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Während dieses Gespräch oben bei dem Grafen geführt wurde, war Pirnero in die Küche und auch nach dem Verkaufsladen gegangen, um seine Tochter zu suchen, hatte sie aber nicht gefunden. Er kehrte daher mißmutig zurück und setzte sich an das geöffnete Fenster, blickte hinaus in die dunkle Nacht und dachte, er wußte selbst nicht, an was.
Es war still und menschenleer im Ort; aber von fernher erscholl zuweilen ein wildes, hundertstimmiges Heulen. Es war das Klagegeschrei der Apachen über ihre Gefallenen oder ihr Siegesjubel über die skalpierten Franzosen. Auch durch das Innere des Hauses zitterte zuweilen ein wilder, tierischer Ton, der Schmerzenslaut des französischen Sergeanten, der in der Bodenkammer eingeschlossen lag und sich in unendlicher Pein auf der Diele hin- und herwälzte. Die Glut des Wundfiebers hatte ihn ergriffen und ihm mitleidig das Bewußtsein geraubt.
Da ging die Tür auf, und Resedilla trat ein. Ihr Vater bemerkte dies, tat aber so, als ob er es nicht gesehen habe. Sie machte sich leise im Zimmer zu schaffen, während er immer noch zum Fenster hinausblickte, obgleich er im Dunkeln gar nichts sehen konnte. Es ärgerte ihn gewaltig, etwas zu sagen, was gegen seine früheren Worte war. Er hustete einige Male verlegen vor sich hin, begann aber dann doch das Gespräch:
»Dichte Finsternis!«
Resedilla antwortete nicht; darum wiederholte er mit erhöhter Stimme:
»Schauderhafte Finsternis!«
Als sie auch jetzt noch nichts sagte, drehte er sich um und sagte:
»Nun?« – »Was?« antwortete sie jetzt endlich. – »Ganz und gar dicke Finsternis!« – »Ja. Man sieht nicht die Hand vor den Augen.« – »Das ist wahr. Aber man hört desto mehr.« – »Was hört man denn? Es ist ja überall so still da draußen.« – »Still? Horch nur einmal. Hörst du jetzt das Geheul?« – »Ja, jetzt höre ich es.« – »So etwas kommt bei uns in Pirna ganz und gar nicht vor.« – »Dort gibt es ja auch keine Indianer.« – »Nein. Dort wird kein Mensch skalpiert. Höchstens hauen sie sich da einmal mit den Stuhlbeinen über den Kopf, daß der Schädel brummt, besonders bei Hochzeiten, Kindtaufen und Leichenschmäusen. Weißt du, welches von diesen drei Festen das schönste ist?« – »Ich kann es mir denken. Das Begräbnis.«
Fast wäre Pirnero vor Schreck vom Stuhl in die Höhe gefahren. Er sah seine Tochter an, als ob er an ihrer Zurechnungsfähigkeit zweifle, und fragte erstaunt:
»Ein Begräbnis? Ein Begräbnis soll das schönste Fest sein? Warum?« – »Weil es dem Menschen am wohlsten ist, wenn er tot ist.«
Resedilla war sehr ernst gestimmt; darum sprach sie in dieser Weise. Ihr Vater aber konnte sie nicht begreifen. Er fixierte sie forschend und sagte:
»Am wohlsten, wenn er tot ist? Du bist nicht recht gescheit Warst du denn schon einmal tot, daß du so genau weißt, wie wohl es einem da ist? Mädchen, ich sage dir, wenn man im Sarg liegt oder im Grab, so ist es einem ganz verteufelt unwohl zumute. Ich mag um alle Schätze der Welt nicht in der Haut einer solchen Leiche stecken. Hast du einmal einen sterben sehen?« – »Ja doch.« – »Ah? Wo denn, wenn ich fragen darf?« – »Heute, droben auf dem Boden.« – »Ach, das ist nichts. Die sind ja nicht gestorben; die sind ja erstochen und totgeschlagen worden. Ich meine, wenn einer so langsam in seinem Bett stirbt. Hast du das schon einmal gesehen?« – »Nein.« – »Da darfst du auch nicht sagen, daß es einem Toten so wohl sein soll. So ein armer Kerl liegt da und weiß, daß er fort muß. Da hilft kein Jammern und Klagen, kein Strampeln mit Händen und Füßen, er muß fort, hinaus aus dem Leben, er mag sein, wer er will, Minister oder Weichensteller. Er verdreht die Augen, er knirscht mit den Zähnen; das Herz schläft ein, der Atem wird alle, und der Verstand hört auf. Nun liegt er da, wird in den Sarg gesteckt und in die Erde gescharrt. Und wenn so ein armer Teufel zehn oder zwanzig Jahre ausgehalten hat, und er wird ausgegraben, so ist er zum Gerippe abgemagert und wird in die Knochenmühle geschafft. Und da sagst du, daß es ihm wohl gewesen wäre? Du bist verrückt! Nein, das schönste dieser drei Feste ist das Hochzeitsfest. Warst du bei einem solchen einmal?« – »Ja.« – »Na also. Das ist ein Essen und Trinken, ein Springen und Tanzen, ein Herzen und Küssen, besonders zwischen Braut und Bräutigam. Als ich deine Mutter heiratete, war ich vor Glück ganz dumm im Kopf; später bin ich wieder gescheiter geworden. So eine Braut ist zu beneiden, denn ihr Bräutigam wird Schwiegersohn. Ich möchte eigentlich wissen, ob du nicht auch Anlagen besitzest, eine Braut zu sein. Was meinst du?«
Resedilla schwieg. Darum fuhr er fort:
»Bis jetzt bin ich darüber noch nicht ins reine gekommen. Ich habe immer gehofft, daß du mir einen Schwiegersohn bringen würdest. Dann wäre es ganz so geworden, wie sie bei uns in Pirna bei Hochzeiten singen. Hast du den Vers schon einmal gehört?« – »Nein.« – »Das ist schade, jammerschade. Er hatte eine wunderschöne Melodie und wird sogar im Theater gesungen und heißt:
Wir winden dir den Jungfernkranz
Mit veilchenblauer Freude;
Wir führen dich zu Spiel und Tanz
In lauter Samt und Seide!
So wäre es geworden. Aber du willst nicht. Nicht wahr?« – »Nein«, erwiderte Resedilla leise.
Da ermannte Pirnero sich, nahm seinen ernstesten Ton an und fuhr fort:
»Ich habe mir es überlegt, daß du recht hast. Ich brauche keinen Schwiegersohn, und wenn du mir ja einen brächtest, so würfe ich ihn zur Tür hinaus. Merke dir das, es ist mein völliger Ernst.«
Damit erhob Pirnero sich vom Stuhl, trat auf Resedilla zu und fügte mit erhobener Stimme hinzu:
»Vor allen Dingen verbiete ich dir, den Schwarzen Gerard zu heiraten. Ich kann den Kerl nicht leiden. Verstanden? Jetzt kennst du meinen festen Willen. Dabei bleibt's.«
Mit stolzen Schritten ging er zur Tür hinaus.
Resedilla blickte ihm verblüfft nach; sie konnte sich diesen plötzlichen Wechsel in der Gesinnung nicht erklären. Sein Verhalten war fast lächerlich zu nennen, aber sie vermochte nicht darüber zu lachen. Es war ihr so ernst zumute, und wenn sie sich nach dem eigentlichen Grund gefragt hätte, so wäre sie sich die Antwort sicher schuldig geblieben.
Sie trag eine große Liebe im Herzen, aber dieser Liebe gegenüber stand ein böses, schlimmes Wort, das ihr immer in den Ohren klang, das Wort Garotteur. Auf ihrem Leben haftete kein Flecken, kein Makel; sie hatte sich den, der ihr Herz besitzen sollte, ebenso rein und vorwurfsfrei gedacht und nun lag es doch so ganz anders. Sie hatte dem Geliebten vergeben; sie wußte, daß er schwer gebüßt hatte, daß er nie imstande sein werde, sich je wieder eines Verbrechens schuldig zu machen, aber sie hatte doch über das Wort Garotteur noch nicht vollständig hinwegkommen können.
Heute nun hatte er ihr bewiesen, wie lieb er sie habe. Seine Liebe war so stark, so mächtig, daß sie das entschwindende Leben festgehalten und ihm Kraft gegeben hatte, sie aus den Händen ihrer Feinde zu retten. Nun lag er oben, zerschossen und zerstochen, kaum noch eine Spur des Lebens in sich tragend. Jetzt, jetzt endlich war der Klang des bösen Wortes in ihr verstummt, und sie fühlte, sie wußte, daß sie sein Eigen sein müsse, ohne Fragen, ohne Zagen, mit unerschütterlichem, felsenfestem Vertrauen.
Und doch war sie nicht zu ihm gegangen. Warum?
Die Seele des Weibes ist ein ewiges Rätsel, hier lag die Lösung desselben jedoch nicht im verborgenen. Resedilla fühlte diese Liebe über sich zusammenschlagen, wie eine unendliche, unwiderstehliche Flut Sie fühlte und glaubte, daß sie sich über den Geliebten werfen müsse, um mit lauten Klagetönen sein schwaches Leben festzuhalten, und gerade das konnte ihn, der vielleicht noch zu retten war, unwiderbringlich in den Tod treiben. Sie fürchtete die Macht ihrer Liebe, und darum lag er oben, als ob es kein Herz gäbe, das von einem einzigen großen Gebet um sein Leben erfüllt war.
So saß Resedilla da und drückte die Hand fest auf den Busen, um das Wogen desselben zu dämpfen. Da ging die Tür auf. Sie dachte, der Vater kehre zurück, aber als sie das Auge erhob, fiel es auf Sternau.
»Verzeihung, Señorita!« sagte er. »Ich komme als Bittender.«
Sie erhob sich und blickte ihn fragend an. Sternau war Menschenkenner. Warum antwortete sie nicht? Sein großes, schönes Auge ruhte forschend auf ihr; es ging ein leises Lächeln über sein Gesicht.
»Haben Sie ein wenig Leinwand zum Verbinden?« fragte er. – »Ja, gleich!«
Mit diesen Worten eilte Resedilla nach der Küche, und als sie dann zurückkehrte und ihm das Gewünschte überreichte, fragte sie:
»Waren nicht bereits alle verbunden? Wer nimmt Sie noch in Anspruch, Señor?« – »Gerard!«
Sie erbleichte.
»Steht es so gar schlimm mit ihm?« erkundigte sie sich mit bebender Stimme. – »Sehr schlimm«, antwortete er. – »O Gott, gibt es denn gar keine Rettung?«
Diese Worte hauchte sie nur, und ihre Augen füllten sie mich Tränen der Angst und des Schmerzes.
»Gott ist gnädig«, erwiderte der schöne, ernste Mann. »Hier aber ist außer von ihm nur noch von einem einzigen Arzt Rettung zu erwarten.« – »Und wer ist dieser?« – »Die Liebe.«
Resedilla wurde noch bleicher als vorher; dann aber flog eine dunkle Röte über ihr Gesicht, und zugleich floß ein Strom von Tränen über ihre Wangen.
Da ergriff Sternau ihre Hand und sagte mit milder, eindringlicher Stimme:
»Resedilla, er wollte sterben!« – »Gerard?« fragte sie schluchzend. – »Ja.« – »Er wollte?« – »Ja. Er ging mit Fleiß und Vorbedacht in den Tod. Wir anderen kämpften hinter den Palisaden, er aber blieb draußen vor denselben.« – »O Gott, warum?« – »Ich weiß es nicht. Sie aber werden es wissen oder wenigstens ahnen. Er gab sich den Kugeln der Feinde preis. Er lag in einem förmlichen See von Blut, nachdem er Wunder der Tapferkeit getan hatte. Da hörte er, daß Sie in Gefahr seien, und dieser Gedanke war hinreichend, seine Seele festzuhalten. Warum hassen Sie ihn?« – »Hassen? Ich ihn hassen?«
Bei diesen Worten legte Resedilla beide Hände vor das Gesicht, und das Schluchzen erstickte beinahe ihre Stimme.
»Kennen Sie ihn seit längerer Zeit?« begann er wieder zu fragen. – »Seit kurzer Zeit, aber lange genug.« – »Wissen Sie, wo er früher lebte?« – »In Paris.« – »Und was er dort war?« – »Ja, Señor.« – »Er hat es Ihnen gesagt?« – »Ja, er war aufrichtig. Nicht wahr, auch Sie wissen es?« – »Auch ich weiß es, Señorita, warum wollen Sie ihm nicht vergeben?« – »Oh, ich habe ihm ja längst vergeben!« – »Und doch meiden Sie ihn, da er der Hilfe so sehr bedarf!« – »Ich darf nicht zu ihm! Ich – ich darf – ich kann es nicht sagen«, antwortete sie. – »Das begreife ich nicht. Als heute der Kampf begann, bat er mich, Ihnen seinen Gruß zu bringen, wenn er gefallen sei. Er lebt noch, aber dennoch bringe ich Ihnen diesen Gruß, es ist der eines Sterbenden.«
Mit diesen Worten wandte Sternau sich um und schritt der Tür zu. Da eilte Resedilla ihm nach und bat in herzzerreißendem Ton:
»Señor Sternau!« – »Was wünschen Sie noch?« – »Ich kann, ich darf ja nicht zu ihm, ich würde ihn ja ganz sicher töten.«
Da ging ein stilles Lächeln abermals über Sternaus Gesicht, und er legte dem schönen Mädchen die Hand aufs Haupt und fragte:
»Sie trauen sich nicht die Kraft der Selbstbeherrschung zu?« – »Mein Jammer würde ihm den Rest des Lebens rauben.« – »Mein Kind, Sie kennen sich nicht, das Weib ist stark im Leid. Kommen Sie! Sie werden ihn nicht töten, sondern ihm das Leben geben.«
Damit nahm Sternau sie bei der Hand und verließ mit ihr das Zimmer. Resedilla konnte nicht zurück, sie folgte ihm willenlos bis vor die Tür, hinter der der Geliebte lag. Dort aber blieb sie zaudernd und angstvoll stehen und sagte fast bittend:
»Señor Sternau, ich wage es nicht!« – »Warten Sie, ich werde zuvor nachsehen«, antwortet er.
Er trat hinein, und sie blieb außen zurück mit unaussprechlichen Gefühlen im Herzen. Nach einer kleinen Weile öffnete Sternau die Tür.
»Treten Sie ein, Señorita«, bat er leise.
Resedilla trat ein. Sie sah das Bett und neben demselben eine weibliche Gestalt in der Stellung einer Wärterin sitzen. Es war Zilli.
Also diese Fremde saß bei ihm, während sie, die ihn doch so unendlich liebte, fern von ihm geblieben war! Es ging ein Stich durch ihre Seele.
Endlich wagte sie es, das Auge auf das Bett zu richten.
Da lag Gerard, eingehüllt in Binden und Bandagen! Auch sein Kopf war in weißes Linnen gebunden. Nur sein Gesicht war ganz frei, aber es hatte die Blässe des Todes, gegen welche die Schwärze des schönen, vollen Bartes zum Erschrecken abstach. Die Wangen waren tief eingefallen und seine Augen geschlossen.
Es überlief Resedilla eiskalt. Ja, Sternau hatte recht gehabt. Sie hatte geglaubt, daß sie sich beim ersten Anblick auf ihn stürzen werde; aber jetzt fühlte sie, daß dies unmöglich sei, denn ihr Körper schien aus Eis zu bestehen, und ihre Füße waren zentnerschwer. Es kostete sie die furchtbarste Anstrengung, sich zu bewegen, und es dünkte ihr, als vergehe eine Ewigkeit, ehe sie das Bett erreichte. Dort stand sie nun neben Zilli, die sich vom Stuhl erhoben hatte, und versuchte, ob sie sprechen könne.
»Sie waren bisher bei ihm?« fragte sie das junge Mädchen leise. – »Ja, Señorita«, antwortete Zilli in derselben Weise. »Wir haben ihn verbunden.« – »Ich danke Ihnen.«
Bei diesen Worten nahm Resedilla auf dem Stuhl Platz, von dem sich die andere erhoben hatte, die nun fragte:
»Sie wollen bei ihm bleiben?« – »Ja«, antwortete Resedilla. – »Das geht ja nicht. Sie werden doch unten gebraucht.«
Resedilla schüttelte langsam den Kopf.
»Mein Platz ist hier, bis er genesen ist«, antwortete sie. »Wollen Sie mir eine Wohltat erzeigen, so fragen Sie den Vater, ob Sie ihm etwas helfen können.« – »Ich werde es gern tun«, entgegnete Zilli und ging.
Sternau nahm jetzt den Verband vom Kopf des Verwundeten und legte einen neuen an, und Resedilla war ihm dabei behilflich.
Dabei streifte ihre Hand leicht über die bleiche Wange Gerards. Da flüsterte er leise, als habe er an dieser Berührung die Geliebte erkannt.
»Resedilla!« – »Antworten Sie«, bat Sternau. »Er hat, seit er hier liegt, die Augen noch nicht geöffnet.«
Sie bog sich zu seinem Ohr nieder.
»Mein guter, lieber Gerard!« sagte sie mit leiser Stimme.
Da hoben sich seine Lider langsam empor, und sein todesmatter Blick fiel auf sie.
»Oh, nun sterbe ich nicht!« klang es dann fast hörbar von seinen Lippen.
Jetzt kümmerte Resedilla sich nicht mehr um die Gegenwart Sternaus. Sanft legte sie ihren Mund auf die blutleeren Lippen des Kranken und sagte:
»Nein, du darfst nicht sterben, mein Gerard, denn ohne dich würde auch ich nicht leben können. Du sollst genesen und sehen, daß du mir lieber bist, als alles auf der Erde.« – »O Gott, das ist der Himmel, das ist die Seligkeit«, stammelte Gerard, dann schloß er die Augen wieder.
Dieses plötzliche Glück war zu groß für seine schwachen Kräfte gewesen, eine Ohnmacht hatte ihm wieder das Bewußtsein genommen.
»Señor, Señor, er stirbt!« rief Resedilla voller Angst.
Sternau jedoch lächelte ihr gütig zu und antwortete:
»Erschrecken Sie nicht, Señorita. Es ist nur eine Ohnmacht. Sie schadet ihm nicht, sie wird ihn im Gegenteil stärken. Bleiben Sie bei diesem Kranken, so gebe ich die Hoffnung nicht auf, daß er genesen wird.«