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Am 2. November wendete sich Zeyneb, die gerade die Wache am Sterbebette ihrer armen Schwester hatte, plötzlich erschrocken um, weil aus dem Hintergrunde des halbdunklen Zimmers inmitten der fortwährend herrschenden tiefen Stille sich eine sanfte, frische Stimme erhob, die Gebete hersagte. Zeyneb hatte die Beterin, ein junges Mädchen mit herabgelassenem Schleier, nicht kommen hören. Weshalb stand sie dort, ihren Koran in der Hand haltend? ... Doch ja, sie besann sich zugleich: das Gebet der Toten! ...
Es ist Gebrauch in der Türkei, daß, wenn in einem Hause jemand im Todeskampf liegt, die jungen Mädchen oder Frauen des Stadtteils eine um die andere kommen, um Gebete zu lesen; sie treten ein wie von Rechts wegen, ohne sich zu nennen, ohne ihren Schleier zu erheben: namenlos, verhängnisvoll! Und ihre Gegenwart ist das Zeichen des nahen Todes! ...
Auch Mélek hatte das verstanden, und ihre seit längerer Zeit geschlossen gewesenen Augen öffneten sich; sie war bei der geheimnisvollen scheinbaren Besserung angelangt, die sich bei den Sterbenden fast immer einstellt. Sie fand sogar einen Teil ihrer Stimme wieder, die man schon für immer erloschen geglaubt hatte.
»Kommen Sie näher!« sagte sie zu der Unbekannten. »Ich höre Sie hier nicht gut. Glauben Sie nicht, daß ich Furcht habe. Kommen Sie ... und lesen Sie lauter ..., damit ich nichts verliere ...«
Sodann wollte sie selbst das muselmanische Glaubensbekenntnis sprechen; und indem sie ihre kleinen Hände in der Gebetsform öffnete, sprach sie die satzungsmäßigen Worte nach:
»Es gibt keinen Gott, als Gott allein,
und Mohammed ist sein Erwählter!«
Aber vor dem Ende ihres Bekenntnisses, das so leise klang wie ein Hauch, waren ihre armen Hände, die sie vor sich hingestreckt hatte, auf die Bettdecke niedergefallen. Und da öffnete die jugendliche Verschleierte ihren Koran, um in dem Vorlesen der Gebete fortzufahren.
Bis zur vorgerückten Stunde der Nacht folgten einander die frommen Beterinnen; ohne jedes Geräusch, wie Schatten traten sie ein und entfernten sich ebenso, anderen Platz machend, ohne daß die Totengebete auch nur einen Augenblick unterbrochen wurden.
Auch andere Personen traten, auf den Zehenspitzen gehend, herein und beugten sich, ohne ein Wort zu sprechen, über das Bett des Todesschlafes: zuerst die Mutter, eine gutmütige, aber einflußlose Frau. Sodann die beiden Großmütter; sie hatten sich noch nicht in ihrem verzweiflungsgleichen Schmerz gefaßt, und da sie dies nicht zeigen wollten, so erschienen sie fast hartherzig. Es folgte der Vater, Mahmed-Bei, das Gesicht verstört vor Schmerz und vielleicht auch vor Gewissensbissen. Er liebte im Grunde seine Tochter, aber durch seine unbeugsame Befolgung der alten Gebräuche hatte er den Tod seines Kindes mitverschuldet.
Dann trat auch noch zitternd die arme Demoiselle Tardieu herein, Méleks ehemalige Lehrerin und Erzieherin, die man in den letzten Tagen herbeigerufen, weil Mélek es verlangt hatte.
Die Augen der mit dem Tode Ringenden hatten sich wieder geschlossen, und außer einem gelegentlichen Zittern der Hände, einem krampfhaften Zucken der Lippen gab sie kein Lebenszeichen mehr.