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Seit zwei Wochen wohnte André Lhéry wieder in Pera und hatte schon einmal in Stambul in dem alten Hause der Sackgasse seine drei Freundinnen sehen können, die ihm eine niedliche kleine Unbekannte vorgestellt hatten, deren Persönlichkeit durch so dichte schwarze Schleier verdeckt wurde, daß dadurch fast ihre Stimme erlosch.
Am folgenden Tage erhielt er diesen Brief:
»Ich bin die kleine Gespensterdame von gestern, Herr Lhéry. Es war mir nicht vergönnt, mit Ihnen zu plaudern, aber für das Buch, das Sie uns allen versprochen haben, werde ich mit Ihrer Erlaubnis Ihnen das Tagewerk einer türkischen Frau im Winter erzählen. – Also ich beginne: Spät aufstehen, sogar sehr spät. – Langsam Toilette machen, mit Gleichgültigkeit. – Immer das sehr lange, zu dichte und zu schwere Haar ordnen. – Sodann sich hübsch finden in dem silbernen Spiegel; sich jung, sich liebenswürdig finden und sich darüber betrüben. – Sodann schweigend und musternd die Salons durchschreiten, um festzustellen, daß alles in Ordnung ist.
Danach die Besichtigung der verschiedenen, uns persönlich liebwerten Gegenstände, Andenken, Porträts usw., deren Pflege von großer Wichtigkeit ist. –
Nun das Dejeuner, oft allein, in einem großen Saal, umgeben von Negerinnen oder zirkassischen Sklavinnen; Frost in den Fingern beim Berühren des auf dem Tisch ausgebreiteten Silbergeschirres; besonders auch Frost in der Seele; ... Unterhaltung mit den Sklavinnen, ihnen Fragen stellen, nach deren Beantwortung man nicht hinhört.
Und was nun tun bis zum Abend?
Die Harems der Vorzeit mit mehreren Frauen müssen weniger traurig gewesen sein: man leistete sich untereinander Gesellschaft. – Was also tun? Aquarelle malen? (Wir sind nämlich alle ausgezeichnete Aquarellistinnen, Herr Lhéry; was wir schon alles bemalt haben an Fächern, Wandschirmen, Albums usw., das ist unerhört!) Oder auf dem Piano spielen oder auf der Laute? ... Oder lesen? Paul Bourget oder André Lhéry? Oder sticken? Eine unserer langen Goldstickereien wieder aufnehmen und sich dabei ganz allein dafür interessieren, wie geschickt unsere feinen, weißen, mit funkelnden Ringen beladenen Hände zu sticken verstehen?
Man wünschte irgend etwas Neues, aber man erwartet es hoffnungslos! Irgend etwas Unvorhergesehenes, das glänzte, das vibrierte, das Lärm machte ... aber es kommt niemals!
Man möchte spazieren gehen trotz des Schmutzes und des Schnees ..., denn man ist seit zwei Monaten nicht ausgewesen. Aber allein zu gehen ist untersagt. Weiß man denn keinen Geschäftsweg als Entschuldigung anzugeben? Nichts!
Es fehlt einem an Raum, an Luft! ... Selbst wenn man einen Garten hat, kann man darin doch nicht atmen, weil die Umfassungsmauern zu hoch sind
Es klingelt!! ... O, welche Freude, wenn das eine Katastrophe wäre ... oder auch nur ein Besuch!
Ja, es ist ein Besuch, denn man hört die Sklavinnen auf den Treppen laufen. – Man setzt sich; schnell ein Spiegel, um die Haare hastig zu ordnen.
Wer kann das sein? ... Ach! Eine junge, reizende Frau, erst seit kurzem verheiratet.
Sie tritt ein. Gegenseitige freudige Erregung ... beide Hände entgegengestreckt, Küsse der roten Lippen auf die weißen Wangen.
›Komme ich auch nicht zu ungelegener Zeit? ... Was taten Sie eben, meine Teure?‹
›Ich langweilte mich!‹
›Gut! Ich komme, Sie abzuholen zu einer gemeinschaftlichen Spazierfahrt, gleichviel wohin!‹
Bald darauf entführt sie beide ein geschlossener Wagen, Auf dem Bock, neben dem Kutscher, ein Neger: ›Dilaver‹, der unvermeidliche Dilaver, ohne den man nicht das Recht hat, das Haus zu verlassen ... und der hernach Bericht erstattet über die Vergeudung der Zeit.
Und die beiden Promenierenden plaudern:
›Nun, lieben Sie Ali Bei?‹
›Ja!‹ antwortet die Neuvermählte, ›aber nur, weil ich durchaus einen lieben muß; ich dürste nach Liebe! Das Jetzige ist nur vorläufig. Wenn ich späterhin Besseres finde ...‹
›Nun, ich liebe den Meinigen nicht... nicht im geringsten! Mit Gewalt lieben? Nein! Ich gehöre nicht zu denen, die sich beugen! ...‹
Ihr Wagen rollt schnell dahin unter dem scharfen Trab der beiden prächtigen Pferde. Aussteigen dürfen die beiden Insassen nicht; das wäre gegen den Anstand. Bei der Pforte des Basars sehen sie Leute aus dem Volk sich geröstete Maronen kaufen.
›Ich bin hungrig!‹ sagt die eine: ›Haben wir Geld?‹
›Nein!‹
›Dilaver hat Geld.‹
›Dilaver, kauf uns Maronen.‹
Wo hinein soll man sie legen?
Die Damen reichen ihre Spitzentaschentücher hin, die stark parfümiert sind. Die Maronen werden also dort hineingelegt und nehmen nun den Geruch von Heliotrop an. Und das ist das große Ereignis des Tages, dieses sonderbare Zwischenfrühstück, das sie mit großem Vergnügen einnehmen wie die Frauen aus dem Volke, aber unter dem Schleier und in einem geschlossenen Wagen.
Nach der Rückkunft von der Fahrt trennen sie sich voneinander, umarmen sich nochmals und wechseln die üblichen Redensarten der türkischen Frauen unter sich aus:
›Wohlan! Keine Grillen, kein Bedauern, sondern Wiedervergeltung!‹
Beide müssen dabei aber selbst lachen, so bekannt und verbraucht sind diese Ratschläge bereits.
Die Besucherin ist abgefahren, und die andere geht in ihr Haus zurück. Es ist Abend, und die Räume des Hauses sind schon beleuchtet.
... Ihre kleine Gespensterdame von gestern, Herr Lhéry, befindet sich wieder allein.
Aber nun kommt auch der Bei nach Hause, der Gebieter, der sich durch das Rasseln seines Säbels auf der Treppe ankündigt. Die arme, kleine Dame des Hauses empfindet noch größere Kälte in ihrer Seele. Aus Gewohnheit sieht sie sich im Spiegel an; ihr Bild scheint ihr wirklich recht hübsch, und sie denkt bei sich:
›Alle diese Schönheit für ihn? ... Wie schade!‹
Er, der Gebieter, rücksichtslos ausgestreckt auf einem Haufen von Kissen, beginnt ohne weiteres eine Geschichte zu erzählen, die mit den Worten beginnt: ›Wissen Sie, meine Teure, was sich heute im Palais ereignet hat?‹
Ja, das Palais, die Kameraden, die neuen Waffen, die Gewehre ... das ist alles, was ihn interessiert, sonst nichts, niemals!
Sie hört gar nicht hin, sie ist nahe daran, zu weinen; worauf er sie ›irrsinnig‹ nennt.
Da erbittet sie die Erlaubnis, sich in ihr Schlafzimmer zurückziehen zu dürfen ... und bald weint sie schluchzend, den Kopf in ihr seidenes Kopfkissen vergraben; ... während zu derselben Stunde die Europäerinnen in Pera zum Ball oder ins Theater gehen; sie sind schön und geliebt und wandeln unter Strömen von Licht! ...
XXX.«