Victor Hugo
Han der Isländer. Band 1
Victor Hugo

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XV.

In der Kanzlei des Gouverneurs von Drontheim saßen drei Sekretäre an einer langen Tafel, auf welcher viele Papiere lagen.

»Wissen Sie auch, Wapherney,« sagte einer derselben, »daß dieser arme Bibliothekar Fortipp von dem Bischof entlassen werden wird, Dank dem Empfehlungsschreiben, durch welches Sie das Gesuch des Doktors Anglyvius unterstützt haben?«

»Was spielen Sie uns da auf, Richard?« sagte der andere der beiden Sekretäre, an welchen die Frage nicht gerichtet war. »Wapherney konnte kein Empfehlungsschreiben zu Gunsten des Anglyvius ausfertigen, denn die Bittschrift dieses Menschen hat den General empört, als ich sie ihm vorlas.«

»Das haben Sie mir allerdings gesagt, allein ich fand auf der Bittschrift das Wort tribuatur, von des Gouverneurs eigener Hand geschrieben,« erwiederte Wapherney.

»Wirklich!« rief der erste verwundert aus.

»Ja, mein Freund! Und mehrere andere Beschlüsse Sr. Excellenz, von welchen Sie mir sagten, sind in den Randglossen ebenfalls geändert. So hat der General unter die Bittschrift der Bergleute geschrieben negetur . . .«

»Wie! Das ist mir unbegreiflich, da der General doch wegen des aufrührerischen Geistes dieser Bergleute in Besorgniß war.«

»Er wollte sie vielleicht durch Strenge schrecken. Ich glaubte dies darum, weil auf die Bittschrift des Almoseniers Munder in Betreff der Begnadigung der zwölf Verurtheilten gleichfalls abschlägige Antwort gegeben ist.«

»Das kann ich nicht glauben. Der Gouverneur hat ja so viel Mitleid für diese Verurtheilten an den Tag gelegt . . .«

»So lesen Sie selbst, Arthur!«

Arthur nahm die Bittschrift und sah darunter die abschlägige Antwort.

»In der That,« sagte er, »ich kann kaum meinen eigenen Augen glauben. Ich will dieses Papier dem General noch einmal vorlegen. An welchem Tage hat denn der Gouverneur die Beschlüsse auf diese Eingabe beigesetzt?«

»Vor drei Tagen, meine ich.«

»Das war also an dem Morgen, an welchem Baron Ordener so kurz erschien und so schnell wieder verschwand.«

»Sehen Sie einmal,« rief Wapherney aus, »steht nicht abermals ein tribuatur auf der nämlichen Bittschrift dieses Benignus Spiagudry?«

Richard wollte sich vor Lachen ausschütten.

»Ist das nicht dieser alte Aufseher im Spladgest, der erst auf eine so seltsame Weise verschwunden ist?«

»So ist es, man hat in seinem Todtenzimmer einen verstümmelten Leichnam gefunden, und jetzt läßt ihn die Justiz verfolgen. Ein kleiner Lappe, sein Diener, der allein im Spladgest zurückgeblieben, ist, so wie das Publikum, der Meinung, daß ihn der Teufel geholt habe, weil er ein Hexenmeister sei.«

»Der hinterläßt eine gute Reputation!« sagte Wapherney lachend.

In diesem Augenblicke trat ein vierter Sekretär ein.

»Sie kommen heute sehr spät, Gustav,« rief ihm Wapherney zu, »haben Sie etwa gestern Hochzeit gehalten?«

»Nicht doch,« fiel Arthur ein, »er wird einen Umweg gemacht haben, um vor dem Fenster der schönen Rosily seinen neuen Mantel zu zeigen.«

»Sie irren sich, die Ursache meines Ausbleibens ist nicht so angenehm, und ich zweifle, daß mein neuer Mantel einigen Eindruck auf die Person gemacht hat, welche ich eben besuchte.«

»Woher kommen Sie denn?«

»Vom Spladgest.«

»Was haben Sie denn dort so Besonderes gesehen?«

»Ich wurde durch die Menge, die sich um den Spladgest drängte, mit fortgerissen. Man hat die Leichname von drei Soldaten der Besatzung von Munckholm und von zwei Häschern hingebracht, welche man gestern, vier Stunden von hier, in der Schlucht von Cascadthymore gefunden hat. Sie waren ausgeschickt worden, den flüchtigen Spiagudry zu verfolgen. Es ist unbegreiflich, wie so viele bewaffnete Menschen ermordet werden konnten. Die Verstümmlung ihrer Körper beweist, daß sie vom Felsen herabgestürzt worden sind.«

»Sie haben die Leichname selbst gesehen?«

»Ich habe sie im Geiste noch vor Augen.«

»Und wen hält man für die Thäter?«

»Einige schreiben den Mord einer Bande von Bergleuten zu; sie versichern, daß man gestern im Gebirge den Hörnerschall vernommen habe, wodurch sie sich das Zeichen zu geben pflegen.«

»Wirklich!«

»Ein alter Bauer hat dagegen die Bemerkung gemacht, daß auf dieser Seite weder Minen noch Bergleute seien.«

»Und wer sollte es sonst sein?«

»Man weiß es nicht. Wenn die Körper angefressen wären, so könnte man glauben, daß es wilde Thiere seien, denn sie haben lange und tiefe Ritze an sich, wie von Thierkrallen. Auf die nämliche Weise ist der Leichnam eines Greises mit weißem Barte entstellt, den man vorgestern Morgens in den Spladgest gebracht hat.«

»Wer ist dieser Greis?«

»An seiner hohen Gestalt, seinem weißen Bart und dem Rosenkranz, den er noch in der Hand hatte, wollte man in ihm den Einsiedler von Lynraß erkennen. Augenscheinlich ist der arme Mann auch ermordet worden. Allein zu welchem Zwecke? Aus religiöser Unduldsamkeit geschieht jetzt kein Mord mehr, und der alte Eremit besaß auf der Welt nichts, als seine Kutte und das öffentliche Wohlwollen, das ihm Brod gab.«

»Und dieser Leichnam ist auch wie von den Krallen eines wilden Thieres zerrissen?«

»Und die nämlichen Spuren von Thierkrallen hat man an dem Leichnam eines Offiziers gefunden, der vor einigen Tagen in den Spladgest gebracht worden ist.«

»Das ist höchst sonderbar,« sagte Arthur.

»Entsetzlich ist es,« fügte Richard hinzu.

»Stille jetzt und Arbeit, denn ich glaube, der General ist im Anmarsch!« fiel Wapherney ein.


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