Johannes Richard zur Megede
Félicie
Johannes Richard zur Megede

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Erstes Kapitel.

Den 24. Dezember 189 . .

Mein lieber Gert!

Heilige Nacht – sehr spät – und ich noch auf. Es ist die alte Geschichte: Eines Tages werden meine mißhandelten Nerven gänzlich niederbrechen, und dann ist es hoffentlich mit Deinem alten Sorgenkinde Rolf endgültig aus. Sag nichts dagegen! Ob morgen oder in zwanzig Jahren die Katastrophe eintritt, ob das Ende erbaulich oder schmählich – gleichgültig. Mein Satz steht fest: Kein Leben verdient gelebt zu werden. Das klingt nicht gerade weihnachtlich, und alle unsre guten Freunde, die noch vor Jahresfrist in einer wohlgezielten Pistolenkugel den vernünftigen Abschluß meines verbummelten Daseins sahen, werden heute behaupten, daß ich mich dem jungen Ruhme und der Mitwelt erhalten müsse. Nicht mal ehrlich gemeinter Blödsinn von den Leuten, denen, wenn ich mich morgen abschösse, der Klatsch über die furchtbare Sünde der willkommenste Nervenreiz wäre . . . Und was den Ruhm anbelangt – so schwach und schemenhaft der meinige auch noch ist – das habe ich schon los: Er hat auch für die Glücklichsten eine verwünschte Aehnlichkeit mit importierten Zigarren. Man raucht sie teurer und immer teurer, bis einem zu guter Letzt auch die lange »Rothschild« fade schmeckt; dauernden Genuß hat von dem Zeug niemand, höchstens einen gewissen Gaumenkitzel. Wenn aber dann der blasierte Gourmet plötzlich auf die »fröhliche Pfalz« zurückkommen muß – ja dann vermißt er freilich das edle Kraut, dann würde es ihm auch schmecken, wo es unerbittlich vorbei ist damit. Mein Lieber, im besten Falle sticht die Sonne des Ruhms, aber sie wärmt nie.

Wozu übrigens diese kühl-bittere Vorrede . . .

Mir ist weit eher weinerlich zu Mute. Weihnachten in einem kahlen, kalten Gasthofszimmer – in der Fremde – an dem kleinen, elenden, italienischen Kamin, in dem der einsame Pinienast so kümmerlich schwelt. Ich ewiger Jude sollte mich doch allgemach daran gewöhnt haben. Jawohl! Springe über deinen eignen Schatten! Dreihundertvierundsechzig Tage im Jahr halt' ich ängstlich mein Heimatgefühl begraben und meine brüderliche Zuneigung wohl auch, aber in der heiligen Nacht stehen die Toten auf, so gern ich sie in die Gruft zurückdrücken möchte. Der Sargdeckel springt. Du trittst zu mir und mit Dir die Heimat.

So auch heute. Und unheimlich lebendig stehst Du vor mir, mein Bruder – unheimlich. Bin ich auf einmal hellseherisch veranlagt, oder ist's die lumpige Flasche Sekt? Ich trinke viel, doch wer sah mich je betrunken? . . . Fünf Jahre haben wir uns nicht von Angesicht zu Angesicht geschaut, und mein karger Dank für Deine langen Briefe war immer nur der flüchtige Ansichtskartengruß. Du schriebst mir, daß Du grau würdest. Aber der hier neben mir steht, ist weiß, schneeweiß mit einem alten, vergrämten Gesicht, in dem die Falten so merkwürdig zittern. Mensch, das kannst Du doch nicht sein – mit vierzig Jahren ein Greis! Schreib, ist Dir irgend etwas Schreckliches passiert, frißt ein ungeheurer Gram an Deinem Herzen? Thorheit! So kann mein solider Bruder Gert nicht aussehen.

Jetzt hat sich auch, Gott sei Dank, Dein Doppelgänger empfohlen.

Du übrigens mit den grauen Haaren – das ist auch nicht unbedingt nötig, sie werden sich wohl noch bequem zählen lassen. Auf das »in Ehren ergraute Haupt« hätte ich ein Recht trotz meiner fünf Winter weniger. Die Kriegsjahre zählen doppelt, und ich habe doch mein Leben so toll gelebt wie einer. Aber noch kein Silberschimmer auf dem Scheitel, noch keine verdächtige weiße Spitze im Schnurrbart.

Da ist der Kerl wieder! – Du bist es, weiß Gott, Gert! . . . Ich muß meine ganze Kraft zusammennehmen, um weiter schreiben zu können. Du beugst Dich auf mich . . . nahe, fast zudringlich. Deine Augen suchen mich krampfhaft, bohren sich in die meinen, lassen sie nicht frei. Deine Augen sind's – Deine guten, klugen Augen. Aber es liegt so viel Fremdes drin, so viel Todesangst bei all der warmen Liebe. Schnürt Dir irgend ein Schurke die Kehle zu – und ich muß thatenlos zusehen? Oder werde ich erdrosselt von unsichtbarer Hand, und Du kannst den Arm nicht rühren und die Zunge, nur Deine weit aufgerissenen Augen können im halben Wahnsinn stehen: Stirb nicht, stirb nicht!?

Seltsame Vision! . . . An Zeichen und Wunder glaub' ich nicht. Ich habe von Religion nur das bißchen Aberglauben hinübergerettet. Der quält mich jetzt. Wenn's doch die Zukunft wäre, die ich geschaut?  . . . Zu guter Letzt, daß es etwas über uns giebt, das leugnet weder der Dümmste noch der Klügste. Es könnte wirklich ein schweres Unglück uns beiden bevorstehen. Denn was Dich trifft, das trifft auch mich und umgekehrt. Das weiß niemand besser als wir beide, und wehe, wenn wir es je vergäßen! . . . Nein, wir vergessen es nie: darüber bin ich ganz ruhig.

Ich seh' Dich noch immer mit schrecklicher Klarheit. Deine Augen wollen irgend etwas in mir bannen und können es nicht.

Langsam beginn' ich zu verstehen. Der Mensch, den Du ansiehst, dem möchtest Du das Leben suggerieren, während ihm der Tod auf dem Gesichte geschrieben steht . . . Also auf mir wird demnach das Schicksal lasten. Aber was könnte das für ein Schicksal sein? . . . Krankheit, Mißerfolg, Armut? – Der Plagegeister, die uns in den Tod treiben können, giebt's genug. Aber es muß etwas ganz andres sein! . . . Denn warum liegt in Deinen Augen bei aller Angst, aller Qual, bei dem mächtigsten Willen zu meinem Leben etwas Deiner ganzen Natur Fremdes: der Neid? – Mir fehlt die Brücke des Verständnisses. Ist Dein Doppelgänger hier nicht ein höllischer Trug, dann gehe ich an einem Schicksal zu Grunde, vielleicht an einem Gefühl, so groß, daß selbst Du es mir nicht gönnst.

Fasse das übrigens, bitte, nicht tragisch auf! Es soll Dir nur ein Zeichen sein, wie intensiv ich an Dich denke. Ich bin eben der Stimmungsmensch par excellence. Zum sogenannten Künstler paßt das ja auch vorzüglich.

Nun zu den Realitäten.

Das Vierteljahr im Modesanatorium war teuer und nutzlos. Zwei Aeskulapjünger befühlten und beklopften mich eine Stunde und wollten durchaus wissen, ob unsre Großväter sich auf Grund ihrer Sünden oder ihrer Tugenden sehr früh ins Jenseits empfohlen hätten. Dann wurde ich gewogen. Der Oberpriester kam und versicherte mir nach einem Händedruck, daß ewig kalte Extremitäten unnatürlich und dunkelblaue Anzüge luftundurchlässig seien. Ich aber halte die Farbe der Treue (in Tuch) sehr hoch und werde demnach an der edelsten germanischen Charaktereigenschaft zu Grunde gehen. Sehr viele kleine Mädchen könnten bitter lächelnd das Gegenteil beschwören – eine würde dabei sogar herzbrechend schluchzen. Ein Engel, lieber Gert, war ich eben nie. Hier wollt' ich es werden. So stieg ich denn gehorsam von einer Wanne in die andre, badete Luft, Sonne, Sand und ertrug bei der Table d'hôte als gelinden Vorgeschmack des Fegefeuers einen rothaarigen Brillenjuden aus Lodz, der die Gemüse mit dem Messer und das Pfirsichkompott mit dem Zahnstocher aß. Als er ging, ging ich auch; ich hatte mich so hübsch dran gewöhnt, immer gefragt zu werden, ohne je zu antworten. Er mag einen merkwürdigen Begriff von meiner Nation bekommen haben, ich von seiner auch. Kurz und gut, ich war es endlich müde, nur Nr. 2441 in diesem Sanatorium zu sein, was meines Vaters Sohn nie liebte. Als Neurastheniker kam ich und ging ich. Freunden empfehle ich die Kur dessenungeachtet sehr warm. Ich autorisiere Dich, Gert, bei Deinen lieben Gutsnachbarn dasselbe zu thun.

Es fiel auch gerade der erste Schnee von einem grauen, trostlosen Novemberhimmel. Während er sich in zähen Schmutz verwandelte, packte ich. Als ich abfuhr, klatschte eine Sündflut auf das Verdeck meiner Gepäckdroschke. Gen Italien! Sonst pflegte ich meine Romfahrt zwei Monate früher anzutreten. Erst wollte ich auch nach der ewigen Stadt selbst, wo ich mein Atelier noch immer beibehalten habe. Rom bleibt Rom – und ein Sonnenuntergang in der Campagna von der Cäcilia Metella aus gesehen – wenn so die Albanerberge violett schimmern und die Stadt in einem Lichtmeere versinkt – und die reine Luft und die einsamen Pinien und die zerbröckelnde alte Welt in dieser uferlosen Ebene.

Malen kann's keiner, geschweige denn beschreiben. – Und der Abendwind raunt mir dann immer so uralte Geschichten zu. Schön ist's wohl, einzig – aber mich umspinnt dann auf einmal eine so trostlose Traurigkeit, daß ich mich eile, ins Café Araguo zu kommen, zu dem elektrischen Licht, den Zeitungen und den schwatzenden Römerlingen . . . Eine große Zeit, ein großes Volk – und was ist geblieben? Wenn man nachdenkt, da legt sich über alles der graue Schleier. Das ist der Fluch meines freien Berufes, daß er die Stimmungen nährt, statt sie zu töten. Ihr seid weit besser dran mit Eurer täglichen Fronarbeit und Euren täglichen Sorgen . . . Nein, Rom nicht! Ich habe da zu viel gedacht und gearbeitet. Mein letztes Bild entstand ja da, die große Leinwand, die eine halbe Wand deckt. Sie hat mir Nerven gekostet, furchtbar viel Nerven. Und wiederum könnte ich stolz sein auf den Erfolg. Erst fünf Jahre bin ich so eigentlich beim Handwerk, und ich habe bereits ein Bild gemalt, um das mich die ganz Großen beneiden. Ich weiß es auch selbst, daß etwas dran ist – ich unterschätzte mein Talent nie – aber so schnell hätte ich mir den Aufstieg nicht gedacht.

Und wo ist die Befriedigung? . . . Bei mir jedenfalls nicht. Vielleicht bei Dir, obgleich Du das Original gar nicht kennst und auf die matte Photographie angewiesen warst. Daß ihr strebsamen Ostelbier von euren Rittergütern nicht wegkönnt während der Herbstbestellung, das weiß ich allein. Du mußt Dir also den Genuß zum Sommer aufsparen, wenn die Johannizinsen glücklich zusammengescharrt sind und bestenfalls ein paar blaue Lappen übrig bleiben für die Reise nach Berlin: Lehrter Bahnhof, Ausstellungspalast! – Nein, das Zaudern nehm' ich Dir wahrhaftig nicht übel. Denn Deinen Bruder Rolf anerkannt, ja groß zu sehen, das ist Dir wirklich Genuß. Und wie freundlich wirst Du es meinen agrarischen Freunden unter die Nase reiben . . . »Mein Bruder Rolf, der das berühmte Bild ›Die Liebe‹ gemalt hat . . . Sie wissen doch noch, lieber Phili, daß Sie ihm ein ganz andres Ende prophezeit hatten« . . . u. s. w. Du wirst ganz sicher übertreiben, Gert, und aus den zwanzigtausend Mark, die man mir für die Leinwand bot, deren fünfzigtausend machen. Schadet nichts! Solche Lügen selbstloser Bruderliebe sind dem Herrgott wohlgefällig . . . Vielleicht ist auch Deine Frau befriedigt, von den Zeitungskritiken wenigstens. Meine Schwägerin und ich haben uns sehr gern, wenn wir nämlich mehrere tausend Kilometer räumlich getrennt sind. Und sie schrieb mir auch einen sehr netten Brief, wo sie ›Die Liebe‹ sehr interessant findet bis auf die Nacktheit: »Ich hätte ein reineres Empfinden verspürt, wenn die beiden Gestalten bekleidet gewesen wären, mein lieber Schwager« . . . Solchen Einwand von englischer Prüderie verstehe ich nicht, namentlich von einer Landfrau aus dem Osten nicht. Nacktheit ist Reinheit. Nacktheit ist das Menschlichste und Göttlichste zugleich. Die Sünde ist nie nackt – immer halb angekleidet oder ganz. Binde der Venus vom Kapitol ein Korsett um, ziehe ihr einen seidenen Strumpf an – und wozu hast Du die Göttin der Schönheit gemacht? . . . Verzeih mir den Ausfall! Mir thut's weh, wenn nahestehende Menschen sich so absolut nicht verstehen.

Also weiter im Text! – Da Rom mich zu sehr anregt, beschloß ich, mich von irgend einem närrischen Zufall führen zu lassen. Uebrigens mit überschwenglichen Zukunftsphantasien passierte ich nicht gerade den Gotthard. Ich reiste wie gewöhnlich in der Nacht und war bis Arth in meinem Coupé erster allein. Draußen niedrig ziehende Regenwolken, ein blasser Mond. Das Coupé überheizt, mit den gemeinen Polstergerüchen und der stagnierenden Kohlenstaubatmosphäre. Mein Collie saß natürlich neben mir, Kopf auf meinem Knie. Wenn ich mich nicht rühre, das Tier hält's vierundzwanzig Stunden in der Stellung aus. Tip ist mein bester Freund, den ich überallhin mitnehmen muß, weil er bei Fremden verhungern würde. An einen Versuch derart denke ich noch mit Schrecken. Ja, unter den Hunden giebt's noch Charaktere! . . . Wir waren beide trübsinnig. Er guckte mich an, ich guckte ihn an: Wozu der Unsinn des Reisens? – Ich bin noch nie so ohne einen Schimmer von Illusion gen Süden gefahren. Sonst hatte man doch noch manchmal das Vorgefühl von reizenden Abenteuern, denen man entgegeneilte, von fabelhaften Möglichkeiten in Glück oder Unglück. Tempi passati!! An diesem 21. November wußte ich ganz genau, daß ich keinem Schicksal entgegenfuhr.

Natürlich ausgerechnet gegen elf Uhr, wo ich mich eben zu einem Schlaf zu strecken gedachte, draußen Gezänk zwischen Schaffner und Passagieren, darauf widerwilliges Oeffnen der Coupéthür. Zuerst klettert ein dicker alter Kerl 'rauf, der getupften Nase nach so besserer Spekulant aus den Gründerjahren. »Guten Abend« – »Bon soir« – »Hm! . . .« Nun die Gattin, Maurerpolierstochter mit gemeinen Füßen. Weiter die Tochter, hübsches Mädchen – höhere Töchterschule, seidene Unterröcke, gute Partie für skrupellose Kavallerieleutnants fern von Berlin. Darauf noch ein alter Kerl, vielleicht Gymnasialprofessor. Als Nachhut eine alte Jungfer mit Goldbrille – die sich mir natürlich gegenübersetzen muß. Noch einige Male »Guten Abend« – konsequentes »Bon soir« meinerseits, also Erbfeind. In die Konversation, die jetzt begann, wurde ich nicht gezogen. Lehne mich blinzelnd in meine Ecke, froh, daß niemand an meiner Hundebegleitung Anstoß zu nehmen wagt, vermutlich aus mangelndem Französisch. Halb im Dusel höre ich noch, wie der Häuserspekulant mit den beiden fremden Coupégenossen irgend ein Kunstgespräch anschneidet – aber glücklos. Jetzt ein halblautes Zwiegespräch zwischen Vater und Tochter:

Er: »Nein, liebes Klärchen, ich kann an so was keinen Geschmack finden. Ich verlange was Heiteres oder Erhebendes . . .«

Sie: »Aber Papa, schön war es doch, sehr schön! Und der Professor hat ja auch gesagt . . .«

Ich bin recht müde, bei dem Berliner Jargon nick' ich ein wie nach einem Schlafpulver.

Plötzlich fahre ich leicht zusammen, bin ganz wach.

»Rolf von den Raben, sonst genannt Freiherr zu North. – So heißt er mit seinem vollen Namen, Klärchen.« Das sagt der Spekulant und diesmal ganz laut für das ganze Coupé. »Ich war doch mit ihm vor drei Jahren in Nizza zusammen – ein unangenehm reservierter Mensch! Schlanke Mittelfigur, sehr brünett und ein häßliches, nichtssagendes Gesicht, auch mit einem ausgesprochen unangenehmen Zuge drin. Die andern Leute wollen jetzt behaupten, es wäre ein Kopf, den man doch nicht leicht vergäße. Na, ich sah ihn auch gleich wieder vor mir, als der Professor uns das Bild erklärte. Mein Geschmack ist, wie gesagt, ›Die Liebe‹ nicht. Und ihn mocht' ich erst recht nicht. So 'n hochmüt'ger Bengel! Und dabei keine Spur von Künstler. Wenn du ihn so siehst oder sprechen hörst – der richt'ge blasierte Leutnant, einer, der mit dem Monocle ins Bett geht. Verrückt ist er auch ein bißchen und reist immer mit so einer großen schwarzen ›Töle‹ – sei froh, daß du ihn nicht kennst! Ich hab' ihn öfters mal ins Gespräch gezogen, damals – er ist ein Laffe, wie er im Buch steht . . .«

»Aber ich möchte ihn doch ganz gern kennen lernen, Papa!« seufzt Klärchen spitz. »Es wäre doch nett, wenn man im Kränzchen erzählen könnte: Ich war einen ganzen Winter an der Riviera mit dem berühmten Baron von den Raben zusammen. Und wie der mir die Cour gemacht hat! . . .«

Der Vater belächelt sein enfant terrible von Tochter, das gar nicht mal so übel ist. Das liebe Kind ahnt nicht, wie nah ihr das Glück. Solche Dialoge machen Scherz – was? Und nicht mal schlecht gezeichnet. Ich kann mich des alten Kerls absolut nicht erinnern! An der Riviera giebt's so viel deutsche Budikerseelen mit und ohne Schnapsnase, daß ich ihn als Nebenmann an der Table d'hôte sehr wohl einmal schlecht behandelt haben könnte. Aber daß mich der Kerl nicht wiedererkennt, wo doch Hund und Monocle so auffällig stimmen. Ich mag ihn wohl durch das bon soir kopfscheu gemacht haben – für lästige Landsleute im Auslande bewährte es sich mir schon oft als probates Mittel. Es kommt übrigens noch »döller«. Wir fahren gerade durch einen Tunnel, wo das Sausen des Zuges das Wort verschlingt und der ins Coupé dringende Qualm die eingenickte Spekulantengattin zum Husten zwingt.

Draußen begann das liebe Klärchen wieder: »Meinst du, Papa, ob der Baron sehr glücklich sein mag? . . . Künstler, berühmt, und außerdem Baron – das denk' ich mir wundervoll! Wer da nicht glücklich sein wollte, der wäre doch sehr undankbar.«

»Fatzken sind immer glücklich!« entscheidet knurrend der Alte, der mich entschieden nicht liebt.

Da richtet sich plötzlich mein Gegenüber, die alte Jungfer, auf – ihre Brillengläser blinkten mich schon lange feindlich an, so daß ich ein Erkennen fürchtete. Und wie man sich in den Menschen täuscht! Sie sagt ganz aufgeregt: »Nein, der Maler, von dem Sie sprechen, kann nicht glücklich sein!«

Darauf der Spekulant bramsig: »Wieso? Ich kenne den Herrn sehr genau.«

»Ich kenne ihn nicht, und ich möcht' ihn nicht mal kennen. Aber mag er auch hundertmal so aussehen, wie Sie ihn schildern – innerlich ist er ganz anders. Er ist einer der unglücklichsten Menschen, die leben – das steht mir fest. Kennen Sie sein Bild ›Die Liebe‹ überhaupt genauer? Haben Sie auch nur fünf Minuten einmal den sterbenden Mann angesehen, über den diese wunderbare Frauengestalt lächelnd schreitet? Und da hat Ihnen nicht gegraut? . . . Nun, mir hat gegraut und vielen mit mir! Wer die Liebe so malen konnte, der muß sie auch einmal so unsagbar schwer empfunden haben wie dieser Sterbende da. Das mag vielleicht lange her sein. Dieser Herr von den Raben mag sich durchgekämpft haben – aber er glücklich? – undenkbar! Ich habe nächtelang nicht schlafen können, weil mich dieser brechende Blick verfolgte – und ich hasse die Frau, die mit diesem holdseligen Lächeln gerade über diesen Mann schreiten kann. Der Sterbende ist er . . . und die Frau . . . ich die Frau . . .«

Es war doch wahrhaftig eine Scene, auf die der Künstler stolz sein könnte. Wenn ein Bild selbst diese hysterische alte Jungfer so mächtig packt. Ich erlebte Aehnliches wohl schon. Ich sah vor meinem Bilde in einem schönen Frauenauge eine große, echte Thräne glänzen – und einen Mann, die Zähne fest zusammengebissen, hinstarren, als wollte er sagen: »Das ist ja mein eigen Schicksal« . . . Aber daß es mein eigen Schicksal sein sollte? Unbegreiflich!

Ich kann nicht einschlafen, wie es die andern um mich her thun. Mich flieht der Schlaf, weil eine brennende Scham mein ewig blasses Gesicht deckt. Ich schäme mich, Gert! Was für ein Schauspieler im innersten Kern meines Wesens muß ich doch sein! . . . Hier sterbe ich an der Liebe – und ich kannte sie doch nie! . . . Mit heißen Sinnen und eiskaltem Herzen die Frauen zu bethören und die mich liebten, fast zu Tode zu quälen: in dem Metier stehe ich meinen Mann. Wenn ich merke, daß die Frauen meine Neigung ernst nehmen, stoßen sie mich schon ab. Die Liebe ist mir eine Episode, der flüchtige Augenblicksrausch, nach dem man sich thörichterweise von Zeit zu Zeit wieder sehnt, obgleich das Dauernde dabei nur der Katzenjammer danach ist. Dabei habe ich die Frauen nötig, ich würde verschmachten ohne sie. Tötet die Männer sämtlich (Dich ausgenommen, Gert), aber laßt mir die Frauen! Und dabei – ich schreibe das natürlich nur Dir – ist mir das leichte Genre das begehrenswerteste – das naschende, zwitschernde Volk mit buntem Gefieder, das man die Pflicht hat zu betrügen, weil es einen sonst betrügen würde. Aber gerade bei denen habe ich kein rechtes Glück; die durchschauen mich gleich oder fürchten mich. Die verabscheuen ihresgleichen aus Instinkt, die wollen den Gimpel oder den Verbrecher. Kleine Gefühle betrog ich nie – aber in den echten habe ich gewüstet . . . die Frauen, denen man Seele und Seligkeit nimmt, langsam, zielbewußt, mit erlogenem Gefühl. Die großen Verführer waren immer herzenskalt. Und die Unglücklichen, die bei mir den Augenblick überdauern wollten, gläubig, selbstlos, – denen sagte ich ein freundliches Aufwiedersehen und kannte sie nicht mehr. Es giebt viele Frauen, die mich hassen, andre lieben mich noch immer, – von zweien weiß ich's gewiß. Das ist eine schreckliche Beichte. Aber wer kann gegen sich selbst? Ich leide ja allein an diesem Genuß ohne Genuß. Wer wünschte sich nicht ein großes Gefühl, an dem er meinetwegen zu Grunde geht, das ihn aber doch wenigstens einmal hoch über das ganze Gesindel hob! Ich habe keine Ahnung, wie so ein Gefühl aussehen mag. Wer sich aus Liebe abmurkst, den muß ich meiner Natur nach für verrückt oder dumm halten . . . Und wenn Du auch höchst weise dagegen sagst: »Kommst auch noch an die Kost, lieber Rolf!« – so antworte ich Dir: »Niemals! Wer so früh anfing, seine Gefühle zu verzetteln, und darin getreulich fortfuhr, auch bei der Orgie noch ein Weiser, den könnte als kindischen Greis wohl die Liebe überkommen wie eine Alterskrankheit, oder die Phantasie gaukelt dem Ohnmächtigen ein wunderbares Bild vor – aber die große, echte, die immer Verschwendung ist –nein, die nicht!« . . . Mein lieber frère, dem miserablen Souper dieses Junggesellen hier werden die Frauen sicher nicht fehlen, die Liebe jedoch ganz gewiß.

Ich schweife ab, wie ich es in jener schlaflosen Nacht im Gotthardzuge auch versuchte. Trotzdem der Verständige darüber lachen muß . . . mir wurde allmählich klar, warum meine Nerven während des Malens bis zum Zerreißen gespannt waren und jede feinste Berührung mein ganzes Selbst durchzitterte. Das war nicht die Idee, nicht der große Wurf, der mit der Ausführung rang – nein, es war mit dem Moment etwas Fremdes, Feindliches in mein Leben getreten; vielleicht hatte mir die Tiberluft ein Gift zugeweht, das der Körper im Fieber ausstoßen wollte und in vergeblichem Bemühen gerade bis in die kleinsten Blutgefäße trieb . . . Nervenkrank war ich wohl schon lange . . . Aber wie kam gerade ich auf die tolle Idee, die Liebe malen zu wollen, ich, dessen Stärke stets die unheimlich scharfe Charakteristik war, aber niemals das Gefühl? Laß ein wunderbares Geschöpf vor mir hergehen – den geringsten Fehler der Form, die unschöne Linie oder was in der Bewegung nicht paßt, das seh' ich unfehlbar, das Ganze aber nehme ich nur langsam auf, fast widerwillig.

. . . Wie Du mich ja kennst, Gert, . . . den absurdesten Gedanken, der mir anfliegt, setze ich durch mit einem Riesenfleiß, während ich bei einem vernünftigen längst erlahmt wäre.

Der Einfall mit dem Sterbenden und der Frau, die über ihn schreitet, auf den kamen schon tausend vor mir . . . Ich kam im Vatikan darauf, angesichts der Fresken Pinturicchios. In den Prunkgemächern der Borgias sieht eine geschäftige Phantasie leicht Sterbende . . . in der Burg des Papsttums weht eine beklemmende Luft auch heute. Und da huscht's mir vorüber: die schöne, blonde Lucrezia, über den Leichnam des Herzogs von Pesaro schreitend. Sie schritt sicher nie darüber, sie tanzte lieber vor ihrem Vater Alexander – aber das Lucrezia-Lächeln dieser Frau, ein Lächeln – süß, jungfräulich, in dem sich die abgrundtiefe Verdorbenheit der Zeit so dämonisch spiegelt, – das war der Clou meines Bildes, das brauchte ich für meine »Liebe« . . . Wer das Bild sah, das mir damals noch undeutlich vorschwebte, dem sollte ein Schauder über den Leib laufen, nicht vor dem Sterbenden etwa, sondern vor dem wunderbar seelenlosen Lächeln dieser Glücklichen . . . Ich schaffe sehr mühsam. Die Gestalten formen sich mir langsam. Es ist immer ein qualvolles Ringen mit dem Gedanken, bei dem ich hundertmal müde werde und doch stiernackig immer wieder beginne. Das Bild muß vor mir stehen, fest, unverrückbar, wenn ich den Pinsel in die Hand nehme. Klänge freilich genialer, zu sagen: »Wenn ich so in der Campagna 'rumbummele, immer den alten Sankt Peter am Horizonte, so weit man auch sein mag, – da umspielen mich die Ideen wie die Moskitos, und den dicksten greif' ich mir behaglich heraus und mach' ihn andern Tages auf der Leinwand dingfest« . . . Statt dessen schlendere ich in Wahrheit wochenlang durch die engen Straßen Roms, froh, eine einzige Idee zu haben, und die knet' ich mir zurecht, bis sie Form gewinnt, und hauche ihr Leben ein, bis ich jede kleinste Muskel spielen sehe, das Blut unter der Haut schimmern und das leiseste Zucken der Lippen . . . Denn für mich heißt mein Handwerk Arbeit, schwere, nervenzerrüttende Arbeit – und wer meine Glätte lobt, die Technik hervorstechend, schon als ich begann, der will meinem Talent ein Kompliment machen und macht's nur meinem heißen Bemühen.

Ich galt auch Dir früher sicher als genüßlicher Müßiggänger, bis andre gute Leute auf einmal erkannten, daß ich ein zielbewußter Bummler war, der unheimlich scharf sah und zuweilen auch dachte. Aber während ich die »Liebe« malte, da sah ich nichts außer mir, da hatte ich die Augen nach innen. Wenn ich so bei Aragno im Hinterzimmer meinen punch brûlé schlürfte zwischen all den deutschen Zeitungstigern, oder wenn ich ein halbes Dutzend Mal den Korso maß zur Müßiggängerstunde . . . Ich brauchte das Massengewirr um mich her, das dumpfe Rollen der Karossen, den verschwommenen Stimmenlaut, aber nur um meine Nerven zu kitzeln; ich brauchte auch alles, was meine Augen sahen, zu diesem Nervenreiz, so gut wie Gaumen und Nase . . . Sieh mal, Gert, ich habe mit der »Liebe« gerungen, verbissen, verzweifelt, wie ich noch nie mit einer Idee rang. Und unbegreiflich! – in der Renaissance sollte mein Bild wurzeln, in einer wunderbar nerven- und gewissenlosen Zeit, wo überall die Dolchklinge durchfunkelt, in den lichten Augen Lucrezias auch . . . Es wurde aber etwas ganz andres draus! Ich habe die Liebe malen wollen als das, was sie für mich war: eine Blasphemie – und ich habe sie gemalt als das, was sie allen ist. Ich that das als ein Schurke, der mit dem Heiligsten spielt . . . Ja, ja, mein Lieber, die Leute haben recht: so ist die Liebe, so muß sie sein, so schreitet sie über einen Sterbenden hinweg, sie selbst eine Sterbende. Löse mir das Rätsel, wie ich tastend aus zwanzig Modellen die Liebe zusammensuchte – und sie fand? Sieh Dir das Bild selbst an und wiederhole meine Worte: »Ich weiß ja gar nicht, was die Liebe ist!«

Meine Nerven sind 'runter. Das wußte ich auch damals und fragte mich, stutzig geworden, fast geängstigt: Was ist das für ein Widerspiel zwischen Sein und Schein in deiner Kunst? . . .

Ich war froh, daß die im Coupé schliefen und mich niemand beobachtete als der alte Mond, der über die Bergkolosse des Gotthard mit so fahlem Schimmer dahinglitt, daß die Schneehäupter wie riesige Leichensteine emporstarrten aus tiefen Schatten und das Rauschen der Reuß unten sich zu einem Trauerchoral mit dem stampfenden Dröhnen des Zuges mischte. Es war doch eine wunderbare Stimmung über der Alpenwelt – so dunstig, zitternd, feucht. Der Mond ist ein Totengräber, – aber die schwarzen Schatten des Todes verblassen in seinem milden Lichte. Ich liebe den Mond von Zeit zu Zeit, weil er so eine Kirchhofstimmung über die schlafende Welt gießt . . . man möchte manchmal glauben, wenn man's nicht schon lange verlernt hätte . . . In jener Nacht hätte ich beinah wieder damit angefangen – die stummen, starren, weißen Riesen sahen mich so eigen an. Wenn man vielleicht einmal vor ihnen kniete und betete aus gläubigem Herzen – ob man sie wohl versetzen könnte? . . . Was ist eigentlich das Mächtigere auf dieser Welt? Der Glaube oder die Liebe? . . . Ich bin jetzt im Fahrwasser, ich könnte den Glauben malen als einen Menschen, der unten im Thal in einer Mondnacht im Staube liegt und fleht, die firnumleuchteten Mächtigen möchten seinem Glauben sich beugen. Pygmäenwunsch! Und doch sollte man über ihn nicht lächeln . . . Vielleicht erhält er die Welt, dieser Glaube.

Vielleicht möchte ich wirklich den Glauben malen . . . Nein, an einer Blasphemie ist's genug. Ich kenne weder den Glauben noch die Liebe.

Du siehst, mein lieber Gert, daß die Religiosität der Sterbenden mich zu umspinnen droht. Ein schlimmes Zeichen? Unsinn! Dieser endlose Brief, den Du mit Recht für ein Wunder halten mußt, ist ein weit schlimmeres. Wenn bei Leuten wie mir sich das sogenannte Gemüt regt . . . Wie übrigens die Welt ist – schlummerte ich kurz vor der Grenze ein, und die andern erwachten.

Chiasso! Zollrevision! – Ich stieg aus mit dem Gefühl eines Jungvermählten, übernächtig, verärgert. Die ganze Welt erschien mir so fade, das Gefühl vorhin so blödsinnig, daß ich als einzige Realitäten nur die schmutzige Bahnhofshalle in dem grauen Lichte eines nebligen Wintermorgens anerkannte und allenfalls noch mich mitten drin unter dem Reisepack mit Monocle und Hund, den charakteristischen Enblemen des alten Adels, also ein sehr überflüssiges Möbel der Schöpfung. In dem muffigen Saale der Dogana führte mich der Zufall neben die alte Jungfer. Ihr Gepäck wurde zuerst gebracht – ich half ihr die Riemen lösen . . . und sie, vielleicht verwundert über diese selbstverständliche Höflichkeit eines Ausländers, dankte überflüssig warm in gutem Französisch. Da trieb mich der Teufel zu sagen: »Gnädiges Fräulein sind im Irrtum. Ich bin vom Scheitel bis zur Sohle Deutscher, sogar Preuße.«

»Ach, Verzeihung . . .«

Dann wechselten wir ein paar Reiseredensarten. »Sie wollen nach Nizza, mein Herr?«

»Vielleicht. Und gnädiges Fräulein?«

»Es ist ein neuer Kurort an der Riviera di Levante . . . Ihnen sicher unbekannt.«

»O, im Gegenteil. Ich habe sogar im Augenblick an dies Nest gedacht. Es liegt unvergleichlich.«

»Merkwürdig . . . Für Vergnügungsreisende bietet es doch eigentlich gar nichts . . .«

Merkst Du was, Gert? Nicht der Bauspekulant allein hielt mich für einen Fatzken . . . Da kommt auch noch zum Unglück mein Kofferungetüm. Daß R. v. d. Raben groß und breit darauf gemalt ist – wer denkt daran! . . . Mir war die Situation scheußlich. Natürlich muß auch im Augenblick die Dame hinsehen, erkennen. Ich drehe mich nach der andern Seite. Aber in solch peinlichen Momenten fühlt man alles. Ich fühle, daß sie langsam einen Schritt von mir wegtritt, mich scheu ansieht. Rot mag sie auch geworden sein. Nach einer in die Länge gezogenen Auseinandersetzung mit meinem Douanier wegen des Handgepäcks schiele ich endlich vorsichtig herüber. Sie geht eben, und mit abgewandtem Kopfe streicht sie noch meinem Collie liebevoll über das lange Fell. Ich werde die alte Jungfer in meinem Leben kaum wiedersehen. Und weißt Du, daß mich diese lächerliche Episode gerührt hat? Meinen Hund streichelt sie verstohlen – und meinte eigentlich mich. So etwas können nur Frauen, wie eben nur Frauen das echte Mitleid kennen und nur weibliche Menschen, wie ich an diesem Morgen, sie verstehen. Sie mochte denken: Du armer Unglücklicher! – Und ich schäme mich wieder. Ich hatte übrigens wirklich dran gedacht, nach dem kleinen Rivierabade zu gehen, das sie nannte. Jetzt werde ich mich hüten. Wir würden in demselben Hotel wohnen, uns täglich sehen, und eines Tages würde sie doch sagen: »Kann ich denn gar nichts für Sie thun, Sie lebendiger Toter?« – Und darauf müßte ich ihr doch ehrlich antworten: »Meine Gnädigste, das Leben ist eine Schaubude und die Kunst eine Farce, die man mit mehr oder weniger gut ausstaffierten Marionetten vorführt, und einer, der auch mit am Puppendraht zieht, bin ich!« – Das schmerzliche Erröten über diese Wahrheit möchte ich uns beiden ersparen.

Hältst Du, mein weiser Bruder, solche Begegnungen für Komödiantentricks des Schicksals, das einem durch so etwas die Marschroute vorschreibt? Als früherer passionierter Weidmann werde ich natürlich stutzig, wenn einem zweimal ein altes Weib über den Weg läuft. In Bezug auf das Schicksal bin ich aber andrer Ansicht als viele. Giebt's eins – was ich an einem Frühmorgen von vornherein bezweifle –, so ist einem das Handwerkszeug zu Glück oder Unglück schon mit in die Wiege gelegt mit der Weisung: Wiss' dich! – Wer wie ich einem alten Weibe aus Gemüt oder Aberglauben ausweicht, der macht nicht allein keinen Umweg, sondern er läuft dem Schicksal nur direkter in den Rachen. Also vogue la galère!

In Genua schimmerte das Meer so grau und trübe, die Brandungswelle schwappte so matt auf den Fels, daß ich dem Süden bedeutend weiter entgegenfuhr. Jetzt bin ich hier, das heißt irgendwo. Die typische Rivierabucht – das typische Rivierahotel . . . ich habe so ziemlich alle Nester an der Alpen- und an der Apenninenküste abgegrast. Der Unterschied ist nur im Intimen. Sonst ist das Meer überall im Licht blau, und die Küste leuchtet weiß; die Männer schinden Maultiere und Pferde, die Kinder betteln um palankas, die Frauen klatschen oder beten.

Ich suche Einsamkeit und Arbeit, um abwechselnd das eine mit dem andern zu töten. Und wie lange ich ohne Menschen aushalte, ahne ich noch nicht. Eigentlich habe ich die Menschen bloß nötig, um sie zu verhöhnen oder um sie zu verachten. Aber nötig habe ich sie leider von Zeit zu Zeit. Hier werde ich sie kaum finden. Es sind alles Engländer mit verschwindenden Ausnahmen – und ich hasse die Sprache und das Volk. Das ist das Erbteil Ostelbiens. Wir vom Lande gravitieren doch alle mehr nach Rußland, selbst wenn man, wie Dein Bruder Rolf, schon manches Jahr ohne Genuß und Ziel die Welt durchstreifte. Den Abscheu vor dem Handel und dem daraus erworbenen Reichtum werden wir uns ewig bewahren. Feudal sind wir Rabens, obgleich wir zu Feudalität gar kein Recht haben, speziell ich. Denn zu Hause bei Euch ärgere ich mich über den engen Horizont meiner soi-disant Standesgenossen: bunter Rock, Judenhetze und zwischen der angestammten Dynastie Hohenzollern und der wild aufgeschossenen Bismarck vorsichtig geteilte Gefühle, je nach den Getreidepreisen oder dem Sohn in der Armee. Draußen ärgere ich mich über den zu weiten Horizont, den internationalen Hauch und das verlorene Prestige. In meinen Gewohnheiten hat sonst Westeuropa schon stark abgefärbt: Ich liebe die englischen Anzüge, die englische Eßstunde. Zusammen mit der Bande esse ich aber hier an der Table d'hôte natürlich nicht. Einem Rolf von den Raben gebührt der kleine Separattisch. Essen war bei mir immer miserabel. Trinken vorzüglich. Und von meiner einsamen Warte sehe ich dann mit diabolischer Freude an der Table d'hôte die Wassergläser sich unaufhörlich leeren und füllen. Die Wirte ertragen's ja, und die Kellner die Trinkgeldlosigkeit auch. Sonst herrscht verständig die Gabel, mit der wunderbarerweise die freien Briten nicht die Suppe essen, sondern nur die Kompottsauce. Dazu eine quakende Einsilbigkeit, die niemand verführt, den Nachtisch lange auszudehnen. – Ich grüße niemanden, weil ich keine Bekanntschaften zu machen wünsche. Am Tage streife ich in den Bergen umher. Schönes Wetter. Wenn so die Sonne auf dem grauen Olivenlaub stumpf glänzt und die Nadeln der Pinien ganz dunkel starren, und tief unten das glitzernde, blaue Meer, an dessen hellem Felsstrand die weiße Schaumschlange munter entlang gleitet . . . Daß dieses Meer auch zürnen kann, wer ahnt das? – Abends bin ich immer auf meinem Zimmer.

Ich möchte Dich gern hier haben, Gert. Wir verstehen uns so gut . . . Ich würde dann auch weniger sinnieren und weniger Regiezigarren rauchen und weniger parfümierten Asti trinken. Lebte ich lange so intensiv im Zeichen dieses Dreigestirns, so nähm's kein gutes Ende. Darum schreibe ich Dir so ausführlich, als wenn Du sogenannte Malerbriefe später veröffentlichen wolltest. Heb sie darum hübsch auf, – denn von der Sorte giebt's wahrscheinlich nicht viel, und die sentimentale Manie, wie ein altes Weib auf Holzfaserpapier Stimmungen zu fixieren, hält schwerlich an. –

Am heiligen Abend hatten sie unten im Salon ein Fest. Beschenkte Kinder – Predigt – Singsang . . . Die Weihnachtsgefühle habe ich mir als Andenken besserer Tage noch sehr frisch erhalten, aber in der Fremde machen sie mich zum Einsamen.

Ich bekam Heimweh, echtes Heimweh . . . Darin bin ich Deutscher durchaus, und vielleicht ist's gut. Die heilige Nacht war hier eine Frühlingsnacht, lau, stumm. Aus dem offenen Salonfenster glitzerte der Tannenbaum. Ich ging mit meiner tunesischen Reisedecke ans Meer. Es ist weit. Das war mir gerade recht. Und endlich war ich mutterseelenallein auf meinem Riff, das zerklüftet und ausgewaschen weit vorspringt in die See. Manchmal schlägt die Brandung schäumend über ihm zusammen. Heute war das Wasser ruhig, schwarz, nur ein unhörbares Nagen am Stein. Am Himmel ein einziger, unsicher flimmernder Stern, in der Ferne der neblige Riesenumriß eines Kaps, sonst die schwere Stille einer mondlosen Nacht.

Ich hatte mich in meine Decke gewickelt und träumte. Ich träumte von Deutschland und von Dir. Ich stand in einer schneeleuchtenden Christnacht an dem Fenster Deines Herrenhauses und schaute hinein. Deine kleinen Bälger spielten um den brennenden Baum, das Kaminfeuer prasselte. Deine Frau sah ich auch. Du standest etwas abseits, lächelnd – wehmütig lächelnd. Du dachtest an mich . . . Ach, was hab' ich Euch doch von Herzen lieb, mein alter Gert, Dich und die Heimat! Du weißt, warum ich sie meide. Wir hatten uns als Junggesellen das ganz anders ausgemalt . . . Ja, das Leben hat mir noch alles gegeben, was ich wünschte – aber immer einen Posttag zu spät. Thut das die Vorsehung mit Absicht, oder liegt das in mir selbst? . . . Ich selbst sollte an Wunder glauben. Wie oft stand ich nicht vor einer Felswand und kratzte mir stöhnend die Nägel blutig am nackten Gestein – sie kann sich nicht aufthun! – und sie that sich doch auf, im Augenblick, wo ich's am wenigsten meinte . . . Ich war noch nie so weich gestimmt wie heute.

Und wie dem Friedländer vor Lützen, so zog mein Leben an mir vorüber. Ich bin ein Undankbarer. Es war doch eine schöne Jugend, und wir hatten gute Eltern. Heute weiß ich's, damals murrte ich nur . . . Warum brachte man mich übrigens so früh in die Pension? Um die Jugendsünden zu lernen und das Heimweh? Jedes Kind meiner Art in der Fremde denkt, es sei am unglücklichsten. Aber wenn man auch das Heimweh hatte, man hatte doch auch wenigstens noch die Heimat, das Zuhause. Wenn ich denke, wie ich die Tage zählte und die Stunden, bis der Zug fuhr! Das war doch eigentlich das Schönste von den Ferien, dieses herzklopfende Hoffen. Wenn man erst drin saß im Train, dann dachte man mit Grauen schon an die Pension, an die Schule, an die Ferienarbeiten; die Freude war einem vergällt durch den Gedanken: es ist ja so bald vorüber . . . Ich würde meinen Sohn doch anders erziehen . . . Die Eltern meinten es ja gewiß gut, daß sie Dir einen Hauslehrer mit der Fuchtel setzten und mich wegschickten, weil ich bald ein Bengel und bald ein Träumer war. Es wurde ihnen selbst schwer genug. Aber der Landgraf sollte unter allen Umständen hart werden! Er wurde auch hart, das heißt, er wurde verschlossen. Aber die stille Kinderfröhlichkeit ging dabei verloren; er lernte nur in der Zukunft leben, das gab ihm die Gegenwart ohne Genuß. Die Jugendlust war bei mir immer ein unverständlich wilder Ausbruch, dem die Depression nur zu bald folgte . . . Nein, glücklich war ich nie! . . . Und doch glücklicher als heute. In dem grauen Lebenswege waren wenigstens überall kleine Lichter aufgesteckt, die man immer größer sah, als sie waren, und die einen enttäuschten und erfreuten zugleich . . . Erst jammerte ich heimlich nach Dir, Gert, dann prügelten wir uns zum Wiedersehn. Nach meiner Mutter sehnte ich mich kindisch – und doch verbitterte sie mir die Ferien am meisten mit fehlenden Taschentüchern und Schularbeiten und düsteren Prophezeiungen wegen meiner Faulheit. Und im Examen ging ich, der Outsider, doch glatt an dem heißesten Favoriten vorüber durchs Ziel. Wenn es drauf ankam, lag keiner so gut im Rennen unter der Peitsche als ich . . . Den Vater kannten wir doch eigentlich wenig; er war wohl die weichere Natur. Und wehmütig bleibt's mir doch, daß er gerade sterben mußte, als er mir bis Berlin entgegenfuhr, um den Sekundaner zum erstenmal in die erlaubte Kneipe zu führen mit dem erlaubten Schnitt Bier und der erlaubten Zigarre. Seitdem habe ich genug getrunken und genug geraucht . . . Und das Bier schmeckt mir eigentlich in Italien nur, weil es zwei Franken per Flasche kostet. Der Schnitt Bier damals, der hätte anders geschmeckt . . .

Aber in den bunten Rock hättet Ihr mich nicht stecken sollen! Der Mutter erschien's eben undenkbar, daß ihr jüngster Sohn ohne Sporen und Säbel durchs Dasein gehen könnte. Jetzt thue ich's mit dem Malkasten, und es geht auch. Nein, Rolf von den Raben, der höchstens unwillig befehlen kann, aber nie willig gehorchen, den hättet Ihr laufen lassen sollen, wie er wollte. Keine Angst vor dem Herabgleiten! Außer Dir sah ich nie einen Menschen als ebenbürtiges Geschöpf an – das ist eine gute Schutzwehr gegen den Sumpf. Trotzdem wäre ich in des Königs Rock verkommen oder verkümmert. Ich mußte 'raus, wenn auch zwangsweise nach einer Riesendummheit. Die Mutter war ja schon lange tot, wenn man will, glücklicherweise. Denn jetzt fingst Du meine Erziehung an, das heißt, Du ließt mich unter die echten Müßiggänger gehn, reisen, verschwenden. Leute meines Alters erzieht man eben nicht mehr. Und was bei allen andern falsch gewesen wäre, bei mir war's richtig. Wer malen will, der muß auch sehen gelernt haben. Das ist niemals verlorene Zeit. Hinter Deinem Rücken wurde freilich weidlich über Deine Verblendung geschimpft. Aber wenn Dir jemand zu sagen gewagt hätte: »Na, hören Sie mal, mit Ihrem Herrn Bruder wird das wohl nicht viel?« Du, der Du sonst aus Anlage auf Formen hältst, wärst ihm direkt ins Gesicht gesprungen: »Herr, sind Sie denn ganz des Deuwels?«

Jetzt wären wir so weit, die Leute schweigen, nicht weil ihnen das Talent, sondern weil ihnen die Einnahmen imponieren. Ich habe endlich den Beruf, für den ich geboren, ich bin vielleicht der letzte und vielleicht der einzig Berühmte (?) meines Namens! . . . Ja, Gert, wer für den Strick geboren ist, der ertrinkt nicht, und wer die Heimatlosigkeit mit in die Wiege bekommen hat, dem ist der Beruf nur eine Betäubung und die Arbeit auch und der Ruhm auch. Ich fresse die drei Dinge in mich hinein wie verständige Leute Morphium. Was fehlt mir? Warum liege ich, dessen Ruhm schwillt wie ein Geschwür, auf einer Klippe im Mittelmeer in der heiligen Nacht und stöhne vor unbestimmtem Weh? . . .

Ich muß doch wieder an die »Liebe« denken. Was ich da gab, ohne es geben zu können, das habe ich bitter nötig: ein großes Gefühl. Doch dieser Krater ist so ausgebrannt, daß nur ein Wunder ihn mit neuen glühenden Lavaströmen füllen könnte. Vielleicht haben wir beide uns zu viel Zuneigung gegeben. Zwischen Dich und Deine Frau stellte immer ich mich. Gert, lieber Gert, ich bin Egoist und betrachte es als mein einziges Glück, daß sich dieses Gefühl zwischen Euch beide stellt. Wo bliebe ich sonst? . . . Im Auge habe ich stets das Monocle, und um die Nasenflügel zittert die ungemessene Arroganz. Mein Inneres weiß von beiden wenig. Bei mir sucht niemand die Herzensgüte – und ich habe sie doch. Mein Tip, der vernünftig und still wie immer neben mir sitzt und wartet, ist andrer Ansicht. Du und dieser Hund, ihr kennt mich eben allein!

Ich stehe auf, zu gehen. Es weht, die Brandungswelle schwillt, vielleicht morgen schon stürzt sie in wilder Woge über das Riff. Ach Gott, wenn mich doch wirklich einmal ein großes Gefühl so überflutete, tosend, wogend, über mir zusammenschlagend wie der weiße Brandungsgischt! Ich will ja gerne darin umkommen – aber ich will's haben.

Es war nach Mitternacht, als ich ins Hotel kam. Alles öde, schlafend. Im Vorraum nur der alte, eingenickte Portier. Vor ihm liegt ein Brief. In vager Neugier studiere ich die Adresse, ehe ich den Schnarchenden wecke:

. . . A la duchesse de Lièges          
          née princesse de Bragan.

Es ist ein vornehmes, steifes Couvert auch ohne das bunte Wappen mit dem Fürstenhut, das auf der Rückseite eingepreßt ist. Mir gänzlich unbekannte Geschlechter. Wohl Nordfranzosen oder Belgier. Du siehst aber, daß es hier noch vornehmere Gesellschaft giebt als Deinen farbenklecksenden Bruder. Und das wird wohl eine abgebrauchte Pariserin sein mit bewegter Jugend oder eine Degenerierte mit englischen Sommersprossen. Alt, jung, was interessiert es mich? . . . Aus den Regionen strömt sicher nicht die Brandungswoge, die über dem Ertrinkenden zusammenstürzt . . . Fröhliches Neujahr.

N.B. Der Unsinn ist etwa nicht in einer Nacht geschrieben. Es sind die weisen Gedanken einer ganzen Weihnachtswoche. Im übrigen die alte Abmachung: Deiner Frau meine verbindlichsten Empfehlungen, den Brief aber unbedingt nur für Dich . . . Lièges-Bragan. Schlag doch mal im »Gothaischen« nach, ob es diese erlauchten Fürstengeschlechter überhaupt giebt. Wenn's nur eine Hochstaplerin wäre? . . . Jedenfalls weißt Du nun, wie der Traum meines Herzens heißt.



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