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Als die Reiter die Venta erreichten, herrschte vor und in derselben ein außerordentlich reges Leben. Die meisten Jäger saßen in der Gaststube und tranken und rauchten. Indianer gingen ab und zu ins Haus, nicht um zu trinken, denn das war ihnen von Bärenauge untersagt worden, sondern um in dem Laden des Wirtes ihre Beute zu verwerten.
Aus diesem Grund hatte Pirnero ganz außerordentlich viel zu tun. Einige seiner Vaqueros halfen ihm, und zum Glück hatte sich Resedilla von ihrer Ohnmacht wieder erholt, so daß sie imstande war, ihn nach Kräften zu unterstützen.
Eben als Juarez abstieg, kam Pirnero aus dem Laden und wollte in die Gaststube hinüber, trat aber beim Anblick der drei Reiter hinaus vor die Tür. Juarez hatte ein scharfes Auge, er taxierte Pirnero sofort als Wirt.
»Seid Ihr Señor Pirnero?« fragte er. – »Ja«, antwortete der Alte. – »Kennt Ihr mich?« – »Nein.« – »Ich heiße Juarez.«
Da riß der Wirt den Mund und die Augen weit auf und fragte:
»Señor Juarez, der Präsident?« – »Ja.« – »Oh, welch ein Heil widerfährt da meinem Haus! Tretet ein, tretet ein, Señor!« – »Das Heil, das Eurem Haus widerfährt, rührt mich wenig«, lächelte Juarez. »Lieber wäre mir, wenn in Eurem Hause mir Heil widerfahren könnte. Habt Ihr ein Zimmer für mich?« – »Oh, einen Salon!« – »Kann ich essen und schlafen?« – »So gut, wie in der Hauptstadt selbst.« – »So führt mich in das Zimmer und sorgt für mein Pferd.«
Mit diesen Worten stieg Juarez ab, übergab sein Pferd einem der Vaqueros und folgte dem Wirt nach oben, während die beiden Häuptlinge in die Gaststube traten.
Als Juarez die Treppe hinaufgestiegen war, bemerkte er die eingeschlagene Tür. Ihm fiel alles leicht auf. Er trat hinein und – stand Pepi und Zilli gegenüber. Man konnte sehen, daß er betroffen war, und auf den Gesichtern der beiden Mädchen spiegelte sich auch eine Art von Überraschung ab, die man sogar vielleicht Verlegenheit nennen konnte.
»Ah, sehe ich recht oder täusche ich mich?« – »Señor Juarez!« entgegnete Pepi. – »Also Sie kennen mich, Señorita? So täusche ich mich nicht? Haben wir uns nicht bereits gesehen?« – »Ja, Señor, im Kloster.« – »Della Barbara zu Santa Jaga?« – »Ja.« – »Sie waren als Zöglinge dort?« – »Ja.« – »Aber um Gottes willen, wie kommen Sie nach Fort Guadeloupe?« – »Von Chihuahua.« – »Da waren Sie?« – »Kurze Zeit« – »Bei den Franzosen?« – »Bei den Franzosen. Aber keineswegs als Ihre Feindinnen.« – »Das will ich hoffen«, lächelte er, »denn so schöne Feindinnen werden selbst einem Präsidenten gefährlich. Aber weshalb gingen Sie nach dem Fort?« – »Wir schlossen uns einer Kompanie Soldaten an.« – »Ah, derjenigen, welche vernichtet wurde?« – »Ja.« – »Wie sind Sie denn entkommen, Señoritas?« – »Der Schwarze Gerard rettete uns.« – »Der Schwarze Gerard! Aber weshalb schlossen sie sich den französischen Soldaten an, Señoritas?« – »Señor«, entgegnete Pepi verlegen und bittend. – »Ah! Ist das ein Geheimnis?« – »Allerdings«, antwortete sie munter. – »Da will ich nicht eindringen. Wie lange gedenken Sie, hierzubleiben?« – »Das ist noch unbestimmt« – »Haben Sie Freund und Bekannte hier?« – »Ja.« – »Nun, ich werde jedenfalls bis morgen dableiben. Kann ich mit der Erfüllung eines Wunsches dienen, so kommen Sie nur immer getrost zu mir.«
Juarez ging. Draußen hatte der Wirt auf ihn gewartet und führte ihn jetzt in ein größeres Zimmer, das er seinen »Salon« nannte. Es war dasselbe, das er dem Grafen Ferdinando eingeräumt hatte.
Als sie eintraten, lag der Graf noch ohne Besinnung auf dem Bett. Daneben saß Mariano, und vor demselben stand Sternau, um den Puls des Grafen zu fühlen.
»Dies, Señor, wird Euer Zimmer sein«, sagte Pirnero.
Juarez blickte den Sprecher erstaunt an.
»Es ist ja bereits bewohnt«, erwiderte er. – »Man wird diesem Kranken ein anderes Zimmer geben.« – »Wer ist er?«
Da trat Sternau näher und verbeugte sich.
»Mein Name ist Sternau, Señor«, sagte er. »Ich bin der Arzt dieses Kranken. Darf ich fragen, wer der Herr ist, dem wir weichen sollen?« – »Ich heiße Juarez.«
Sternaus Augen leuchtete freudig auf.
»Ich danke, Señor, und ich bin hoch erfreut, den Mann zu sehen, der das Unglück seines Vaterlandes so stark und mutig auf den Schultern trägt. Mein Patient ist der Graf Ferdinando de Rodriganda.«
Der Präsident trat einen Schritt zurück. Er hatte ganz das Aussehen, als ob ihm etwas Unbegreifliches widerfahren sei.
»Ferdinando de Rodriganda?« fragte er langsam. – »Ja, Señor.« – »Aus der Stadt Mexiko?« – »Ja.« – »Dem die Hacienda del Erina einst gehörte?« – »Derselbe.« – »Señor Sternau, das muß ein gewaltiger Irrtum sein.« – »Es ist die Wahrheit.« – »Aber der Graf ist ja gestorben und begraben! Er ist ja seit vielen Jahren tot.« – »Er wurde zwar begraben, aber er war nicht gestorben.« – »Ich verstehe diese Worte nicht!« – »Sie werden sie heute noch verstehen, Señor. Ich danke dem Himmel, daß er uns mit Ihnen zusammengeführt hat, und bitte Sie, unserer Angelegenheit heute eine Stunde zu schenken. Es ist eine Angelegenheit von der größten Wichtigkeit.« – »Ah, Sie überraschen mich immer mehr! Sagten Sie nicht, daß Ihr Name Sternau sei?« – »Allerdings.« – »Ich muß diesen Namen bereits einmal gehört haben«, meinte Juarez, der ein ungeheures Gedächtnis besaß. »Sie sind Arzt. Ah, ich habe es! Kennen Sie einen Herrn, der Pedro Arbellez hieß?« – »Den Haciendero auf del Erina?« – »Ja, den meine ich.« – »Ich kenne ihn, ich war bei ihm.« – »Er erzählte mir einst eine eigentümliche Geschichte. Ich nahm von ihm alte, indianische Schmucksachen in Empfang, die ich nach Deutschland senden mußte.« – »Oh, vielleicht nach Rheinswalden?« – »Ja, ich glaube, so hieß der Ort. An einen Knaben, dessen Vater Steuermann war.« – »Helmers?« – »Möglich! Der Knabe war bei einem Hauptmann, der zugleich Oberförster war.« – »Das stimmt, das stimmt! Also hat der brave Arbellez diese Sachen hinübergesandt?« – »Ja, durch mich. Dabei hat er mir auch Ihren Namen genannt. Ich kann mich nicht genau besinnen, aber ich glaube, daß es sich um die Heilung eines Wahnsinnigen handelte, der sein Schwiegersohn werden sollte.« – »Sie besinnen sich ganz richtig, Señor.« – »Er hat mir noch mehr von Ihnen erzählt. Also Sie sind wirklich jener Doktor Sternau?« – »Ja.« – »Nun, dann ist es um so auffallender, daß Sie sagen, der Graf sei noch nicht tot.« – »Er wurde lebendig begraben.« – »Teufel!« – »Und wieder ausgegraben.« – »Señor, das ist ein Roman.« – »Es ist die Wahrheit! Er wurde ausgegraben und, lebendig geworden, als Sklave verkauft. Erst vor kurzer Zeit ist es ihm gelungen, seine Freiheit wiederzuerlangen.«
Juarez schüttelte den Kopf.
»Wissen Sie, Señor, daß ich den Grafen sehr gut gekannt habe?« – »Um so besser! Wollen Sie ihn sehen?« – »Natürlich.« – »So bitte ich, näherzutreten.«
Der Präsident Juarez tat dies. Er betrachtete den Ohnmächtigen sehr scharf und fuhr dann zurück. Er war zwar bleich geworden, aber seine Augen funkelten.
»Nun, Señor, was sagen Sie jetzt?« – »Er ist es, bei Gott, er ist es!« – »Es ist demnach kein Roman.« – »Nein, es ist keiner. Es ist sein Gesicht, ganz unverkennbar sein Gesicht, nur um so viele Jahre älter. Und wissen Sie, woran ich ihn ganz genau erkenne?« – »Jedenfalls an der nicht verheilten Narbe auf seiner rechten Wange.« – »Ja, richtig. Es ist eine Lanzennarbe. Aber, um Gottes willen, mir ist da ganz, als ob ich träumte. So muß hier ja ein ganz fürchterliches Verbrechen vorliegen!« – »Nicht ein Verbrechen, sondern eine ganze unendlich lange Reihe von Verbrechen.« – »Und deshalb wollen Sie mich sprechen?« – »Ja.« – »So stehe ich zu Diensten, heute abend, so lange Sie mich brauchen.« – »Befehlen Sie, daß wir umziehen, Señor?« – »Nein, nein! Ich nehme jedes andere Zimmer. Aber was ist mit dem Grafen? Warum liegt er ohne Besinnung?« – »Er erhielt von einem Franzosen einen Kolbenschlag auf den Kopf.« – »Hat denn der alte Herr gar mitgekämpft?« – »Nein. Ah, Sie wissen am Ende noch nicht, daß es elf Franzosen gelungen war, in das Fort zu dringen und hier in die Venta zu kommen.« – »Kein Wort weiß ich!« erwiderte Juarez erstaunt. – »Sie sind allein von der Flußseite hereingekommen. Ich stellte dort zwei Posten ...« – »Sie? Sie stellten Posten auf?« unterbrach ihn der Präsident. »Kommandierten Sie denn im Fort? Warum nicht Gerard, dem ich das Fort übergeben hatte?« – »Er übertrug mit das Kommando, obgleich ich nicht zustimmen wollte.« – »Wunderbar! Er ist doch ein Mann, der stets weiß, was er tut. Aber Sie nehmen es mir nicht übel, Señor, ein Arzt und ein Kommando, das ist doch ein wenig sonderbar. Was hatte er denn für einen Grund?«
Sternau zuckte lächelnd die Achseln und antwortete:
»Er meinte vielleicht, kein so berühmter Jäger zu sein wie ich.« – »Wie Sie? Sind Sie ein Jäger, ein Westmann?« – »Ein wenig.« – »Ein Arzt und ein Westmann? Ich erstaune immer mehr!« – »Haben Sie einmal den Namen Matavase gehört?« – »Ja, er bedeutet ›der Fürst des Felsens‹, und sein Träger ist der größte Jäger und Pfadfinder!« – »Hm, so wurde ich einst genannt.« – »Sie?« fragte Juarez langgedehnt. – »Scheint Ihnen das so unmöglich?«
Juarez betrachtete die hohe, gigantische Gestalt seines Gegenübers mit bewundernden Blicken und antwortete:
»Wenn ich Sie so vor mir stehen sehe, kann ich mir denken, wie gut Sie ein Trapperanzug kleiden müßte. Deshalb übergab Gerard Ihnen das Kommando. Er hat recht gehandelt. Und Sie gewinnen dadurch an hohem Interesse bei mir. Also weiter!«
Sternau erzählte nun den ganzen Vorgang, wie er ihm selbst bekannt geworden war.
»Welch eine Gefahr für uns! So sind es nur diese elf gewesen?« – »Ja.« – »Und alle sind tot?« – »Alle, außer dem Anführer, einem Sergeanten.« – »Der lebt noch?« – »Ja.« – »Warum? Ich werde ihn erschießen lassen!« – »Er ist schwer genug bestraft, Señor. Er liegt skalpiert oben auf dem Boden.« – »Skalpiert? So ist er ja doch tot!« – »Nein. Büffelstirn hat ihn lebendig skalpiert und ihm auch noch Nase und Ohren abgeschnitten, weil er seine Schwester mit dem Kolben niedergeschlagen hat.« – »Welche Roheit! Aber auch welche Strafe!« – »Infolge des Keulenschlages liegt die Indianerin auch schwer darnieder.« – »Kann ich Gerard sehen?« – »Eigentlich sollte ich es nicht zulassen.« – »Ich werde äußerst vorsichtig sein.« – »So folgen Sie mir. Ich glaube nicht, daß der Graf jetzt erwachen wird.«
Der Wirt mußte warten. Sternau aber ging mit dem Präsidenten weiter und öffnete ganz leise die Tür jenes schönen Zimmers, in dem Gerard bereits einmal geschlafen hatte. Dort im Bett lag Gerard. Vor demselben saß eine Frauengestalt. Als die beiden eintraten, drehte sie sich um.
»Emma Arbellez«, flüsterte der Präsident erstaunt. – »Señor Juarez!« antwortete sie.
Sternau winkte, vorsichtig zu sein, und fragte mit leiser Stimme:
»Hat sich etwas verändert?« – »Nein«, antwortete Emma. – »Er hat die Augen nicht geöffnet?« – »Nein.« – »Kein Wort gesprochen oder geflüstert?«
Emma wurde verlegen.
»Bitte sagen Sie die Wahrheit!« – »Ein Wort glaubte ich allerdings verstehen zu können, das er flüsterte«, entgegnete sie. »Aber ich weiß nicht, ob eine Krankenwärterin indiskret sein darf!« – »Dem Arzt gegenüber gibt es keine Indiskretion. Übrigens glaube ich, das Wort erraten zu können.« – »Das wäre ein Wunder, Señor!« flüsterte Emma lächelnd. – »Oh«, sagte Juarez ganz leise, »Señor Sternau hat mir heute noch ganz andere Wunder erzählt. Wollen wir ihn auf die Probe stellen?« – »Ich darf es wagen«, entgegnete sie. »Es ratet doch kein Mensch.« – »Kein Mensch weiter als ich!« meinte Sternau. »Das Wort ist – Resedilla.«
Emma blickte Sternau ganz erstaunt an.
»Sind Sie allwissend?« fragte sie. – »Nein, aber aufmerksam.« – »Wer ist denn Resedilla?« fragte Juarez neugierig. – »Des Wirtes Tochter!« – »Ach! Er liebt sie?« – »Wahr und aufrichtig«, antwortete Sternau. »Jetzt aber, Señor, kommen Sie, ihn anzusehen!«
Sie traten an das Bett. Gerard, der kräftige Jäger, der einstige Garotteur, lag da wie eine Leiche, nein, wie eine Wachsfigur. Man dachte, es könnte kein Tropfen Blut durch seine Adern fließen.
Juarez stand dabei und faltete die Hände. Seine Augen wurden feucht. Er reichte Sternau die Rechte und sagte flüsternd:
»Wenn Sie den retten, dann sind Sie ein großer Mann und können auf meine Dankbarkeit rechnen. Jetzt gehe ich wieder, um nicht zu stören.«