Victor Hugo
Han der Isländer. Band 1
Victor Hugo

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XIV.

»Ja, Herr, wir sind in der That schuldig und verbunden, eine Wallfahrt nach der Grotte von Lynraß zu machen. Hätte man glauben sollen, daß dieser Eremit, den ich verwünschte wie einen höllischen Geist, unser Retter werden sollte, und daß die Lanze, die uns jeden Augenblick den Tod zu drohen schien, uns zur sicheren Brücke über den Abgrund dienen würde?«

Mit diesen Worten gab Benignus Spiagudry seine Freude und seine Dankbarkeit gegen den geheimnißvollen Einsiedler zu erkennen. Unsere Reisenden hatten den verfluchten Thurm verlassen und Vygla lag bereits weit hinter ihnen. Sie klommen eben einen steilen Berg hinauf. Der Anbruch des Tages war nahe. Ordener schritt schweigend vorwärts.

»Herr,« fuhr der redselige Spiagudry fort, »fürchten Sie nichts. Die Häscher haben sich mit dem Eremiten rechts gewendet und wir sind jetzt weit genug von ihnen entfernt, um frei sprechen zu können. Bis jetzt war es allerdings der Klugheit gemäß, stille zu schweigen.«

»In der That,« erwiederte Ordener, »Ihr treibt die Klugheit ziemlich weit, denn es sind jetzt etwa drei Stunden, daß wir den Thurm und die Häscher hinter uns haben.«

»Das ist wahr, Herr, aber Vorsicht kann nicht schaden. Wenn ich mich nun genannt hätte, als der Anführer dieser höllischen Rotte mit einer Stimme, gleich derjenigen, womit Saturn seinen neugeborenen Sohn forderte, um ihn zu fressen, den Namen Benignus Spiagudry aussprach, wenn ich nicht in diesem furchtbaren Augenblick meine Zuflucht zu einer klugen Schweigsamkeit genommen hätte, wo wäre ich jetzt, was wäre aus mir geworden, wie würde es mit mir enden?«

»Ich glaube in der That, alter Herr, daß man in jenem Augenblicke Euern Namen nicht anders von Euch hätte erlangen können, als wenn man ihn Euch mit Zangen aus dem Munde gerissen hätte.«

»Hatte ich Unrecht, Herr, zu schweigen? Hätte ich gesprochen, so würde der Eremit, den St. Usbald der Einsiedler segnen möge, nicht Zeit gehabt haben, den Anführer der Häscher zu fragen, ob seine Leute Soldaten der Besatzung von Munckholm seien, eine unbedeutende Frage, einzig in der Absicht gethan, Zeit zu gewinnen. Haben Sie nicht bemerkt, wie auf die bejahende Antwort dieses einfältigen Häschers der Eremit ihm mit einem seltsamen Lächeln erwiederte, daß er den Schlupfwinkel Spiagudry's kenne und ihn selbst dahin führen wolle?«

Hier hielt der alte Schwätzer etwas inne, um frischen Athem zu schöpfen, dann ergoß er sich in einen neuen Strom pedantischer Redseligkeit.

»Guter Priester! Würdiger und tugendhafter Anachoret, der du die Grundsätze der christlichen Menschenfreundlichkeit und der evangelischen Liebe befolgst! Und ich, ich entsetze mich über dein Aeußeres, das allerdings ziemlich unglückverkündend war, aber eine um so schönere Seele verbarg! Auf Wiedersehen! sprachst du zu mir, als du die Häscher wegführtest! Allerdings hatte der Accent, mit welchem du diese Worte sprachst, etwas Zurückschreckendes, aber das ist nicht deine Schuld, du frommer und unvergleichlicher Eremit! Ohne Zweifel gibt die Einsamkeit der Stimme diesen seltsamen Ton. Ein Einsiedler anderer Art, jener furchtbare . . . Doch schweigen ist klug, wo reden zu nichts führt . . . Du hattest freilich Handschuhe an, wie . . . aber es war in der That kalt genug, um Handschuhe zu tragen . . . Auch über dein salziges Getränk wundere ich mich nicht mehr. Die katholischen Cönobiten haben oft seltsame Regeln. Ein Beispiel ähnlicher Art finden wir in folgendem Verse des berühmten Urensius, Mönchs auf dem Berge Kaukasus:

Rivos despiciens, maris undam potat amaram.

Wie ist mir doch in diesem verfluchten Thurme von Vygla dieser Vers nicht eingefallen! Etwas mehr Gedächtniß hätte mir viele thörichte Unruhe erspart. Es ist allerdings schwierig in einer solchen Mordhöhle, an dem Tische eines Scharfrichters, seine Gedanken ganz beisammen zu haben. Die nämliche Luft mit dem Henker athmen! Und der elendeste Bettler wirft die Lumpen weg, die seinen Leib gegen die Kälte des Winters schützen, wenn die unreine Hand des Henkers sie berührt hat! Und wenn der Kanzler den Bestallungsbrief des Scharfrichters ausgefertigt hat, wirft er ihn unter den Tisch zum Zeichen seines Ekels und Fluches! Und in Frankreich, wenn der Henker todt ist, bezahlen die Gerichtsdiener des Bezirks lieber eine Strafe von vierzig Livres, als daß sie seine Stelle annehmen! Und zu Pesth wollte der Verurtheilte Corchill lieber sich hinrichten lassen, als den Platz eines Scharfrichters annehmen, den man ihm als Begnadigung anbot! Turmeryn, Bischof zu Maestricht, ließ eine Kirche neu einweihen, welche der Fuß des Henkers betreten hatte, und die Czarin Petrowna wusch sich jedesmal das Gesicht, so oft sie von einer Hinrichtung zurückkam. Und gibt nicht, nach Melasius Iturham, Charon selbst dem Räuber Robin Hood beim Einsteigen in den höllischen Nachen den Vortritt vor dem Scharfrichter Philipcraß? Wenn ich jemals zur Macht gelange, was in Gottes Hand steht, so will ich Todesstrafe und Scharfrichter aufheben und die alten Gebräuche und Taxen wieder einführen. Für den Mord eines Prinzen bezahlt man alsdann, wie im Jahre 1450, die Summe von 1440 Doppelthalern; für den Mord eines Grafen 1440 einfache Thaler; für den Mord eines Barons 1440 halbe Thaler; der Mord eines einfachen Edelmanns kostet . . .«

»Höre ich nicht hinter uns den Schritt eines Pferdes?« sagte Ordener.

Sie sahen sich um und erblickten etwa hundert Schritte hinter sich einen schwarzgekleideten Mann, der ihnen mit der Hand winkte.

»Um Gottes willen, Herr! Lassen Sie uns eilen, dieser schwarze Mann gleicht auf ein Haar einem verkleideten Häscher,« sagte der furchtsame Spiagudry.

»Alter Herr, wir sind ja zu zwei und sollten vor einem Manne fliehen!«

»Zwanzig Sperber fliehen vor einer einzigen Nachteule. Ein Kampf mit einem solchen Nachtvogel ist nicht glorreich.«

»Seid ruhig, Alter, ich erkenne jetzt den Räuber. Bleibt stehen!«

Der Räuber kam zu ihnen. Es war Athanasius Munder. Er grüßte sie und sagte: »Meine lieben Freunde, um Euretwillen bin ich umgekehrt.«

»Herr Pfarrer,« sagte Ordener, »wir werden uns glücklich schätzen, Ihnen in irgend etwas dienlich zu sein.«

»Im Gegentheil, junger Mann, wünsche ich Ihnen zu dienen. Wollen Sie mir wohl sagen, welches der Zweck Ihrer Reise ist?«

»Das kann ich nicht, ehrwürdiger Herr!«

»Ich wünsche, mein Sohn, daß dies nicht aus Mißtrauen gegen mich geschehe, denn sonst wehe mir, wehe jedem Menschen, dem man mißtraut, wenn man ihn auch zum erstenmal gesehen hat.«

Die salbungsvolle Demuth des Geistlichen rührte Ordener.

»Alles, was ich Ihnen sagen kann, mein Vater, ist, daß wir in die nördlichen Gebirge gehen.«

»Das dachte ich mir, mein Sohn, und deßwegen bin ich zurückgekommen. Es gibt in diesen Gebirgen Banden von Bergleuten und Jägern, die öfters den Reisenden gefährlich sind.«

»Nun?« sagte Ordener.

»Nun! Ein edler junger Mann, der einer Gefahr entgegengeht, mag seinen Weg verfolgen, ohne daß man ihn davon abwendig macht; aber Sie haben mir Achtung eingeflößt, und es ist mir ein Mittel eingefallen, Ihnen nützlich zu sein. Der unglückliche Falschmünzer, dem ich gestern die letzten Tröstungen der Religion darbrachte, war ein Bergmann. Vor seinem Ende gab er mir dieses Blatt, auf welches sein Name geschrieben ist, und sagte mir, daß dieser Paß mich vor jeder Gefahr schützen würde, wenn ich je die Gebirge besuchte. Was kann aber dieses Papier einem armen Priester helfen, dessen Beruf ist, bei Gefangenen zu leben und zu sterben, und der übrigens inter castra latronum keine anderen Vertheidigungsmittel suchen darf, als die er in Ergebung und Gebet findet, welches die einzigen Gott wohlgefälligen Schutzmittel sind! Ich habe diesen Paß angenommen, weil man das Herz dessen, der in kurzer Zeit auf dieser Welt nichts mehr zu geben und zu empfangen hat, nicht durch eine abschlägige Antwort betrüben soll. Der Herr hat mir wohl gerathen, denn heute kann ich Ihnen dieses Papier einhändigen, um Ihnen auf Ihrem gefahrvollen Wege dienlich zu sein, und möge die Gabe des Sterbenden dem Lebenden zur Wohlthat gereichen!«

Ordener empfing mit Rührung das Geschenk des ehrwürdigen Geistlichen.

»Herr Pfarrer,« sagte er, »möge der Himmel Ihren Wunsch erhören! Inzwischen,« fügte er mit jugendlichem Uebermuth hinzu, indem er an seinen Säbel schlug, »führte ich schon hier meinen Paß an der Seite.«

»Junger Mann,« erwiederte der Priester, »vielleicht wird dieses leichte Papier Sie besser schützen, als das Eisen an Ihrer Seite. Der Blick eines Büßenden ist mächtiger, als das feurige Schwert des Erzengels. Leben Sie wohl! Die da gefangen sind, harren meiner. Beten Sie bisweilen für sie und mich.«

»Ihre Gefangenen werden Gnade erhalten, das sage ich Ihnen nochmals.«

»Sprechen Sie nicht mit solcher Zuversicht, mein Sohn! Versuche den Herrn nicht, steht geschrieben. Ein Mensch kennt nicht die Gedanken eines andern Menschen, und Sie wissen nicht, was der Sohn des Vicekönigs beschließen wird. Vielleicht wird er einen armen Diener des Herrn nicht einmal vor seine Augen lassen. Gehen Sie mit Gott, und möge der Himmel Ihre Reise segnen!«


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