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Fünfter Teil

30.

Im Herzen von Stambul, unter dem Novemberhimmel.

Ein Gewirr von alten Straßen, selbstverständlich in tiefster Stille, unter tiefhängenden dunklen Wolken; eine Anhäufung von schiefstehenden, verwahrlosten Holzhäusern, ohne Wahl planlos in ganzen Gruppen hingestellt. –

Und dies alles, in richtiger Beleuchtung von weitem gesehen, bietet das Bild einer großen, feenhaften Stadt; aber im einzelnen und aus der Nähe gesehen, enttäuscht es so manchen Fremden. –

Für André Lhéry jedoch, dem alles längst bekannt war, behielt auch das einzelne seinen Reiz, besonders die Grabmäler mit ihren eigenartigen Ausschmückungen, die überall zu finden sind, einzeln oder zu ganzen Friedhöfen vereinigt.

André, den Fes auf dem Kopf, durchschnitt diesen Stadtteil nach den Angaben einer Karte, die Mélek für seinen Gebrauch angefertigt hatte. Nur einmal blieb er stehen vor einer der Hütten für herrenlose kleine Hunde, die in Konstantinopel massenhaft umherirren. Gutmütige Nachbarn errichten solche Hütten, zu deren innerer Einrichtung sie altes Stroh und alte Teppiche für die Bedachung hergeben. Im Innern lagerten die Tiere, standen aber sofort auf, als André sich der Hütte näherte und begrüßten ihn freudig. Er streichelte sie jedoch nicht, aus Furcht, sich als Abendländer zu verraten; denn die Orientalen, wenngleich sie mitleidig gegen die Hunde sind, verschmähen es, sie anzufassen und versparen alle ihre Schmeicheleien für die Katzen, die allgemein verhätschelt werden. Aber die Hundemutter kam trotzdem zu André heran, kroch vor ihm und machte schön, um dadurch zu zeigen, wie sehr geehrt sie sich durch seinen freundlichen Besuch fühle.

»Das vierte Haus links, nach einem Begräbniskiosk und einer Zypresse«, – das war der Ort, wohin ihn heute die Laune seiner drei Freundinnen berief.

Ein schwarzer Domino mit tief herabgelassenem Schleier, der aber nicht Mélek zu sein schien, erwartete ihn hinter der halb offenen Haustür, führte ihn, ohne ein Wort zu sprechen, eine Treppe hinauf und ließ ihn allein in einem sehr orientalischen kleinen Salon, in dem infolge der festen Vergitterung der Fenster ein gewisses Halbdunkel herrschte. Diwans rund umher und Islaminschriften an den Wänden. Von einem Nebenraum her vernahm man Geflüster, leichte Schritte und das Rauschen von Seidenstoffen.

Und als derselbe Domino zurückkam und ihn durch ein Zeichen rief und in einen Nebensaal einführte, konnte er glauben, Aladin zu sein, der in sein Serail tritt. – Seine drei sonst so ernsten schwarzen Schattenbilder waren verwandelt in drei Odalisken; sie funkelten von Goldstickerei und Flitterwerk, in einer glücklicherweise überlebten Verschwendung. Antike Schleier von Mekka in weißer Gaze mit Flitterstickerei fielen von rückwärts über ihre Schultern und umhüllten ihr lang geflochtenes Haar.

Alle drei, die Gesichter gänzlich unverhüllt, standen gebeugt vor ihm wie vor ihrem Gebieter und lächelten ihm zu in ihrer frischen Jugend, mit rosigen Lippen und perlenweißen Zähnen.

Es waren dies die Kostüme und Schmuckgegenstände ihrer Großmütter, die von den drei Freundinnen in den alten Koffern aufgefunden waren und nun, mit vielem Geschmack hergerichtet, hierzu verwendet wurden. Ein derartiges glänzendes Schauspiel würde sonst heutzutage niemand mehr zu bieten vermögen, und André Lhéry, als Abendländer, hätte am wenigsten gewagt, einen solchen Anblick zu erhoffen. –

Hinter den drei falschen Odalisken, aber mehr im Schatten, saßen noch fünf oder sechs stille Mitverschworene auf Diwans. Alle gleichmäßig in schwarzen Tcharchafs und tiefverschleiert; ihre stumme Anwesenheit vermehrte noch das Geheimnisvolle des Schauspiels. –

Dies alles, das man für keinen anderen getan hätte, war eine unerhörte Verwegenheit und von verblüffender Nichtachtung der Gefahr.

Den dreien machte es Spaß, ihn als Pascha zu behandeln, und sie tanzten vor ihm, ... einen Tanz der Großmütter in den Ebenen von Karadjiamir, einen sehr langsamen, sehr gesitteten Tanz, mit graziösen Bewegungen der nackten Arme. Im Hintergrunde des Saales spielte dazu eine der verschleierten Frauen ein asiatisches Pastorale auf der Laute.

In ihren prächtigen Kostümen waren sie wieder echte Orientalinnen geworden, diese drei kleinen Hochgebildeten, die Kant und Schopenhauer erforscht haben.

»Warum sind Sie denn heute nicht heiter?« fragte Djenane ganz leise ihren Freund André. »Langweilt Sie das, was wir für Sie ersonnen haben?«

»Nein, im Gegenteil; Sie haben mich entzückt. Ich werde niemals wieder so Seltenes und Schönes sehen! – Was mich traurig macht, werde ich Ihnen sagen, wenn jene Damen dort fortgegangen sein werden. Und wenn das, was ich Ihnen zu sagen gedenke, Sie vielleicht überraschen wird, so bin ich doch sicher, daß es Ihnen keinen Kummer bereiten wird.«

Die schwarzen Damen gedachten sich bald zu entfernen, wie es hieß.

Unter diesen »Unsichtbaren« – die ohne Zweifel alle rebellisch gesonnen waren – glaubte André, sobald die Gespräche begannen, an ihren Stimmen die beiden jungen Mädchen zu erkennen, die eines Tages in Sultan-Selim erschienen. Jene, die eine französische Großmutter gehabt und eine Flucht erträumten. Mélek wollte sie überreden, ebenfalls ihre Schleier zu erheben, aus Trotz gegen das tyrannische Verbot; aber sie weigerten sich, indem sie scherzend sagten:

»Ihr brauchtet ja selbst sechs Monate zu dem Entschluß, die Eurigen zu erheben!«

Auch eine andere, allem Anschein nach junge Frau war da, die französisch sprach wie eine Pariserin, und die das von André Lhéry versprochene Buch leidenschaftlich interessierte.

Diese fragte ihn:

»Sie wollten ohne Zweifel – und wir wünschten das auch – die türkische Frau in ihrer gegenwärtigen geistigen Entwicklung schildern? ... Wohlan! – Verzeihen Sie einer unwissenden kleinen Orientalin, Herrn Lhéry ihre Ansicht darüber auszusprechen! – Also! Wenn Sie einen unpersönlichen Roman schreiben, den Sie sich um eine Heldin oder eine Gruppe von Heldinnen drehen lassen, ... setzen Sie sich dadurch nicht der Gefahr aus, nicht fernerhin der ›antreibende‹ Autor zu bleiben, den wir alle so sehr lieben? ... Wenn dieser Roman doch eine Art Fortsetzung von ›Medje‹ werden könnte: Ihre Rückkehr in den Orient, nach einer langjährigen Zwischenzeit ...?

»Das habe ich Herrn Lhéry genau ebenso gesagt,« unterbrach Djenane die Sprecherin, – »aber meine Ansicht wurde so übel aufgenommen, daß ich nicht mehr wage, meine armen Ideen über jenes Buch auszusprechen!«

»Uebel aufgenommen?« erwiderte er lachend. »Vielleicht! Versprach ich Ihnen aber nicht trotzdem, daß ich, mit Ausnahme der Vorführung meiner Person, alles zu tun bereit bin, was Sie wünschten?«

»Also setzen Sie mir Ihre Ideen auseinander, jetzt gleich, und diese ›verhüllten Damen‹, die uns sprechen hören, entschließen sich vielleicht, uns auch ihre Ideen darzulegen?«

Die schwarze Dame, die vorhin gesprochen hatte, nahm ihre Rede wieder auf:

»Der Roman oder das Liebesgedicht einer Orientalin wechselt nur wenig. Immer sind darin zahlreiche Briefe und nur flüchtige Zusammenkünfte. Die Liebe, mehr oder weniger vollendet, ... und zum Schluß ... der Tod! ... zuweilen, aber nur selten, die Flucht! ... Ich spreche selbstverständlich von der Liebe zu einem Fremden, die einzige, deren eine gebildete Orientalin der Gegenwart fähig ist, wenn sie Selbstbewußtsein hat!« ...

»Wie ungerecht macht Sie doch der Aufruhr gegen die Männer Ihres Vaterlandes!« versuchte André zu entgegnen. »Allein schon unter denen, die ich kenne, könnte ich Ihnen viele nennen, die interessanter sind als wir und die ...«

»Die Flucht?« fiel hier Djenane ein, – »nein! Sagen wir: der Tod! ... Und da komme ich nun auf das zurück, was ich neulich Herrn Lhéry vorschlug. – Warum nicht eine Form wählen, die ihm erlaubt, ohne durchaus selbst zu erscheinen, seine eigenen Eindrücke zu übertragen? ... Zum Beispiel etwa so:

Ein Ausländer, der ihm ähnelt wie ein Bruder, ... ein Mann, ebenso wie er, vom Leben verwöhnt, und ein von den Frauen vielgelesener Autor, kommt eines Tages wieder nach Stambul zurück, das er einst sehr geliebt hat. – Findet er hier die Begeisterung seiner Jugendzeit wieder? – An Ihnen ist es, Herr Lhéry, darauf zu antworten. – Er begegnet hier einer unserer Mitschwestern, die ihm einst einen Brief geschrieben, wie so vielen anderen armen Kleinen, die von seinem Ruhm geblendet wurden.

– Und nun wird, was vor zwanzig Jahren Liebe bei ihm geworden wäre, jetzt nur künstlerische Neugier! ... Er nimmt die an ihn ergehenden Einladungen zu mehreren aufeinander folgenden Zusammenkünften an, weil sie unerhört und sehr gefährlich sind. Und was kann anderes daraus entstehen als Liebe? ... Aber nur in ihr, nicht in ihm, denn er ist ja nur ›Kunstliebhaber‹, er sieht in der ganzen Sache nichts als ein Abenteuer! ...«

»Doch nein, ... nein!« ruft sie plötzlich, indem sie sich mit kindischem Unwillen erhebt. – »Sie hören alle stillschweigend zu und lassen mich fortwährend reden wie einen Blaustrumpf?! Ich komme mir wirklich lächerlich vor! ... Lieber will ich noch einmal tanzen, ... einen Tanz meiner Heimat; das schickt sich besser für mein Kostüm als Odaliske! Und Du, Chahende, spiele uns bitte die ›Ronde der jungen Hirtinnen‹, die wir vorhin probierten, vor der Ankunft des Herrn Lhéry.«

Und dabei nahm sie die Hände ihrer beiden Cousinen, um jenen Tanz zu beginnen.

Dagegen lehnten sich jedoch die verschleierten Beisitzerinnen auf und verlangten stürmisch das Ende der Geschichte, die Djenane so plötzlich abgebrochen hatte. Dabei setzten sie sich erwartungsvoll um Djenane herum und zogen auch deren beide Cousinen in ihren Kreis.

»Das Ende der Geschichte?« fragte Djenane. – »Ich dächte, sie wäre zu Ende! ... Stimmten wir denn nicht darin überein, daß die Liebesgeschichte einer Muselmanin mit einem Ausländer nicht anders enden könne als durch die Flucht oder den Tod? ... Nun wohl! Meine Heldin ist zu stolz, um dem Fremden zu folgen; sie stirbt also ... nicht gerade durch die Liebe zu jenem Manne, sondern ... wenn Sie wollen ... durch die unbeugsamen Satzungen des Harems, die ihr kein Mittel lassen, sich über ihre Liebe und ihren Traum zu trösten ... als durch die Tat!«

André sah sie fest an, während sie sprach. Ihre heutige Erscheinung als Odaliske, in dieser Kleidung, die wohl hundert Jahre alt sein mochte, ließ ihre Sprache noch sonderbarer erscheinen; ihre dunkelgrünen Augen blieben ohne Unterlaß zur Decke des Saales erhoben, und sie sprach alles mit der Unbefangenheit einer Person, die eine hübsche Erzählung erfindet, ohne dabei beteiligt zu sein. – Sie war ganz unergründlich!

Als endlich die schwarzen Damen fortgegangen waren, näherten sie sich ihm einfach und vertraulich wie einem guten Kameraden mit den Worten:

»Und jetzt, da die anderen fort sind, ... was haben Sie?«

»Was ich habe? ... Ihre beiden Cousinen dürfen es hören, nicht wahr?«

»Ganz gewiß!!« antwortete sie, halb verletzt. »Welche Geheimnisse könnten wir Ihnen gegenüber haben, Sie sowohl wie ich? Sagte ich Ihnen nicht von Anfang an, daß wir drei immer nur eine einzige Seele für Sie sein würden?«

»Nun denn, ich bin, wenn ich Sie so anblicke, entzückt und auch fast erschreckt von einer Aehnlichkeit! – Neulich schon, als Sie Ihren Schleier zum erstenmal erhoben, sahen Sie mich nicht einen Schritt vor Ihnen zurücktreten? ... Ich fand bei Ihnen dasselbe Oval des Gesichts wieder, denselben Blick, dieselben Augenbrauen, die sie die Gewohnheit hatte, durch ›Alkanna‹ miteinander zu verbinden. Und damals sah ich noch nicht Ihr Haar, das Sie mir heute zeigen gleichfarbig und ebenso geflochten, wie sie es zu tun pflegte!«

Mit ernster Stimme antwortete sie:

»Sie meinen, ich ähnelte Ihrer Nedjibe? ... Ich bin davon ebenso verwirrt wie Sie! ... Und wenn ich Ihnen nun sagte, André, daß es seit fünf oder sechs Jahren mein liebster Traum gewesen ...«

Sie blickten sich beide schweigend an. Djenanes Augenbrauen hatten sich ein wenig erhoben, als wollten sie den Augen gestatten, sich noch weiter zu öffnen, und er sah nun ihre dunklen Pupillen in voller Größe leuchten; Zeyneb und Mélek hielten sich entfernt.

»Bleiben Sie so, wie Sie da sind, André!« sagte Djenane plötzlich, »und ihr beide kommt her, um unseren Freund zu betrachten! So, wie er da ist, in dieser Stellung und Beleuchtung, sollte man ihn da nicht für kaum dreißig Jahre alt halten?«

Er jedoch, der sein Alter wirklich vergessen hatte, wie ihm das zuweilen geschah, und der sich gerade in diesem Augenblick der Täuschung hingegeben hatte, tatsächlich noch jung zu sein, erhielt einen grausamen Schlag. Er erinnerte sich, daß er bereits begonnen habe, den Weg des Lebens abwärts zu gehen.

»Was tue ich?« fragte er sich, »hier unter den sonderbaren Kleinen, die ja die Jugend selbst sind? So unschuldig das Abenteuer auch sein mag, in das sie mich verwickelt haben, so ist es doch kein Abenteuer für mich!«

Er verließ sie kühler vielleicht als gewöhnlich, um so ganz allein durch die öden Straßen der großen Stadt zu schreiten, über die der kalte Herbsttag sich neigte. – Weit war der Weg, den er zurücklegen mußte; er führte ihn durch unzählige stille Straßen, aber auch wieder durch auffallend belebte Gegenden, in denen große Volksmengen sich lärmend drängten. Einen weiten Meeresarm sogar mußte er überschreiten, bevor er seine Wohnung auf der Höhe erreichte, die ihm heute, bei eintretender Dämmerung, noch leerer und ungemütlicher schien als jemals. Warum aber war kein Feuer angezündet und kein Licht? – Er rief nach seinen türkischen Dienern, die zu dieser Besorgung verpflichtet waren. Sein französischer Kammerdiener, der sich beeilte, diesen Dienst zu verrichten, erschien und rief, die Arme zum Himmel erhebend:

»Alle fortgelaufen zum Fest! Der türkische Karneval beginnt heute; es war nicht möglich, die Bande zurückzuhalten!«

Ach ja, richtig; das hatte André Lhéry vergessen. Es war der 8. November, der in diesem Jahre mit dem Anfang des Monats Ramadan zusammentraf. In diesem Monat ist an jedem Tage strenges Fasten, dagegen finden nachts allerlei Belustigungen und Illuminationen statt. – Er trat an eines der Fenster, die nach Stambul hinausgingen, um zu sehen, ob die große Szenerie, die er in seiner Jugend, also ein Vierteljahrhundert früher, so gut gekannt hatte, sich noch jetzt entfalte, im Jahre 1322 der Hegira? – Ja! Es hatte sich noch nichts geändert. Die unvergleichlich schöne Silhouette der Stadt erhob sich bereits aus dem nächtlichen Dunkel; an einzelnen Punkten brach das Licht hervor und verbreitete sich mit der größten Schnelligkeit nach allen Seiten zugleich. Alle Minaretts, die ihre doppelten oder dreifachen Lichtkränze entzündet hatten, glichen riesigen Spindeln, die an verschiedenen Stellen ihrer Höhe Feuerringe trugen. Und arabische Inschriften, oberhalb der Moscheen von unsichtbaren Drähten getragen, zeichneten sich in der Luft so groß ab, daß man hätte glauben können, sie wären aus Sternen gebildet.

Da erinnerte sich André Lhéry, daß Stambul in den Nächten des Ramadan voller Musik, Gesang und Tanz ist. In der ungeheuren Menschenmenge erblickt man allerdings keine Frauen, nicht einmal unter ihrer üblichen Erscheinung als Gespenster, weil alle seit Sonnenuntergang hinter ihre vergitterten Fenster zurückgekehrt sein müssen. Aber man sieht unter der herbeigeströmten Menge tausend Kostüme aus allen Ecken Asiens; und dann die Nargilehs, die Theater der Vorzeit und die chinesischen Schattenspiele!

Noch einmal die Zahl seiner Lebensjahre vergessend, nahm André Lhéry seinen Fes und ging wie seine türkischen Diener nach jener illuminierten Stadt auf der anderen Seite des Wassers, um das orientalische Fest mitzumachen!


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