gebogen, wie ein Adlerschnabel, und sein graues, unstätes Auge warf auf Spiagudry einen schielenden Blick, worin die Wildheit des Tigers nur durch die Bösartigkeit des Affen ermäßigt war. Dieses seltsame Wesen war mit einem breiten Schwert, einem Dolch ohne Scheide bewaffnet und stützte sich auf den Stiel einer steinernen Axt, die es in der Hand trug; seine Hände waren mit großen Handschuhen von blauem Fuchsfell bedeckt.

»Dieses alte Gespenst,« brummte der Mann vor sich hin, »hat mich lange warten lassen.«

Bei diesen Worten stieß er ein Geheul aus, wie ein wildes Thier. Spiagudry bebte erschrocken zurück.

»Weißt Du,« fuhr er fort, »daß ich von dem Strande von Urchthal komme? Warum hast Du gesäumt, mir zu öffnen? Hast Du etwa Lust, Dein Strohlager mit einem dieser steinernen Betten zu vertauschen?«

Der alte Mann zitterte an allen Gliedern, und was ihm von Zähnen im Munde noch übrig war, klapperte im Fieberfrost zusammen.

»Verzeiht, Herr,« sagte er und bückte sich tief, »ich lag in tiefem Schlaf . . .«

»Soll ich Dich einen noch tieferen Schlaf kennen lehren?«

Spiagudry machte eine Geberde des Schreckens.

»Nun, was ist Dir denn? Was hast Du? Ist Dir etwa meine Gegenwart nicht angenehm?«

»O, mein gnädigster Herr! Was könnte mir denn angenehmer sein, als das Glück, Euer Excellenz zu sehen?«

»Alter Fuchs ohne Schwanz, meine Excellenz befiehlt Dir, mir die Kleider von Gill Stadt einzuhändigen.«

Als der kleine Mann diesen Namen aussprach, wurde sein Gesicht, bisher wild und höhnisch, plötzlich düster und traurig.

»Verzeiht, Herr!« sagte Spiagudry, »ich habe sie nicht mehr, Euer Gnaden weiss, daß wir den Nachlaß der Bergleute, welche der König als ihr geborener Beschützer beerbt, an den königlichen Schatz abliefern müssen.«

Der kleine Mann wandte sich gegen den Leichnam, kreuzte die Arme übereinander, und sagte mit dumpfer Stimme: »Er hat Recht. Die elenden Bergleute sind wie die Eidergans! man macht ihr das Nest, dann rupft man ihr die Federn aus.«

Mit diesen Worten umfaßte er den Leichnam, drückte ihn fest in seine Arme und stieß ein Schmerzgeheul aus, das so wild klang, wie das Brüllen eines wilden Thiers. Darunter mischte er von Zeit zu Zeit einige Worte einer fremden Sprache, die Spiagudry nicht verstand.

Er ließ den Leichnam auf den Stein zurückfallen und wandte sich zu dem Wächter: »Weißt Du, verfluchter Hexenmeister, den Namen des unter einem bösen Sterne geborenen Soldaten, der das Unglück gehabt hat, Gill von diesem Mädchen vorgezogen zu werden?«

Hier gab er dem Leichnam der Guth Stersen einen Fußtritt. Spiagudry machte mit dem Kopf ein verneinendes Zeichen.

»Nun denn, bei der Axt Ingulphs, meines Stammvaters, so will ich Alle vertilgen, welche diese Uniform tragen!« Er deutete auf die Kleider des Hauptmanns, die an der Wand hingen.

»Der,« fuhr er fort, »an dem ich mich rächen will, wird darunter sein. Ich will den ganzen Wald anzünden, damit der vergiftete Stamm darin verbrenne. Das habe ich an dem Tage geschworen, wo Gill gestorben ist, und ich habe ihm bereits einen Gefährten beigesellt, damit sich sein Leichnam freue.«

»O, Gill!« klagte er in wilden Tönen, »da liegst Du jetzt, ohne Kraft und Leben, der Du die Robbe im Schwimmen und die Gemse im Laufen überholtest, der Du den Bären des Berges Kole in Deinen Armen erdrücktest! Starr und unbeweglich liegst Du, der Du Drontheimhus, von Orkel bis zum Smiassen, in einem Tage durchliefst, der Du den Gipfel des Dofre-Field erstiegst, wie ein Eichhörnchen den Gipfel der Eiche! Da liegst Du stumm, der Du, aufrecht auf der stürmischen Spitze des Kongsberg, Deine Stimme lauter erhobst, als das Brüllen des Donners! O, Gill! So habe ich denn vergebens für Dich die Minen von Faroer verschüttet, so habe ich vergebens für Dich die Kirche von Drontheim verbrannt! Alle meine Mühe ist verloren, und mit Dir stirbt das Geschlecht der Kinder des Eislandes, der Abkömmlinge Ingulphs des Vertilgers! Du wirst nicht der Erbe meiner steinernen Axt sein, sondern ich werde aus Deinem Schädel das Wasser des Meeres und das Blut der Menschen trinken!«

Mit diesen Worten ergriff er den Kopf des Leichnams.

»Spiagudry, hilf mir!« sagte er, riß seine Handschuhe ab und zeigte seine breiten Hände, an denen lange, harte und gebogene Nägel waren, wie die Krallen eines wilden Thieres.

Spiagudry, der ihn im Begriffe sah, mit seinem breiten Säbel den Schädel des Leichnams abzuhauen, schrie mit einem Tone des Abscheus, den er nicht zurückzuhalten vermochte: »Gerechter Gott, Herr! . . . ein Leichnam! . . .«

»Nun,« erwiederte ruhig der kleine Mann, »ist es Dir lieber, wenn diese Klinge sich hier an einem Lebenden versucht?«

»Erlaubt mir, Eure Ritterlichkeit anzuflehen! . . . Wie mag Eure Excellenz eine solche Entweihung . . . Euer Gnaden . . . Gnädiger Herr . . . Euer Erlaucht wird nicht . . .«

»Bist Du bald zu Ende? Brauche ich alle diese Titel, lebendes Skelett, um an Deinen tiefen Respekt vor meinem Säbel zu glauben?«

»Ich beschwöre Euch beim heiligen Waldemar, beim heiligen Usuph, schont eines Todten!«

»Hilf mir, und sprich nicht mit dem Teufel von den Heiligen!«

»Gnädiger Herr, bei Eurem erlauchten Ahnherrn St. Ingulph! . . .«

»Ingulph der Vertilger war ein Ausgestoßener, wie ich.«

»Im Namen des Himmels,« fuhr der alte Mann fort und warf sich vor ihm nieder.

Die Geduld des kleinen Mannes war erschöpft, seine grauen Augen glühten wie zwei Kohlen.

»Hilf mir!« wiederholte er und schwang seinen Säbel.

Diese beiden Worte klangen wie das Brüllen eines wilden Thieres. Spiagudry, in Todesfurcht zitternd, setzte sich auf den Stein und hielt mit seinen Händen Gills kaltes und feuchtes Haupt, während der kleine Mann, mit Hülfe seines Dolchs und Säbels, den Hirnschädel mit seltener Geschicklichkeit abnahm.

Er betrachtete einige Zeit lang den blutigen Schädel, während er abgebrochene Worte in einer fremden Sprache ausstieß. Dann gab er ihn Spiagudry, damit er ihn säubere und wasche.

»Und ich,« sprach er mit untermischtem Heulen, »ich werde im Tode nicht den tröstenden Gedanken haben, daß ein Erbe der Seele Ingulphs aus meinem Schädel das Blut der Menschen und das Wasser der Meere trinken wird!«

Nach einem düstern Nachsinnen fuhr er fort: »Der Orkan folgt dem Orkan, die Lawine der Lawine, und ich werde der letzte meines Geschlechtes sein. Warum hat Gill nicht, gleich mir, gehaßt, was ein menschliches Antlitz an sich trägt? Welcher Dämon, der Ingulphs Dämon feindlich ist, hat ihn in diese unsel'gen Minen gestoßen, ein wenig Gold zu gewinnen?«

Spiagudry, der ihm den Schädel brachte, unterbrach ihn: »Die Excellenz hat Recht. Selbst das Gold, sagt Snorro Sturleson, wird oft zu theuer erkauft.«

»Du erinnerst mich eben recht,« sagte der kleine Mann, »daß ich Dir einen Auftrag zu ertheilen habe. Hier ist eine eiserne Büchse, die ich bei diesem Offizier gefunden habe. Sie ist so fest verschlossen, daß sie ohne Zweifel mit Gold gefüllt sein muß, als dem Einzigen, was die Menschen werthschätzen. Diese Büchse händige der Wittwe Stadt, im Weiler Thoctree, ein, um ihr ihren Sohn zu bezahlen.«

Mit diesen Worten zog er aus seinem Tornister eine kleine eiserne Büchse und übergab sie Spiagudry, der sie mit einer tiefen Verbeugung empfing.

»Erfülle getreulich meinen Befehl,« sagte der kleine Mann und warf ihm einen durchbohrenden Blick zu. »Bedenk, daß zwei Dämonen nichts hindert, sich wieder zu sehen. Ich halte Dich für noch mehr feig als geizig, Du bist mir für diese Büchse verantwortlich.«

»O, Herr, bei meiner armen Seele! . . .«

»Nicht doch! Bei Deinem Fleisch und Bein.«

In diesem Augenblick wurde heftig an die äußere Thüre des Spladgest gepocht.

Der kleine Mann staunte, Spiagudry bebte zurück und bedeckte die Lampe mit seiner Hand.

»Was ist das?« grinste der Kleine. »Du zitterst, alter Tropf! Nie wirst Du erst zittern, wenn Du die Posaune des jüngsten Gerichts hörst!«

Ein zweiter heftigerer Schlag ließ sich vernehmen. »Man wird einen Todten bringen,« sagte der kleine Mann.

»Nein, Herr, nach Mitternacht bringt man keine Leichname mehr.«

»Lebendig oder todt, ich muß fort. Du, Spiagudry, sei treu und stumm. Ich schwöre Dir bei Ingulphs Geist und Gills Schädel, daß Du das ganze Regiment von Mundholm in Deine Herberge bekommen wirst.«

Er befestigte Gills Schädel an seinen Gürtel, zog seine Handschuhe an und schwang sich mit der Lebendigkeit einer Gemse durch die obere Oeffnung auf das Dach.

Ein dritter Schlag erschütterte das Gebäude, und eine Stimme von Außen gebot im Namen des Königs und des Vicekönigs, die Thüre zu öffnen.


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