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Gegen vier Uhr morgens, als Djenane am Bett ihrer armen kleinen Cousine wachte, hatte die Beterin, die eben an der Reihe war, ihre Stimme mehr erhoben und fing an, mit Erregung zu lesen, als ob sie das Gefühl habe, daß etwas Erhabenes vorgehe.
Und Djenane, die immer eine der kleinen fast durchsichtigen Hände Méleks in den ihrigen hielt, ohne zu bemerken, daß die Hand schon kalt wurde, sprang vor Schreck in die Höhe, als man sie auf die Schulter schlug: zwei kleine Benachrichtigungsschläge, mit unheimlicher Gemessenheit erteilt. Hu! Welch widerwärtige Erscheinung, die lautlos durch die stets offene Tür eingetreten war! Ein großes, altes Weib, mit breiten, aber abgemagerten Schultern und erdfarbener Haut. Sie sagte kein Wort, sondern machte Djenane nur ein befehlendes Zeichen, das bedeuten sollte: »Entferne Dich!«
Sie mußte lange draußen auf dem Gang gewartet haben, und war endlich, ihrem geschäftsmäßigen Gefühl folgend, sicher, daß ihre Stunde gekommen sei, – eingetreten, um ihre Rolle zu beginnen; und schon streckte sie die Arme nach ihrem Opfer aus ...
»Nein! Nein!« sagte Djenane, sich schützend über die Tote werfend. »Ich will nicht, daß Sie sie fortschaffen!«
»Ho, ho! ... gemach!« sagte das Weib, indem sie Djenane beiseite schob; »ich werde ihr nicht wehe tun!«
Uebrigens lag in der Häßlichkeit des Weibes keine Bosheit, eher ein trübsinniges Mitleid, und außerdem bekundete sich in ihrem Wesen eine große Abspannung. Wieviel hübsche, schöne Blüten, die in den Harems der Sichel des Todes zum Opfer fielen, hatten die kräftigen Arme dieses Weibes, der »Totenwäscherin«, wie man sie nannte, schon fortgeschafft!?
Sie nahm die Tote in ihren Arm wie ein krankes Kind, und das schöne rötliche, aufgelöste Haar fiel über die knochigen Schultern der Alten. Zwei ihrer Gehilfinnen von noch viel widerlicherem Aussehen erwarteten sie im Vorzimmer mit Lichtern. Djenane und die Beterin folgten ihnen durch die Korridore und die Vorräume zur Treppe, über die der schaurige Zug zum Erdgeschoß hinabging. Dort angelangt, trugen die Weiber ihre Last nach einem großen, mit Marmor gepflasterten Saal, in dessen Mitte sich ein Tisch aus weißem Holz befand, ferner ein Bottich mit heißem Wasser und ein Bettuch, das über einen Dreifuß gebreitet war. In einem Winkel stand ein Sarg; und ein altmodischer Schal, der um einen Stock gerollt war, lag auf dem Fußboden: einer der »Valide« genannten Schals, die von den Reichen als Leichentuch verwendet werden.
Dies alles war schon seit einigen Tagen vorbereitet gewesen, denn in den Ländern des Islams muß ein Begräbnis sehr rasch vor sich gehen.
Die kleine Mélek Sadiha-Saadek starb im Alter von zwanzig und einem halben Jahr an den Folgen des Entsetzens vor der Drohung, nochmals einem ihr aufgedrungenen Manne in die Arme geworfen zu werden!! ...
Als die Weiber die Leiche auf den Tisch gelegt hatten, hing das schöne aufgelöste Haar bis auf den Fußboden herab. –
Vor Beginn ihrer traurigen Arbeit forderte die Leichenwäscherin durch ein Zeichen Djenane und die Beterin auf, sich zurückzuziehen. Diese waren ohnedies schon im Begriff, hinauszugehen, um draußen zu warten. Zu ihnen gesellte sich alsbald Zeyneb, die, durch eine Ahnung von dem Lebensende ihrer geliebten Schwester getrieben, aus ihrem Schlafzimmer herabeilte. Zeyneb weinte nicht, aber ihr Gesicht war noch bleicher als sonst, und ihre Augen umgaben tiefe blaue Ringe. Alle drei blieben schweigend und fröstelnd an derselben Stelle stehen, im Geist alles an sich vorübergehen lassend, was da drinnen geschah. Als endlich alles beendet war, erschien das große alte Weib in der Tür und sagte zu den Wartenden:
»Kommt und seht sie Euch an!«
Das arme tote Kind lag in seinem schmalen Sarge, ganz weiß verhüllt, mit Ausnahme des Gesichtes, das für die Abschiedsküsse der Verwandten unbedeckt geblieben war. Man hatte die Augenlider und den Mund nicht gänzlich schließen können, aber sie war ja so jung, und ihre Zähne waren so weiß, daß ihr Gesicht unsäglich schön blieb, mit einem wahrhaft kindlichen Ausdruck und einer Art schmerzlichen Lächelns.
Jetzt wurden alle geweckt, um die Tote noch einmal zu küssen: der Vater, die Mutter, die Großmütter, die sonst so gefühlsfesten alten Onkels, die Dienerinnen und die Sklavinnen. Das große Haus füllte sich mit flackernden Lichtern und hallte wider von eiligen Schritten, Klagen, Seufzen und Schluchzen.
Als eine der beiden Großmütter eintrat, die strengste von beiden, die auch Djenanes Großmutter war, die unerschütterliche Muselmanin von 1320, die noch am vorigen Tage so erregt gegen die neue Richtung geeifert, die ihr zwei Enkelinnen raubte, – als diese Unversöhnliche eintrat, lag gerade Mademoiselle Tardieu, die schüchterne Erzieherin Méleks, neben deren Sarg auf den Knien; und diese beiden Frauen blickten einander während einer Sekunde schweigend an: die eine fürchterlich, die andere demütig.
»Gehen Sie hinaus!« sagte die Großmutter haßsprühend in türkischer Sprache zu der Erzieherin. »Was bleibt Ihnen denn hier noch zu tun? ... Ihr Werk ist beendet! ... Hören Sie mich nicht? ... Gehen Sie hinaus, sage ich Ihnen!«
Aber die arme Demoiselle, die einige Schritte vor der Zornigen zurücktrat, sah diese mit so viel Sanftmut und Schmerz in den tränenden Augen an, daß die alte Dame plötzlich Mitleid für sie empfand. Vielleicht wurde ihr endlich klar, was sie seit vielen Jahren nicht einsehen wollte, daß die Erzieherin bei alledem nichts anderes sei als ein unverantwortliches Werkzeug im Dienste der Zeit! ... Sie reichte ihr die Hand und rief: »Verzeihung!« ... Und diese beiden bisher so feindlichen Frauen lagen sich am Sarge der ihnen beiden so lieb Gewesenen weinend in den Armen.
Ein durch die Fensterscheiben fallender bleicher Lichtschimmer verkündete das Ende dieser trostlosen Novembernacht, und eingedenk des Versprechens, das sie André gegeben hatte, ging Djenane nach ihrem Zimmer, nahm ein blaues Bändchen und befestigte dies an Stelle des weißen am Fenstergitter.