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Wir haben Ordener und Spiagudry verlassen, als sie eben bei aufgehendem Monde den Gipfel des Felsen von Oelmö ziemlich mühsam erstiegen. Je höher die Reisenden kamen, um so kahler wurde allmählig der Felsen; der Wald verwandelte sich in Gesträuch; bald verschwand auch dieses.
»Gnädiger Herr Ordener,« sagte der stets redselige Spiagudry, »dieser steile Pfad ist sehr ermüdend, und um ihn mit Ihnen zu erklimmen, bedurfte es der ganzen Ergebenheit . . . Aber es scheint mir, daß ich da rechts einen prächtigen convolvulus sehe; den möchte ich gerne näher untersuchen. Schade, daß es nicht Tag ist! . . . Doch um auf etwas Anderes zu kommen, müssen Sie nicht selbst gestehen, daß es höchst unverschämt ist, einen Gelehrten, wie ich einer bin, nur um vier lumpige Thaler anzuschlagen? Es ist allerdings wahr, daß der berühmte Phädrus ein Sklave war, und daß Aesop, wenn wir dem gelehrten Planudius glauben wollen, auf dem öffentlichen Markt wie ein Thier oder eine Sache verkauft worden ist, und wer sollte nicht stolz darauf sein, ein mit dem großen Aesop in einiger Beziehung ähnliches Schicksal zu haben? . . .«
»Und mit dem berühmten Han?« fügte Ordener lachend hinzu.
»Sprechen Sie doch diesen Namen nicht in solcher Beziehung aus, mein gnädiger Herr! Ich schwöre Ihnen bei Jupiters Thron, daß ich diese Vergleichung gerne entbehre. Das jedoch wäre ein sonderbarer Fall, wenn der Preis, welcher auf sein Haupt gesetzt ist, Benignus Spiagudry, der sich in gleichem Unglück befindet, zukäme. Gnädiger Herr Ordener, Sie sind edelmüthiger als Jason, denn dieser gab das goldene Vließ seinem Piloten von Argos nicht, und doch ist Ihr Unternehmen, dessen Zweck mir ein Räthsel bleibt, nicht minder gefährlich, als das Jason'sche war . . .«
»Nun,« unterbrach ihn Ordener, »da Ihr diesen Han den Isländer kennt, so macht mich doch näher mit seinen persönlichen Verhältnissen bekannt. Ihr habt mir bereits gesagt, daß er kein Riese sei, wie man insgemein glaubt.«
»Halten Sie, Herr!« rief Spiagudry ängstlich aus. »Es dünkt mich, daß ich das Geräusch von Schritten hinter uns höre.«
»Richtig,« antwortete Ordener ruhig, »Ihr habt Recht. Seid ruhig, es wird irgend ein wildes Thier sein, das wir aufgeschreckt haben.«
»Sie mögen Recht haben, mein junger Cäsar, denn seit langer Zeit hat diese Gehölze kein menschlicher Fuß betreten. Aus dem gewichtigen Tritte zu schließen, muß dieses Thier groß sein. Etwa ein Elennthier oder ein Rennthier. Es gibt deren viele in diesem Theile Norwegens. Man findet auch Pantherkatzen; ich habe deren selbst eine zu Kopenhagen gesehen; sie war ungeheuer groß. Ich will Ihnen doch eine Beschreibung von diesem wilden Thiere machen . . .«
»Mein lieber Freund, macht mir lieber die Beschreibung von einem andern nicht minder wilden Thiere, jenem furchtbaren Han . . .«
»Leise doch, gnädiger Herr! Wie Sie einen solchen Namen so ruhig aussprechen! Sie wissen nicht . . . Hören Sie doch um Gottes willen, Herr!«
Spiagudry drängte sich dicht an Ordener, welcher sehr deutlich eine Art Geheul vernahm, das demjenigen glich, welches in jener stürmischen Nacht den armen Spiagudry so sehr in Schrecken gesetzt hatte.
»Haben Sie es gehört?« murmelte dieser vor Furcht zitternd.
»Allerdings, und ich weiß nicht, warum Ihr zittert. Das ist das Heulen eines wilden Thieres, vielleicht gar jener Pantherkatze, von der Ihr eben gesprochen habt. Glaubtet Ihr denn um diese Stunde einen solchen Ort passiren zu können, ohne etwas von wilden Thieren zu vernehmen? Aber seid ruhig, sie sind gewiß selbst mehr erschreckt, als Ihr.«
Spiagudry faßte ein wenig Muth, als er die Ruhe seines Reisegefährten sah.
»Es könnte wohl sein, Herr, daß Sie abermals Recht hätten, allein dieses Thiergeschrei gleicht einer gewissen entsetzlichen Stimme . . . Es war eine böse Inspiration, welche Sie auf den Gedanken brachte, diesen Felsen, auf welchem die Ruinen von Pharamunds Burg liegen, ersteigen zu wollen. Ich fürchte fast, daß uns ein Unglück begegnen möge.«
»Fürchtet nichts, so lange ich bei Euch bin.«
»Ach! Sie fürchten sich doch vor gar nichts. Allein, Herr, nur der heilige Paulus kann Schlangen in die Hand nehmen, ohne daß sie ihn beißen. Sie haben aber nicht wahrgenommen, daß das Gras in diesem verfluchten Fußsteig, als wir in ihn einlenkten, frisch zerdrückt und zu Boden getreten war, was beweist, daß vor Kurzem erst Jemand den Weg passirt hatte.«
»Was liegt daran! Es macht mir keine Unruhe, wenn ein Grashalm zertreten ist. Jetzt sind wir aus dem Gebüsche, und hören weder Schritte noch Thiergeheul mehr. Wir müssen nun unsere Kräfte zusammennehmen, denn der in den Felsen gehauene Fußsteig wird schwierig zu ersteigen sein.«
»Nicht darum, Herr, weil er steiler ist, sondern der gelehrte Reisende Suckson erzählt, daß er oft durch Felsstücke oder schwere Steine gesperrt ist, die zu schwer sind, um sie aus dem Wege räumen zu können, und über die man nicht leicht wegkommt. Es liegt unter andern etwas jenseits des Ausfallthors des Malaerthurms, dem wir uns jetzt nähern, ein ungeheurer dreieckiger Granitblock, den ich längst gerne gesehen hätte. Schönning versichert, auf demselben die drei ursprünglichen runischen Buchstaben wieder aufgefunden zu haben . . .«
Die Reisenden kletterten schon eine Zeitlang den nackten Felsen hinauf; sie erreichten einen kleinen verfallenen Thurm, durch den sie passiren mußten.
»Dies ist das Ausfallthor des Malaerthurms,« sagte Spiagudry. »Dieser bedeckte Weg enthält mehrere sehenswürdige Bauten, die uns zeigen, welches die alten Fortifikationen unserer norwegischen Burgen waren. Dieses Ausfallthor, das immer vier Bewaffnete bewachten, war das erste Vorwerk der Burg Pharamunds. Bei Gelegenheit des Wortes Thor macht der Mönch Uresius eine sonderbare Bemerkung. Das Wort Janua, welches von Janus kommt, dessen Tempel so berühmte Thore hatte, soll das Wort Janitschar, Hüter der Thore des Sultans, erzeugt haben. Es wäre sonderbar, wenn der Name des friedlichen Janus auf die wilden und blutdürstigen Janitscharen übergegangen wäre.«
Während Spiagudry diesen gelehrten Galimathias auskramte, dachte Ordener nur an das Vergnügen, von hier aus den Leuchtthurm von Munckholm zu erblicken.
»Ah! Ich sehe ihn,« rief Spiagudry plötzlich aus. »Dieser Anblick entschädigt mich für alle meine Mühe. Ich sehe ihn, Herr, ich sehe ihn!«
»Was denn?« fragte Ordener, der an den Leuchtthurm von Munckholm und seine Ethel dachte.
»Was anders,« erwiederte Spiagudry mit beseligter Stimme, »als den dreieckigen Felsblock, von welchem Schönning spricht! Ich werde nunmehr, neben dem Professor Schönning und dem Bischof Isleif, der dritte Gelehrte sein, welcher das Glück gehabt hat, diesen Stein näher zu untersuchen. Nur ist es sehr zu bedauern, daß solches nur bei Mondschein geschehen kann.«
Als Spiagudry sich dem berühmten Felsblock näherte, stieß er einen Schrei schmerzlichen Staunens aus. Ordener fragte ihn um dessen Ursache, aber der arme Mann konnte lange Zeit die Zunge zur Antwort nicht bewegen.
»Ihr wart der Meinung,« sagte Ordener, »daß dieser Felsblock den Weg sperre. Ihr müßt nun im Gegentheil mit Vergnügen erkennen, daß er ihn vollkommen frei läßt.«
»Eben das setzt mich ja in Verzweiflung!« sagte Benignus mit kläglicher Stimme.
»Wie so denn?«
»Wie so, Herr! Sehen Sie nicht, daß dieser Block von der Stelle gerückt worden ist, daß dessen Basis, die auf dem Fußpfad ruhte, nun mehr der Luft ausgesetzt ist, während der Stein gerade mit der Seite, an welcher Schönning die ursprünglichen runischen Schriften entdeckt hatte, auf dem Boden ruht? . . . Das macht mich sehr unglücklich!«
»Das ist freilich ein harter Schlag!« sagte Ordener spottend.
»Dazu kommt noch,« fügte Spiagudry lebhaft hinzu, »daß die Wegrückung dieser Masse die Gegenwart irgend eines übernatürlichen Wesens beweist. Wenn es nicht der Teufel selbst ist, so gibt es in Norwegen nur einen einzigen Menschen, dessen Arm im Stande wäre . . .«
»Euer panischer Schrecken ergreift Euch wieder, alter Herr! Wer weiß, ob dieser Stein nicht seit einem Jahrhundert so liegt?«
»Allerdings,« sagte Spiagudry beruhigter, »sind es allbereits hundert und fünfzig Jahre, daß der letzte gelehrte Beobachter denselben studirt hat. Es scheint mir jedoch, daß er frisch weggeräumt sei; der Platz, den er einnahm, ist noch feucht. Sehen Sie, Herr . . .«
Ordener, voll Ungeduld, die Ruinen zu erreichen, riß den gelehrten Forscher von der Pyramide weg.
»Hört, Alter,« sagte er, »wenn Ihr erst die tausend Thaler, welche Euch Han's Kopf eintragen wird, in der Tasche habt, könnt Ihr Euch an den Ufern dieses See's niederlassen und die Alterthümer der Gegend mit aller Gemächlichkeit studiren.«
»Sie haben Recht, edler Herr, allein reden Sie nicht so leichthin von einem noch sehr zweifelhaften Siege. Ich will Ihnen einen Rath ertheilen, mittelst dessen Sie sich des Ungeheuers leicht bemeistern können . . .«
»Und welchen?« fragte Ordener schnell.
»Der Räuber,« sagte Spiagudry leise und warf unruhige Blicke um sich, »trägt an seinem Gürtel einen Hirnschädel, aus welchem er zu trinken pflegt. Dieser Hirnschädel ist der seines Sohnes, des nämlichen Leichnams, wegen dessen Profanation ich verfolgt werde . . .«
»Etwas lauter, und fürchtet nichts; ich höre Euch kaum. Nun, dieser Hirnschädel?«
»Dieses Hirnschädels müssen Sie sich zu bemächtigen suchen. Das Ungeheuer knüpft daran gewisse abergläubische Ideen. Haben Sie einmal den Hirnschädel seines Sohnes in Ihrer Gewalt, so können Sie mit dem Räuber machen, was Sie wollen.«
»Ganz gut, aber wie in dessen Besitz gelangen?«
»Mit List, Herr! Während das Unthier schläft. Vielleicht . . .«
»Genug, Euer guter Rath kann mir nichts helfen. Ich überfalle keinen Feind im Schlaf. Ich weiß ihn nur mit meinem guten Schwerte zu bekämpfen.«
»Herr, es ist nicht bewiesen, daß der Erzengel Michael keine List gebraucht hatte, Satan zu bekämpfen und in den Abgrund zu stürzen . . .«
Hier hielt Spiagudry plötzlich inne, streckte beide Hände vor sich aus und rief mit fast erloschener Stimme: »Himmel! Himmel! Was sehe ich da? Seht, Herr, geht da nicht vor uns in dem nämlichen Fußwege ein kleiner Mann? . . .«
»Ich sehe nichts,« sagte Ordener aufblickend.
»Nichts, Herr? Allerdings, der Weg biegt sich, und er ist hinter jenem Felsen verschwunden. Lassen Sie uns nicht weiter gehen, ich beschwöre Sie darum, Herr!«
»Wenn dieser kleine Mann so schnell verschwunden ist, so ist das ein Beweis, daß er uns nicht erwarten will, und wenn er flieht, so ist das kein Grund für uns, auch zu fliehen.«
»So möge der Himmel über uns wachen,« seufzte Spiagudry.
»Ihr werdet den Schatten einer aufgeschreckten Nachteule für einen Menschen gehalten haben.«
»Ich glaubte gleichwohl einen kleinen Mann deutlich zu erblicken. Es ist freilich wahr, daß der Mondschein bisweilen seltsame Täuschungen hervorbringt. Beim Mondschein hielt Baldan, Herr zu Merneugh, den weißen Vorhang seines Bettes für den Schatten seiner Mutter, weshalb er am andern Morgen vor den Richtern zu Christiania sich als Muttermörder selbst angab, während die Richter eben im Begriffe waren, den unschuldig angeklagten Pagen der Verstorbenen zu verurtheilen. Es kann demnach mit Recht behauptet werden, daß der Mondschein diesem Pagen das Leben gerettet habe.«
Kein Mensch auf der Welt vergaß so leicht, als Spiagudry, die Gegenwart über der Vergangenheit. Eine Rückerinnerung seines immensen Gedächtnisses war hinreichend, alle Eindrücke des Augenblicks aus seiner Seele zu verbannen. Baldans Geschichte verscheuchte alsbald alle seine Besorgnisse, und er fügte seiner Erzählung ganz ruhig hinzu: »Es ist möglich, daß mich der Mondschein auf gleiche Weise getäuscht hat.«
Die Wanderer kamen an den Ruinen an. Von den fünf Thürmen, die ehedem Pharamunds, des Geächteten, Burg geziert und beschützt hatten, stand nur noch ein einziger in seiner ganzen Höhe aufrecht. Dieser Thurm stand am äußersten Rande des Felsen. Von seiner Zinne konnte man, wie Spiagudry versicherte, den Leuchtthurm von Munckholm erblicken. Sie nahmen ihre Richtung nach ihm hin, obgleich es in diesem Augenblick ganz dunkel geworden war, denn der Mond hatte sich hinter einem schwarzen Gewölke versteckt. Als sie über eine Mauer kletterten, faßte plötzlich Benignus mit zitternder Hand Ordeners Arm.
»Was gibt es?« fragte dieser verwundert.
Statt aller Antwort drückte der Alte seinen Arm noch heftiger, als ob er ihm Stillschweigen auflegen wollte.
»Nun denn?«
Ein neues Drücken erfolgte, begleitet von einem tiefen Seufzer. Ordener entschloß sich, geduldig zu warten, bis der erste Schrecken vorüber sein würde.
Endlich sagte Spiagudry mit zurückgehaltenem Athem: »Nun, Herr, was sagen Sie dazu?«
»Wozu?«
»Nicht wahr, Sie bereuen es jetzt selbst, daß wir da heraufgestiegen sind?«
»Nein, wahrlich nicht, und ich will noch höher steigen. Warum soll ich es denn bereuen?«
»Wie, Herr, Sie haben also nicht gesehen? . . .«
»Gesehen! Was?«
»Sie haben nicht gesehen?«
»In der That nichts, gar nichts! Ich habe bloß Euer Zähneklappern gehört.«
»Wie! Hinter dieser Mauer da, in der Dunkelheit . . . diese zwei feurige Augen, wie Kometen leuchtend . . . flammend auf uns gerichtet!. . . Die haben Sie nicht gesehen?«
»Gewiß nicht!«
»Sie haben sie nicht gesehen, wie sie auf- und niederblitzten, hin- und herleuchten und zuletzt in den Ruinen verschwanden!«
»Ich weiß nicht, was Ihr damit wollt. Was liegt auch daran?«
»Was daran liegt? Wissen Sie nicht, daß es in Norwegen nur einen einzigen Menschen gibt, dessen Augen so in der Dunkelheit leuchten?«
»Und wer ist denn dieser Mensch mit den Katzenaugen? Etwa Han der Isländer? Desto besser, wenn er hier ist! Das erspart uns die Reise nach Walderhog.«
»Ah! Herr, Sie haben mir versprochen, mich im Dorfe Surb, eine Meile vom Kampfplatz, zurückzulassen . . .«
»Ihr habt Recht, es wäre unbillig, Euch in meine Gefahren zu verwickeln. Fürchtet also nichts. Dieser Han schwebt Euch überall vor Augen. Kann nicht in diesen Ruinen irgend eine wilde Katze sein, deren Augen ebenso leuchten, wie die jenes Menschen?«
Diese Erklärung beruhigte Spiagudry.
»Ach, Herr!« sagte er tiefathmend, »ohne Sie wäre ich schon zehnmal vor Furcht gestorben, seit wir diesen Felsen erklimmen. Freilich hätte ich ohne Sie niemals diesen Versuch gewagt.«
Das Licht des wieder erscheinenden Mondes zeigte ihnen den Eingang in den Thurm, an dessen Fuße sie jetzt angelangt waren. Ordener sammelte Reisig und dürre Kräuter, womit sie ein Feuer anzündeten. So wie die Flamme aufschlug, erhob sich ein ganzer Schwarm Eulen und Fledermäuse aus dem alten Gemäuer.
»Da sind wir keine willkommene Gäste,« sagte Ordener scherzend, »fürchtet Euch nur nicht wieder, alter Herr!«
Spiagudry setzte sich gemüthlich an das Feuer und erwiederte: »Ich, Eulen und Fledermäuse fürchten! Ich habe unter Leichen gelebt, ohne einen Vampyr zu fürchten. Ich fürchte Niemand, als die Lebenden! Tapfer bin ich zwar nicht, doch auch nicht abergläubisch. Nunmehr aber wollen wir an unser Nachtessen denken. Ich habe hier etwas schwarzes Brod und Käse. Das wird bald aufgezehrt sein, wenn Sie eben so großen Hunger haben, als ich. Ich sehe, daß wir noch lange nicht die Grenzen jenes Gesetzes Philipps des Schönen von Frankreich zu überschreiten im Begriffe sind: Nemo audeat comedere praeter duo fercula cum potagio. Auf diesem Thurme müssen sich ohne Zweifel Nester von Möven oder Fasanen befinden! aber wie soll man auf einer schwankenden, zerfallenen Treppe, welche höchstens Sylphen zu tragen im Stande wäre, auf dessen Spitze gelangen?«
»Gleichwohl muß diese Treppe mich tragen, denn ich will auf die Zinne dieses Thurmes steigen.«
»Wie, Herr! Wegen dieser Mövennester? Begehen Sie solche Unklugheit nicht. Man muß sein Leben nicht um ein gutes Nachtessen wagen. Im Uebrigen könnten Sie sich auch irren und statt der Mövennester Eulennester bekommen.«
»Was liegt mir an Euren Nestern! Habt Ihr mir nicht gesagt, daß man von der Spitze dieses Thurms den Leuchtturm von Munckholm erblickt?«
»Allerdings, edler Herr, gegen Süden! Ich sehe nun wohl, daß Ihr Wunsch, diesen wichtigen Punkt für die Wissenschaft der Geographie zu fixiren, der Beweggrund dieser ermüdenden Reise nach Pharamunds, des Geächteten, Burg gewesen ist, allein geruhen Sie zu erwägen, gnädiger Herr, daß zwar die Pflicht eines eifrigen Gelehrten bisweilen erfordern mag, der Ermüdung zu trotzen, niemals aber der Gefahr, weßhalb ich mit Grund die Bitte an Sie stelle, Ihr Leben auf dieser verfallenen Treppe, deren Stufen kaum einen Raben tragen würden, nicht unbesonnenerweise zu wagen.«
Benignus fürchtete sich, allein unten am Thurme zu bleiben; er erhob sich, um Ordener zurückzuhalten, aber zum Unglück fiel sein Schnappsack, der auf seinen Knieen lag, auf die Steine und gab einen hellen Ton von sich.
»Was klingt denn so in diesem Schnappsack?« fragte Ordener.
Diese Frage, die einen so kitzlichen Punkt betraf, benahm dem alten Herrn die Lust, seinen Reisegefährten länger zurückzuhalten. Statt daher auf die Frage zu antworten, sagte er bloß: »Nun denn, in Gottes Namen! Wenn Sie trotz meiner Bitten auf Ihrem Vorhaben bestehen, diesen Thurm zu besteigen, so vermeiden Sie wenigstens die Stellen des Gemäuers, welche verfallen sind und keinen festen Anhaltspunkt darbieten.«
»Aber,« fuhr Ordener fort, »was ist denn in Eurem Schnappsack, daß er einen so metallischen Klang von sich gibt?«
»Edler Herr,« antwortete Spiagudry, »wie können Sie sich um ein altes, garstiges eisernes Rasirbecken kümmern, das auf einem Kieselstein aufschlägt? Weil ich Sie denn nicht zurückhalten kann, so kommen Sie wenigstens bald wieder herab. Der Leuchtthurm von Munckholm liegt südlich zwischen den beiden Schemeln der Frigga.«
Ordener, von der Erinnerung an Munckholm ergriffen, eilte in den Thurm. Spiagudry hob seinen Schnappsack auf und setzte sich gemächlich ans Feuer.
»Mein lieber Benignus Spiagudry,« sprach er für sich, »während Du allein bist und vor den Augen dieses jungen Luchses verborgen, öffne geschwind diese Büchse, um oculis et manu von dem Schatze Besitz zu nehmen, welchen sie ohne Zweifel verschließt. Wenn derselbige aus diesem Gefängniß erlöst ist, so wird er weniger schwer zu tragen und leichter zu verstecken sein.«
Mit diesen Worten faßte er einen großen Stein, um das Schloß abzuschlagen, als ein Strahl der Flamme, der auf das Wappen fiel, ihn plötzlich lähmte.
»Bei Sankt Willebrod dem Numismatiker,« rief er aus, »ich irre mich nicht, das ist das Wappen von Greiffenfeld. Ich war im Begriff eine große Thorheit zu begehen, indem ich solches zerschlagen wollte. Dies ist vielleicht noch das einzige Modell, das von diesem berühmten Wappen übrig blieb, welches im Jahr 1676 durch die Hand des Henkers zertrümmert worden ist. Behüte mich Gott, daß ich meine Hand daran legen sollte! Was auch der Werth der Gegenstände sein mag, die in dieser Büchse verborgen sind, es wären denn, gegen alle Wahrscheinlichkeit, Münzen aus Palmyra oder Carthago, so ist doch dieses Wappen ein noch kostbarerer Schatz. Ich bin nunmehr derjenige, welcher allein noch das abgeschaffte Wappen von Greiffenfeld besitzt. Laßt uns diesen Schatz sorgfältig verbergen! Vielleicht werde ich irgend ein Mittel finden, die Büchse zu öffnen, ohne daß ich einen Vandalismus begehe. Das Wappen von Greiffenfeld! Welches Glück! Mit einem auflösenden Mittel werde ich das Schloß öffnen, ohne das Wappen zu verletzen. Diese Büchse enthält ohne Zweifel die Schätze des Exkanzlers. Wenn nun Jemand durch den Preis der vier Thaler gelockt, die auf meinen Kopf gesetzt sind, mich erkennen und anhalten sollte, so wird es mir nicht schwer werden, mich loszukaufen. Mithin wird diese glückselige Büchse mich gerettet haben . . .«
Während er so sprach, blickte er mechanisch in die Höhe, und plötzlich erstarrte sein Gesicht vor Schrecken. Alle seine Glieder zitterten krampfhaft. Seine Augen starrten, sein Mund bebte, die Stimme blieb ihm in der Kehle stecken.
Ihm gegenüber, auf der andern Seite des Feuers, stand ein kleiner Mann mit gekreuzten Armen. An seiner Kleidung von noch blutigen Fellen, an seiner steinernen Axt, an seinem rothen Bart und den flammenden starr auf ihn gehefteten Augen hatte der unglückliche Spiagudry alsbald Han den Isländer erkannt.
»Ich bin es« sagte der kleine Mann mit einem furchtbaren Ausdruck. »Also diese glückselige Büchse wird Dich gerettet haben,« fügte er mit einem furchtbar höhnischen Lächeln hinzu. »Spiagudry! Ist das der Weg nach Thoctree?«
Der Unglückliche versuchte einige Worte zu stammeln: »Thoctree! . . . Gnädiger Herr! . . . . . Mein Herr und Meister! . . . Ich war eben auf dem Wege . . .«
»Nach Walderhog,« ergänzte Han mit donnernder Stimme.
Spiagudry raffte alle seine Kräfte zusammen, um mit dem Kopf ein verneinendes Zeichen zu machen.
»Du führtest mir einen Feind zu. Habe Dank! Das ist ein Lebender weniger. Fürchte nichts, getreuer Wegweiser, er wird Dir nachfolgen.«
Der Unglückliche wollte ein Geschrei ausstoßen und brachte kaum einen unbestimmten Laut hervor.
»Warum erschreckt Dich meine Gegenwart? Du suchtest mich ja. Keinen Laut, sonst bist Du ein Kind des Todes!«
Der Isländer schwang seine steinerne Axt über Spiagudry's Haupt. Dann fuhr er mit einer Stimme fort, die, wie ein Waldstrom aus einer Höhle, aus der Tiefe der Brust drang: »Du hast mich verrathen!«
»Nein, Ihr Gnaden! . . . Nein, Excellenz! . . .« stöhnte Benignus.
Der Wilde gab ein dumpfes Brüllen von sich.
»Glaubst Du mich noch einmal täuschen zu können? Hoffe das nicht! Höre, ich war auf dem Dache des Spladgest, als Du Deinen Vertrag mit diesem jungen Thoren geschlossen hast; damals hast Du zweimal meine Stimme gehört. Meine Stimme hörtest Du während des Sturms auf dem Wege; ich war es, den Du im Thurme von Vygla als Eremit gesehen hast. Ich sagte Dir damals: Auf Wiedersehen!«
Der Unglückliche in seinem Entsetzen warf einen verwirrten Blick um sich her, als ob er um Hülfe rufen wollte.
Der Wilde fuhr fort: »Ich wollte diese Soldaten, welche Dich verfolgten, nicht entwischen lassen. Sie waren von dem Regiment von Munckholm. Du warst mir immer gewiß. – Spiagudry, ich war es, den Du im Weiler Oelmö unter dem Filzhut des Bergmanns wiedersahst; ich war es, dessen Schritte und Stimme Du hinter Dir hörtest, dessen Augen Du in diesen Ruinen in der Dunkelheit leuchten sahst. Ich bin jetzt da!«
Spiagudry krümmte sich zu den Füßen des furchtbaren Wesens und konnte nur mühsam das einzige Wort: »Gnade!« hervorbringen.
Immer noch stand Jener mit verschränkten Armen und heftete einen Blick der Blutgier auf ihn.
»Erflehe Dein Leben von dieser Büchse, von der Du es erwartet hast!«
»Gnade! . . . Herr! . . . Gnade! . . .« stammelte der schon sterbende Mann.
»Warst Du treu und stumm? Du wirst für immer stumm werden!«
Der Gemarterte stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Fürchte nichts, Du sollst vereint bleiben mit Deinen Schätzen!«
Der Barbar nahm seinen ledernen Gürtel ab, zog ihn durch den Ring der eisernen Büchse und schlang ihn so um Spiagudry's Hals.
»Nun, sprich, welchem Teufel willst Du Deine Seele verschreiben? Rufe ihn flugs an, damit nicht ein anderer Dämon ihm zuvorkomme, den Du nicht gerufen hast!«
Der alte Mann, in stummer Verzweiflung, sank zu den Füßen des Ungeheuers nieder, mit krampfhaft wiederholten Zeichen des Schreckens und Flehens.
»Nein! Nein! Du getreuer Wegweiser, sei ruhig, Dein Reisegefährte wird ohne Dich den Weg finden. Ich will ihn ihm zeigen, er wird Dir bald nachfolgen. Komm und zeige ihm den Weg!«
Mit diesen Worten nahm er ihn in seine Eisenarme und trug ihn fort, wie ein Wolf ein wehrloses Lamm. Bald darauf hörte man in den Ruinen einen durchdringenden Angstschrei und ein gräßliches Lachen.
Inzwischen hatte Ordener von der Höhe des Thurms den Leuchtthurm von Munckholm erblickt. »Dort ist sie,« sagte er, »sie denkt an mich, sie träumt vielleicht von mir!«
Jetzt hörte er den durchdringenden Angstschrei und das gräßliche Lachen. Besorgt um seinen Reisegefährten, stieg er schnell hinab. Kaum war er einige Stufen der Treppe hinabgekommen, so hörte er ein dumpfes Geräusch, wie das eines schweren Körpers, der in tiefes Wasser fällt.