Johannes Richard zur Megede
Félicie
Johannes Richard zur Megede

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Vierzehntes Kapitel.

Als das Telegramm kam – es war beim Diner, und die französische Unterhaltung floß gerade leicht, als könnte uns nie etwas trennen, weil uns nie etwas verband – zitterte Félicies Hand so stark, daß sie das Papier ungeöffnet neben den Teller legte. Nervenschwäche vor Dienstboten ist uns beiden gleich verhaßt. Erst beim Dinerkaffee, wo wir allein, las sie.

»Er kommt schon morgen,« sagt sie tonlos.

»Einmal muß er doch kommen!« antworte ich brüsk.

Dann schweigen wir. Wir sehen auf einmal die drei letzten Wochen in einem scharfen Licht wie eine Komödie des Glücks, wo ich der Schwache und sie die Großherzige. Vorüber! – Zu meiner Schande sei's gesagt, ich bin beinah froh, daß es vorüber ist.

Durch Félicies Herz fliegt ein stechender Schmerz. »Einmal im Leben hatte man das Glück . . . nun ist das auch dahin . . . das Leben ist hoffentlich auch bald zu Ende.«

Ich lache kurz auf.

Sie fährt ruhig fort: »Ich bete täglich um den Tod, um die Erlösung. Was hab' ich denn vom Dasein? Es ist eine Lüge, eine häßliche Lüge, wo ich lächeln muß, wo ich weinen müßte . . . Und wenn man noch lange lebte? – O, ich will nicht leben!« . . .

»Dann bete auch um meinen Tod, Félicie! Es wäre nur Barmherzigkeit. – Mein Gebet wird ja doch nicht erhört. Vielleicht ist deins stärker.«

»Lästern Sie nicht, mein Freund!«

»Lästere du nicht, Félicie!«

Wir schweigen wieder. Das weiche Acetylenlicht gießt seinen Dämmerglanz über den Saal, die heiligen Glasmalereien gleißen. Ich sehe stumm ins Leere – ihre großen Augen irren ängstlich. Wir suchen wohl beide nach einem Ausweg. Aber wir gehen beide an der einzigen Pforte vorbei. Wir wissen nicht, ob sie verschlossen; wir tippen nicht einmal mit ängstlichem Finger auf den Drücker. Im Leben giebt's hauptsächlich verschlossene Thüren, die der Mutige sprengt, an denen der Feige vorbeischleicht. Ich kann nun einmal der Frau nicht sagen: ›Entflieh! Es soll nicht mit mir sein, nicht zu mir – aber entflieh! Mach dich frei mit List oder mit Gewalt!‹ Ich weiß genau, daß sie, die mit diesem Entschluß schon oft im Leben gerungen haben muß, mir doch unfehlbar antworten würde: ›Ich kann nicht, ich darf nicht, ich habe Pflichten!‹ . . . Ihre Gründe dafür sind sicher stärker und mehr. Man hat eben nur einen einzigen Grund zur That. Zur Unterlassung findet jeder mehr und bessere, als der Meeressand Körner hat. Der Gedanke an die Flucht liegt doch schon zwischen uns, solange wir uns wirklich kennen, er schwebt vor uns, hinter uns, über uns – meinetwegen ein Schreckgespenst für den einen – für den andern eine Lichtgestalt. Aber er muß uns doch unaufhörlich umlauern, wenn wir nicht sündig spielende Kinder waren oder herzenskalte Genüßlinge des Augenblicks. So etwas wird nicht gesagt, weil es nicht gesagt zu werden braucht. Angetippt habe ich genug. Das Wort muß sie sagen, die so unvergleichlich viel mehr aufs Spiel setzt, und deren Gefühle die Kette der Tradition so schwer umklirrt. Und auch jetzt in dem Augenblick schwebt die Flucht mit dem dünnen Rauch der Zigarette zwischen uns. Und spräche ich das Wort, so würde sich das andre Herz gekränkt zusammenziehen, wehe Lippen würden flüstern: ›Ja, wenn du das von mir verlangst, so verstanden wir uns eben nie. Ich gebe dir doch das Menschenmögliche, ja das Unmögliche.‹ – Ich kann mich ja irren, ich schätze sie sicher nicht so hoch, als sie's verdient. Dennoch bringe ich's nicht über die Lippen. Soll ich abziehen wie ein begossener Pudel? – Denke dir, wenn sie es überhaupt nicht versteht, daß es Momente giebt, wo der gebrochene Eid Pflicht gegen sich, und der gehaltene Verbrechen auch gegen andre! Der Sturm liegt eben leider Gottes hinter uns. Es war vielleicht für mich nur der Sturm und für ihr Schiff der rettende Wind. Sie hat mir so oft gesagt, ich würde einmal die Frau verachten, die mir zu viel gab. Und wenn ich einmal die Frau dafür verachten müßte, daß sie mir zu wenig gab? . . . Verachten, das ist ja Unsinn! Der eine sieht eben sein Heil im Vorwärtsstürmen, der andre im Rückzug. Die meisten Leute werden eben nie begreifen, daß seit Urzeiten unabänderlich Tradition und Revolution sich ablösen müssen, und daß alle Heiligen nicht das Martyrium des alten Glaubens, sondern das des neuen Glaubens trugen. Es kommt nur auf die bergeversetzende Kraft des Glaubens an, die siegende Größe des Gefühls. Wer sich aber sein Leben lang zwischen ein großes Gefühl und viele kleine Gefühle spannt, der ist kein Märtyrer, sondern der wird mit Recht gevierteilt . . . Ich kenne bei allem Liebeswahn die Frau doch wohl besser, als sie selbst ahnt! Ihre Kraft liegt im Beharren. Und selbst, wenn sie mein großes Gefühl losrisse von dem Felsen der Tradition, so würde sie es mir nicht danken. Sie will gut sein, aber nicht stark! . . . Das Beharrende ist die Tradition.

Und ich vermag noch immer auf das Wunder zu hoffen, weil ich mir sage: ›es kann weder der Wunsch noch das Interesse der Vorsehung sein, unser Bestes im Kampf ohne Resultat zu verbrauchen.‹ Ich habe mich in den Gedanken verbissen, der mich zuletzt sehr glücklich oder sehr unglücklich machen muß. Denn ich habe gar keine Lust, die Schar der Mittelmäßigen zu vermehren, die sich mit dem Kleinen begnügten, weil sie das Große nicht erlangen konnten. Man geht doch deswegen auf zwei Beinen, daß der Kopf nach oben schauen soll und nicht nach unten, wie bei den vierbeinigen Kollegen. An dieser Thatsache ändern alle Demut predigenden Religionen nichts. – Und ich werde unentwegt zu meiner Heiligen aufsehen, von ihren schönen Gliedern die Flecken waschen – die Flecken, die nur ich an ihr finde, weil ich ein Kleinmütiger, der auf jeder Lichtgestalt nun einmal die Schatten aus alter Gewohnheit sucht . . . Aber besser ein gläubiger Narr, als ein vernünftiger Feigling.

*

Wir hatten uns bei dem Dinerkaffee über die Gebühr verspätet. Der Diener guckte zweimal verstohlen durch die Thür mit jener dreisten Dienstbotenfrage im Auge und der feigen Geschmeidigkeit in der Bewegung. Es sollte wohl so viel heißen: ›Pardon, ich störe die Herrschaften! – Aber sind Sie nicht ein wenig unvorsichtig?‹

Wir stehen langsam auf. Félicie sagt müde lächelnd: »Sehen Sie, so ist unser letzter Abend, kein Glück, kein Stern! Draußen ist's auch grau. Es kann ja nicht anders sein . . . Aber ich möchte Ihnen doch noch danken, mein Freund, für diese letzten Tage. Sie waren so gut, so liebenswürdig! Sie haben Wort gehalten und mich nicht mehr mit Ihren Stimmungen gequält. Jetzt kann ich es Ihnen auch ehrlich sagen: ich hätte es nicht länger ausgehalten . . . Wenn man's so gut mit jemand meint und so leicht mißverstanden wird! Im Großen verstanden wir uns doch immer, nicht wahr? – Wir werden uns auch weiter so verstehen, wenn wir nichts mehr voneinander hören, als was die Zeitungen mir über Ihre neuen Bilder bringen und was Ihnen ein herzlicher Geburtstagswunsch sagt. Wir werden uns nicht vergessen, dessen bin ich sicher, wir haben ja die liebe, liebe Erinnerung. Die dürfen Sie mir nicht freventlich stören, mein Freund! Ich will ja nur Ihr Glück, nur Ihr Glück! . . . Ich bin zum Leiden geboren und werde weiter leiden . . . Nun schlafen Sie wohl – schlafen Sie wirklich mal eine Nacht, weil ich es möchte!«

Ich küsse ihr die Hand – ich bin so stumpf. Ich gehe, sie bleibt. In der Thür noch ein letzter Blick von mir, ein wehmütiges Lächeln von ihr. Dann schrillt die elektrische Glocke. Ich höre noch, wie sie dem Diener einen gleichgültigen französischen Befehl giebt. Die Dame von Welt kennt ihre Pflichten. Das ist die Tradition, das Schloß. Nie in meinem Leben wurde mir die furchtbare Lüge unsrer Gesellschaft schmerzlicher klar, als in diesem gleichgültigen französischen Befehl.

In meinem Zimmer breche ich zusammen. Es giebt ganz gewiß keine Wunder, Gert! Und ich flehe noch immer um das Wunder. So verwirrt eine einzige Frau auch den klarsten Köpfen den Sinn.

Es mag so gegen halb elf gewesen sein – sobald ich allein bin, hab' ich kein Gefühl für die Zeit. Die bleierne Minute birgt mir dieselbe Qual als eine stumpfe Ewigkeit, so unterschiedlos reiht sich eines an das andre . . . Ich bin krank, ich bin sehr krank! – Also es klopfte. Ich dachte an das andre Klopfen. Und es durchzuckte mich weh. Dann aber stand ich ganz ruhig auf. Es kam ja von der andern Thür. Der Kammerdiener brachte mir einen Auftrag: »Die Frau Herzogin lassen den Herrn Baron in die Halle bitten zum Thee. Falls der Herr Baron aber müde, so bäte die Frau Herzogin, sich auf keinen Fall zu genieren.«

»Ich danke. Ich komme sofort.«

Diese abendliche Zusammenkunft ist eine Ungeheuerlichkeit. Stammt sie aus einem gütigen oder aus einem starken Entschluß? – Ich trete in die Halle. Ein einziger Kandelaber steht auf dem Tisch. Neben ihm dampft die japanische Theekanne. Félicie empfängt mich mit einem beinahe verlegenen Lächeln.

»Félicie!« sage ich leise.

Da wird sie nervös: »Sprechen Sie doch ruhig laut! Es ist weit besser, wenn man das Schlimmste hört, als wenn man das Schlimmste vermutet. Uebrigens ist der Diener im Souterrain. Heute horcht er nicht. Zuweilen können meine Leute vor mir zittern, obgleich ich nie ein böses Wort sage. – Setzen Sie sich, mein Freund! . . . Ich habe lange mit mir gekämpft. Sie selbst finden diese Zusammenkunft vielleicht sonderbar. Aber der letzte Abend soll Ihnen noch einmal gehören. Meinem Mann werde ich es auch erzählen. Mag er etwas dabei finden oder nicht – ich will mir nicht den Vorwurf machen, Ihnen kleinlich etwas entzogen zu haben, was ich Ihnen großherzig doch geben konnte. – Aber Sie müssen heute so gut und liebenswürdig sein wie in den letzten Tagen!« – Sie schenkt mir mit matter Anmut Thee ein, hält das Streichholz zur Zigarette. – »Plaudern wir! Erzählen Sie mir etwas von Ihrem neuesten Bilde! Es muß unbedingt etwas Gutes werden, das Beste, was Sie je gemalt haben, weil ich Sie dazu inspiriert. Sie sind mir das gewissermaßen schuldig . . . Sie sprachen gestern auf der Bank etwas, wie Sie das Glück malen wollten. Wir kamen nicht weit. Erzählen Sie jetzt weiter! Ich höre Sie so gern erzählen . . . Denken Sie noch an unsre erste Begegnung auf der Klippe? Da fiel's mir gleich auf, welch warmen Ton Sie in gewissen Momenten haben können. Wenn Sie spotten, liebe ich Sie noch heut nicht. Man möchte dann denken, Sie hätten nur Hochmut und kein Herz. Und ich weiß doch sehr genau, daß Sie bescheiden sein können und daß Sie tief und rein empfinden . . . Also . . .«

Ich muß die Tasse hinsetzen, weil mir die Hand greisenhaft bebt. Ich beiße die Zähne zusammen und atme schwer. – Ich bin wahrhaftig kein Mann mehr, Gert! Ich spüre ein unendlich wehes Zucken in allen Gliedern, und während ich weit vornübergebeugt auf den Boden starre, kann ich nur den Kopf schütteln. Ich fühle die brennende Thräne in meinem Auge zittern – die schwere, große Thräne, gegen die jedes Mannes Scham verzweifelt ringt bis zur Grenze der Kraft. Félicie sieht die Thräne und wird blaß. Sie leidet mit mir. Und doch mag wohl jede Frau zugleich den pathologischen Reiz solcher Erniedrigung vor ihrem Zauber empfinden. Sie wissen ja alle erst im letzten Moment, daß das Leben zuweilen auch bei uns eine Tragödie ist, wo die blutige Thräne aus dem Herzen quillt und nicht von den angenehm irritierten Nerven rieselt. Sie finden vielleicht alle solche Thränen schön und gut – und sie sollten doch selbst weinen, weinen über sich . . .

Und ich presse zwischen den Zähnen durch: »Ich kann nicht, kann nicht. Malen – ich? – Das war einmal . . . Ich kann nicht mehr.«

Darauf antwortet die Güte der Frau weich: »Mein Freund, ich leide ja auch – ich ringe ja auch – ich kann nur niemals das ganz sagen, was ich denke und fühle, wie andre Frauen. Ich darf's nicht – ich darf's wirklich nicht – ich darf's um Ihretwillen nicht! Und dann schäme ich mich so sehr . . . Seien Sie doch ruhig, mein Freund! . . . Kommen Sie, küssen Sie mich – küsse mich! Ich will dich wieder küssen, so oft du es verlangst. Es ist nicht etwa Güte oder Mitleid, wie Sie immer denken – ich thu's ja so gern, ich hab' dich ja so lieb! . . . Sie haben mir einmal gesagt: ein Kuß von mir sei die beste Arznei für Ihr Leiden . . .«

Aber heute hat der Kuß nicht die bannende Kraft von sonst. Es ist auch ein andrer Kuß. Ich weiß nicht, wie's kommt: er ist brennend und kühl, lang und flüchtig zugleich. Wenn mir in dieser Stunde Félicie doch beim besten Willen nicht mehr zu geben vermag als das große, schöne Mitleid der Frau, das ich nicht will, das mich entehrt? – Ich will ihre heiße Liebe, nicht ihr warmes Mitleid. Herrgott, der Verschmachtende braucht doch den langen, köstlichen Trank, nicht den brennenden Tropfen! Was giebt sie mir heut mit ihren Lippen? – Ich fühle nur den brennenden Tropfen. Ich sehe in den großen Opalaugen bloß das ängstliche Flimmern, die ratlose Angst der Frau, die eine leichte Pfeilwunde gern heilt, aber bei dem Lanzenstich des Schwerverwundeten nur mit heimlichem Grauen das strömende Herzblut sieht und verzweifelt denkt: ›Das habe ich nicht gewollt, das habe ich nicht gewollt! Gott, warum machst du mich zur großen Sünderin, die ich eine freundliche Heilige sein wollte? Ich fühle ja so ganz anders als er. Der Mann verlangt, was ich ihm nie geben wollte, weil ich's doch nicht geben kann – mich selbst!‹

So stehen wohl immer die Frauen mit angstvoll gefalteten Händen vor einem großen Gefühl, das sie weckten. Ich klage ja auch die großherzige Thörin nicht an! Sie täuschte sich nur edel über ihr Gefühl für mich, weil das »Ueber den Durchschnitt« in unsrer Gesellschaft bei Männern nun einmal nicht gezüchtet wird. Und weil auch die besten unsrer Frauen sich gern herabwürdigen zum reizenden Spielzeug des Mannes. Die Frauen wissen's nicht anders. Sie betrügen oder werden betrogen. Und ängstlich hüten darum die Besten das zuckende Herz vor dem schweren Schlagen einer großen Leidenschaft. Sind denn solche Frauen so ganz anders geartet? Müssen sie alle erst zehnmal an sich selbst verzweifeln, ehe sie einen Mann begreifen, der um ihretwillen ein für allemal an allem verzweifelt?

Und die Thräne rinnt mir über das Gesicht – die Thräne, deren sich der Mann doch schämt und deren sich der Mensch nicht schämen sollte. Ich wußte, daß dieser Ausbruch des Gefühls einmal kommen würde, aber ich hoffte immer, ich würde mich im einsamen Zimmer schweigend verbluten. Solche Ausbrüche sind nie ästhetisch. Die Frauen, die sie sehen, die werden entweder von der Flut mit fortgerissen oder sie weichen ernüchtert der schmutzigen Woge aus, damit das herbe Naß nicht ihren Fuß netzt. Wer solch überströmendem Gefühl vernünftig zusieht, der erkennt darin nur die Symptome des Wahnsinns. Und ich sage mit ineinander gekrampften Händen: »Was soll denn aus mir werden ohne dich, Félicie? Was nutzt die Komödie der guten Erziehung, der gemäßigten Gefühle? Was nutzt mir schließlich der Kuß, die Liebe, die Treue, wenn ein andrer, der deine Seele nicht besitzt, deinen Körper besitzt? – Ich kann nicht von Erinnerungen leben! Sie sind mir eine endlose Qual, ein ätzendes Gift, eine ewig eiternde Wunde. Für mich giebt es nur eine einzige, bittere Medizin: die Verachtung. Und ich ziehe das langsame Sterben doch dieser eklen Medizin vor. – Du sprichst mir von Glück, und daß du für mich betest und mir alles Gute wünschest, hier und im Jenseits. Begreifst du denn nicht, Weib, daß solch Gebet eine Beleidigung für dich ist, ein Hohn auf alles, was ich dir je gesagt oder je gedacht habe? – Das Glück bist du – du allein! Und wenn du gehst, so geht eben das Glück . . . Und wenn du einmal für deinen Tod betest, so bete zehnmal um meinen! Das ist keine Lästerung. Da steht denn Gott doch zu hoch, als daß er bei einer schweren Heimsuchung kleinlich abwöge. Und ich bange vor der Vergeltung da oben nicht. Wer die Last aufbürdet, nicht wer sie trägt, hat die Kraft des Lasttieres zu schätzen. Ihr nennt von eurem religiösen Standpunkt aus den Gedanken an Selbstmord feig. Ihr habt allerdings ein Recht dazu, denn ihr habt nie die echte Verzweiflung gewittert. Ihr habt noch immer so viel kleine Gefühle und kleine Tröstungen, daß ihr immer hoffärtig den über die Achsel anseht, der an einem großen Gefühl zu Grunde ging – an einem Gefühl, dessen ihr gar nicht fähig seid, weil ihr dessen nicht fähig sein wollt. Die großen Gefühle sind heiß, sie brennen. Darum zieht ihr die kleinen vor, die behaglich wärmen. Ihr habt eine schreckliche Angst vor dem eignen großen Gefühle, weil große Gefühle nie bequem sind, weil sie schmerzen. Ihr liebt sie auch bei andern nur im ersten, leichten Aufflackern und zieht euch entsetzt zurück, sobald ihr die Glut spürt. Euer Gefühl empfindet solche Glut wie eine Beleidigung. Darum könnt ihr im Leben auch nie verbrennen, ihr könnt höchstens erfrieren. Und wer euch die Wahrheit sagt, von dem wendet ihr euch gekränkt ab, er ist euch ein Undankbarer, der euch nie verstand« . . .

Ich habe damals sicher viel mehr gesagt und zugleich viel weniger, wie es der Strom gerade gab. Jetzt ist er versiegt. Er verleugnete seine vulkanische Natur nicht. Eine nutzlose Eruption – eine nutzlose Quälerei für uns beide . . . Wenn der Don Quichotte die wütendsten Lufthiebe schlägt, während ein andrer von fern zusieht . . . Der Kampf hat nur Sinn, wo Schlag auf Schlag dröhnt. So wie ich ihn führte, mag er eine verzweifelte Aehnlichkeit haben mit einem vernünftigen Rasen, das irgend etwas erpressen will. – Ich will nichts erpressen!

Ich sehe jetzt wieder auf den Boden. Ich bin dabei vielleicht unnatürlich ruhig. Ich sehe ja so deutlich den andern Kampf auf einem feinen Frauengesicht sich spiegeln. Ich thue dieser Frau herzlich leid, weil ich so schwer leide, ich mache ihr Qual, weil sie sich schuldig wähnt. Und wiederum war der Ausbruch so unmotiviert, der Strom so häßlich! Ihre harmonische Natur liebt temperierte Gefühle, nicht ungezähmte Instinkte, Sie hat die Abneigung der Aristokratin gegen dieses plebejische Zuviel und zugleich den Abscheu seinen Empfindens gegen ungewogene Worte. Sie möchte beleidigt aufstehen und sagen: ›Ich gehe ohne Verteidigung, mein Herr, weil ich sie nicht nötig habe.‹ Aber diese Frau, die mich stets verstand, die leiseste Herzensregung feinsinnig spürend, die große klug umgehend oder liebevoll eindämmend, hat mich noch zu lieb, als daß sie die Beleidigung tief, die Kränkung schwer nähme. Sie weiß auch, daß nur für Augenblicke ihr Zauber gehemmt war, und daß er in dem Moment wieder allmächtig, wo der häßliche Strom verflossen, der sie nicht erreichte. Sie will ja von mir im Frieden scheiden und nicht im Zorn. Sie will vor allem um keinen Preis noch einmal den Strom, dessen unreine Quelle sie doch in den Nerven sucht, wo sie die reine im Herzen suchen sollte . . . Ich sehe den Kampf der Gefühle, ich sehe auch die Ohnmacht des eignen Gefühls vor diesen Gefühlen. Das war alles einmal! Der Sturm ist vorbei, sie ist im Hafen. Und doch könnte sie noch jetzt großherzig sterben für mich. Aber leben für mich? – Nein, nein, da ist die Grenze.

Das Opalauge zuckt noch einmal feindlich grün – dann wird es traurig.

»Sie kränken mich, mein Freund, Sie beleidigen mich, Sie erniedrigen mich zu etwas, was ich wahrhaftig nicht bin. Sprechen Sie meinetwegen so zu einer Vollblutpariserin, deren Metier das Kokettieren und Verführen, oder zu einem Mädchen von der Straße, das es in ihrer Art auch nicht schlimmer weiß! Ich bin keine von beiden; ich bin – ich. Darum will ich nicht gekränkt sein, wo ich es doch sein dürfte. Ich verstehe Sie, mein Freund, weil ich Sie kenne . . . Ich hatte freilich gehofft, daß es einer solchen Auseinandersetzung zwischen uns nicht mehr brauchte. Ich liebe solche Auseinandersetzungen nicht, sie sind häßlich – und dennoch hab' ich sie vielleicht verschuldet . . . Wenn Sie mich am Ende doch nicht so verstehen, mein Freund, wie ich Sie verstehe? . . . Ich sage Ihnen noch einmal: ›ich habe Sie lieb, ich bin Ihnen treu, ich werde Sie nicht vergessen!‹ – Das sollten Sie mir glauben, und damit sollten Sie zufrieden sein! Dafür beschimpfen Sie mich! . . . Aber ich nehme es Ihnen nicht übel. Ich leide – Sie leiden. Ueber das Mehr wollen wir nicht rechten. Besser von einem lieben Menschen Unrecht leiden, als einem lieben Menschen Unrecht thun! . . . Denken Sie noch daran, wie ich Ihnen vor Wochen einmal gesagt habe: ›Ich habe mich noch nie mit einem Mann innerlich so gut verstanden? – Das war keine Phrase! Denken Sie auch daran, wie Sie mir einmal sagten: ›Niemals hat eine Frau so den Künstler verstanden, so die geheimsten Neigungen des Menschen erraten?‹ – Das war auch ehrlich! . . . Wir haben überhaupt beide immer vornehm empfunden, und es ist sehr traurig, daß das Leben uns keine Gelegenheit gab, es in die That zu übersetzen. Wir hätten uns nur zum Guten erzogen! Davon bin ich noch heut überzeugt. Und ich muß wohl meine schweren Gründe haben, wenn ich Ihnen mit wehem Herzen sage: ›Dieser Traum ist in acht Tagen ausgeträumt.‹ – Ich gehöre Ihnen auch dann noch weiter, wenn ich Ihnen nicht mehr gehöre . . . Sie mögen wähnen, ich hätte nie nachgesonnen, gezweifelt, gerungen. Ich hab's immer gethan, ich thu's vielleicht noch . . . Aber es geht nicht, mein Freund, es geht nicht! – Hoffentlich kommen wir beide über die Trennung hinweg und sind uns dankbar, daß wir ein großes Gefühl nicht zu groß wachsen ließen. Von Ihnen bin ich es gewiß, von mir weiß ich es noch nicht . . . Sie haben mir heute am letzten Tage in bösen Worten gesagt, daß Sie ein Verschwender des Gefühls sind. Darauf antworte ich Ihnen: ›Sie verschwenden nicht!‹ Wer so wie Sie Liebe sucht, der wird auch so wie Sie Liebe finden. Ich habe Ihnen die Liebe so warm und so rein zurückgegeben, wie Sie sie mir gaben. Daß ich aber immer vor dem Zuviel gebangt habe, was Sie heimlich feige oder schwach nennen, das müssen Sie auch verstehen. Ich habe noch andre Pflichten als gegen mich selbst, und denen muß ich mich bewahren. – Ich hatte bis zu dem Augenblick gehofft. Sie könnten auch verzichten. Daß Sie das nicht können wollen, thut mir weh. Die Liebe muß auch verzichten können. Im Verzicht ist sie vielleicht am größten . . . Wenn Sie alles, was Sie vorhin gesagt haben, zusammenziehen, so heißt es ungefähr: ›Ich hätte mit einem großen Gefühle freventlich gespielt, und dafür müßten Sie mich eigentlich verachten.‹ Wenn Sie das Verachten glücklich macht – verachten Sie mich! Ich kann auch die Last noch tragen . . . Bitte, verteidigen Sie sich nicht, mein Freund! . . . Vielleicht haben Sie darin recht, daß ich Sie anders liebe, als Sie mich lieben. Worin der Unterschied bestehen soll, ist mir freilich nicht klar. Jedoch existiert er, so können wir beide nur unserm Gott danken, der uns jetzt mit Schmerzen wieder auseinanderführt. – Aber an dem letzten unsrer lieben, unvergeßlichen Tage, wo Sie mich durch Ihr Mißtrauen aufs tiefste kränken wollen, will gerade ich Ihnen den höchsten Beweis meines Vertrauens geben.

»Sehen Sie noch einmal in der Ahnengalerie nach, ob niemand lauscht! . . .

»So, jetzt passen Sie genau auf! . . . Es ist eine lange, traurige Geschichte, die Sie über manches aufklären wird. Mir wird sie namenlos schwer. Aber gerade das soll Ihnen ein Beweis sein, was Sie mir sind . . . Ich habe nicht aus übermäßiger Liebe geheiratet. Das gehört ja weder in unsrer halbfranzösischen noch in Ihrer ganz deutschen Gesellschaft unbedingt zur glücklichen Ehe. Aber ich war damals jung, reich, auffallend hübsch und natürlich sehr gefeiert. Ich habe wohl den oder jenen vorher ganz gern gehabt, auch von Unmöglichem geträumt. Ich habe wohl auch mit Männern gespielt: ein junges und hübsches Mädchen ist immer etwas kokett, aber ich hatte nicht einmal eine gewisse naive Freude an fremden Liebesqualen. Diese Qualen schauen ja meistens viel schlimmer aus als sie sind. O, meine Anbeter haben sich alle schon lange und beschämend schnell getröstet! Männer der Gesellschaft sterben nun einmal nicht an der Liebe, wie Sie ja auch wissen . . . So hab' ich also den Herzog von Lièges genommen – nicht etwa, weil er ein Herzog und reich, und der andre vielleicht nur Graf und wohlhabend – nein, er war passabel hübsch, passabel jung und unser Schloßnachbar. Sagen Sie auch meinetwegen: ›ich liebte ihn wirklich, weil er mich zu lieben schien‹. Das thut bei gleichen gegenseitigen Verhältnissen sehr viel, und die Ehen derart, die ich kenne, sind die glücklichsten . . . Allerdings, als der Siebzehnjährigen der Verlobungsring übergestreift wurde, und als dann die ersten Gratulationsequipagen auf die Rampe rollten, hatte ich zuweilen das unbehagliche Gefühl eines Vogels im goldenen Bauer. Den ersten Kuß hatte ich mir auch etwas anders vorgestellt. Der erste Kuß entscheidet für feiner Empfindende manchmal über das ganze Lebensglück. Es war ein konventioneller Kuß – und mein Mann küßt mich noch heutzutage ebenso – ich erwartete aber mehr . . . Ich hatte auch niemand zum Raten, das heißt alle rieten mir lebhaft zu. Und er hat mich geheiratet, wie er eine andre Frau auch geheiratet hätte . . . Das waren so meine schwankenden Gefühle in den Flitterwochen. Aber ich besitze nun einmal den Instinkt der Treue – ich kann stumm entsagen, ich kann auch lächelnd leiden. Ich wartete auf das Kind – ich wartete mit einer leidenschaftlichen Hoffnung auf das Kind . . . Das Kind kam auch . . . Ich sagte Ihnen schon einmal, in jener Zeit bis zu Renés Geburt hätte ich meinen Mann beinahe geliebt. Wer liebt nicht den Vater seines ersten Sohnes? – René war ein schwächliches, elendes Kind, das ich vielleicht gerade darum abgöttisch liebte. Ich hoffte – aber das Kind wurde nur älter und elender, es hatte selbst für die Mutter zuweilen etwas Fremdes, das mich stutzig machte. Es weinte nie und schlief immer. Und wenn es einmal die Augen aufmachte, so sah ich wohl meine eignen Augen mir schwermütig entgegenlächeln – schwermütig und etwas vorwurfsvoll auch, als wollten sie sagen: ›Wozu ruft ihr mich in eine Welt, in die ich nicht gehöre?‹ . . . Ich fragte mich immer argwöhnisch: ›Wo hat das Kind die Schwäche her?‹ Ich machte mir bittere Vorwürfe, weil ich in der Zeit zu viel Gesellschaften mitgemacht. Ich sagte das auch meinem Mann, der mir lächelnd recht gab. Ich quälte mich, wie nur je eine Mutter – aber das Kind wurde dadurch nicht gesünder. Es konnte eigentlich nichts als schwermütig lächeln, was mir ins Herz schnitt. Die Aerzte untersuchten es, schüttelten den Kopf und redeten von rhachitischer Anlage. Wir hatten Ammen über Ammen – ich war wirklich nicht mehr Weltdame, sondern nur Mutter . . . Da sagte mir eines Tages unser alter Hausarzt: ›Fahren Sie doch einmal mit dem Kinde zu Charcot nach Paris, Frau Herzogin! Es handelt sich meiner Ansicht nach um schwere Nervenstörungen, aus denen ich nicht klug werde. Charcot ist der größte Spezialist derart.‹ – Darauf antwortete ich, von einem plötzlichen Mißtrauen ergriffen: ›Sie müssen mir aber vorher auf Ihr Wort versprechen, nicht an Charcot zu schreiben, mein Herr. Ich will ihn ganz inkognito konsultieren. Mich erkennt er auch sicher nicht mehr, denn er hat mich nur ein einziges Mal als Kind gestreichelt, als er kurz vor dem Tode meines Vaters bei uns in Brüssel war‹ . . . Mein Mann war einverstanden. Er wunderte sich jetzt, daß wir diese Berühmtheit nicht eigentlich schon lange befragt hätten.

Ich fuhr also nach Paris mit allem Hofstaat der besorgten Mutter: Jungfer, Diener, Kindermädchen. Aber in die Sprechstunde ging ich allein, das Kind auf dem Arm, wie eine kleine Bürgerfrau und auch ebenso angezogen. Ich hatte gar keine Angst vor den Seheraugen des großen Diagnostikers. – René hatte die Reise erfrischt, und er lächelte im Wartezimmer einem andern Kinde zu, das sehr gesund aussah, aber sehr krank sein sollte. So freundeten sich die Kinder von weitem an und streckten sich die Aermchen entgegen. Das andre war sicher ein gewöhnliches Kind, es machte mir ganz den Eindruck, als hätte es keinen Vater, nur eine geputzte Mutter. Aber ich habe ja den gemeinen Standeshochmut nie gekannt. Ich stand also mit meinem Kinde auf und ging hinüber zu dem fremden. Ich sprach auch freundlich mit der Mutter. Aber das that ich wohl mehr, weil es mich so kindisch freute, wie sich die Kleinen gegenseitig betasteten und neugierig anstarrten, und wie René vielleicht das erste Mal in seinem Leben einen Laut ausstieß, der an ein fröhliches Kinderlachen erinnerte. Und dann that es mir wieder weh, als die Frau mich fragte, wie alt René sei. Ich schämte mich fast zu sagen: ›über zwei Jahre‹ – weil der Junge noch so klein und jämmerlich und eigentlich ein lebendiger Vorwurf für die Mutter war, die ihm so wenig Kraft mitgegeben, obgleich sie ihn so sehr liebte . . . Die Erinnerung schmerzt mich unsagbar, mein Freund. Sie langweilt sie vielleicht. Aber ich muß Ihnen alles ganz genau erzählen, damit wir uns auch ganz verstehen.

»Ich hatte mich auf stundenlanges Warten gefaßt gemacht. Aber ich kam bald an die Reihe, sogar vor der andern Frau, die mir das etwas übelnahm, da sie doch eher gekommen. Der Diener hatte doch wohl seinen Blick für die wirkliche Dame im einfachen Kleid und für die sogenannte Dame in der großen Robe. Als mich der berühmte Mann freundlich begrüßte – dabei ruhte sein Auge scharf musternd auf meiner ganzen Gestalt –, wurde mir doch etwas bänglich zu Mute. Ich ahnte irgend etwas . . . Der Arzt fragte mich nach dem Namen. Ich sagte einfach: ›Lièges‹. Kork kann doch schließlich jeder heißen. Dann untersuchte er das Kind genau, schüttelte erst leicht den Kopf – untersuchte weiter und schüttelte wieder. Er hatte dabei eine väterliche Art, die dem Kinde wohlthat. Er fragte mich dazwischen auch nach allen möglichen und unmöglichen Dingen, deren Notwendigkeit ich nicht begriff. Aber ich beantwortete alle Fragen – einfach und ehrlich. Jedoch manche waren so, daß sie mich fast kränkten. Ich haßte schon damals falsche Prüderie, wie ich jetzt bewußte Unzartheit hasse. Charcot untersuchte sogar mich, erkundigte sich, welche Krankheiten ich durchgemacht, wann und woran meine Eltern gestorben. Die Untersuchung meines eignen Körpers war mir beschämend, weil sie von häßlichem Argwohn oder beleidigendem Mißtrauen diktiert schien. Als sie abgeschlossen, meinte er freundlich: ›Machen Sie sich nicht etwa Gedanken, Madame! Sie sind zart, aber gesund!‹ Dann kam die Reihe an meinen Mann. Charcot hätte ihn selbst gern gesehen. Dafür wurde ich ausgefragt, wie von einem Untersuchungsrichter. Ich sage Ihnen, mein Freund, schreckliche Fragen darunter, die selbst dem Arzt zu beantworten ich mich schämte . . . Darauf schwieg Charcot eine ganze Weile. Ich sah auf seinem Gesichte die herbe Wahrheit mit einer barmherzigen Lüge kämpfend. Da sagte ich ihm: ›Mein Herr, sagen Sie mir alles! Ich kann alles vertragen, nur nicht die Ungewißheit, die mich töten würde. Es steht sehr schlecht mit dem Kinde?‹ – Da sah er mich fest an: ›Wenn Sie es durchaus wünschen, Madame – es steht allerdings sehr schlecht mit diesem Kinde.‹ – ›Muß es sterben?‹ – ›Einmal müssen wir ja alle sterben.‹ – ›Nein, ob es bald sterben muß oder ob es durch ein Wunder gesund werden kann?‹ – ›Madame, Sie stellen mich vor eine schwere Frage!‹ – ›Die ich aber ehrlich beantwortet haben will, mein Herr!‹– ›Nun, dann bitten Sie Gott, daß er dies Kind bald nimmt!‹ – Ich war einer Ohnmacht nahe, aber ich nahm alle meine Kräfte zusammen und sagte: ›Dann müssen Sie mir wenigstens erklären, warum gerade ich so etwas Entsetzliches wünschen soll.‹ – ›Weil Sie die Mutter sind, und weil Sie Ihr Kind lieb haben, und weil das Kind mit jedem Tage nur zu seiner und zu Ihrer Qual weiterleben kann. Es hat völlig degeneriertes Blut in den Adern . . . Es ist wahrlich eine Sünde, wenn solche Väter heiraten!‹ . . . Da schluchzte ich selbst wie ein Kind, weil die Wahrheit zu furchtbar war. Der Arzt gab mir dann noch Verhaltungsmaßregeln und versuchte mich schließlich mit der Bemerkung zu trösten: die Wissenschaft sei ja keineswegs allwissend. Beim Weggehen legte ich ihm ein Hundertfrankbillet zusammengeknifft auf den Schreibtisch. Auf der Treppe holte mich der Diener noch einmal zurück. Der berühmte Mann vermutete, ich hätte mich in meiner Herzensangst in der Summe geirrt. – ›Nein, mein Herr, ich habe mich nicht geirrt!‹ – ›Pardon, Madame . . . ich verstand doch vorhin richtig: Lièges? Sollten Sie vielleicht mit den Herzögen von Lièges verwandt sein?‹ – ›Ich bin die Herzogin selbst.‹ – ›Ah so! Da kenne ich Sie schon sehr lange, Frau Herzogin. Ihr Gesicht kam mir gleich bekannt vor. Und ich erinnere mich jetzt genau eines bildschönen Kindes, das ich einmal in Brüssel beim Prinzen von Bragan sah. Das können nur Sie gewesen sein. Ich las dann später die Vermählung einer Bragan mit dem letzten Herzog von Lièges in einer Zeitung und gratulierte in Gedanken dem Herzog zu einer so schönen Frau . . . Wenn ich das alles vorhin gewußt hätte – so war meine Diagnose doch wohl etwas zu hart und zu ehrlich. Es thut mir, wie gesagt, leid. Die Lièges brauchen nötig einen Erben. – Aber nein, nein! Es ist doch besser so. Ich durfte es Ihnen nicht ersparen. Ich muß Ihnen sogar hinzufügen: Hüten Sie sich vor einem zweiten Kinde! Es würde unbedingt das Schicksal des ersten teilen. Ihr Gatte, der Herzog, hätte nie heiraten sollen. Sie sagten mir zwar vorhin: er sei hübsch und jung, ein leidenschaftlicher Sportsman und habe keine Ahnung von dem Verhängnis – er hat aber doch das degenerierte Blut absterbender Geschlechter in seinen Adern. Ich kann Ihnen also nur wiederholen: Bitten Sie Gott, daß dieses Kind bald stirbt, und hüten Sie sich vor einem zweiten, Frau Herzogin. Wenn der Herzog mich vor seiner Ehe konsultiert hätte, würde ich ihm gesagt haben: Sie sind im Begriff, eine Sünde gegen den heiligen Geist zu begehen, und Sie sind auch im Begriff, eine Frau unglücklich zu machen . . . Ich fürchte, Frau Herzogin, daß Sie dieses alles Ihrem Gemahl nicht sagen werden oder nur andeutungsweise. Das mag zartfühlend sein, aber ich weiß nicht, ob es klug ist. Schon vorher lag mir ein sehr häßlicher Rat auf der Zunge . . . Aber solche Ehen sind wider die Natur, und Sie selbst werden in Zukunft schwer darunter leiden. Nerven und Herz verbessern solche Ehen nicht!‹ . . . Er hat mir noch manches gesagt. Ich weiß es aber nicht mehr oder will es nicht mehr wissen. Ich habe im Augenblick nur das schreckliche Mitleid mit meinem armen Kinde . . . Aber ich will nicht lügen, damals fühlte ich vielleicht etwas andres viel stärker: den Widerwillen, ja den Haß gegen meinen Mann.

»Auf der Straße unten erwarteten mich Jungfer und Mädchen. Ich schickte sie weg. Ich bin dann mit meinem Kinde ziellos durch Paris gelaufen. Erst auf den Boulevards, wo die Leute mich für verrückt gehalten haben mögen, dann im Bois de Boulogne, wo ich endlich todmatt auf einer einsamen Bank niedersank. Da habe ich geweint wie gepeitscht und dazwischen wie unsinnig das Kind geküßt. Ach, welche bittere Thränenflut das Taschentuch damals eingesogen hat! Ich war ja so unglücklich, so maßlos unglücklich . . . Ich blieb noch Wochen in Paris bei meiner besten Freundin und jetzigen Schwägerin, der Marquise. Sie ist so gut und klug, und ich mußte jemand haben, ihm mein Herz auszuschütten. Sie hat mich auch getröstet und beschworen, in der Verzweiflung keinen thörichten Schritt zu thun, den ich doch bereuen würde. Ich hätte Pflichten den Bragans gegenüber und auch Pflichten gegenüber den Lièges, und der Himmel billige es nie, wenn sich zwei Menschen trennten, die er zusammengeführt. Der Priester sagte mir das auch. Und sie hatten ja so recht, die beiden! . . . Man darf nicht immer an sich selbst denken. Mein Bruder kam auf ein Telegramm hin nach Paris – mein Bruder, den ich so leidenschaftlich liebe. Die beiden waren damals noch nicht verlobt, aber sie hatten sich schon gern . . . Wie es weiterging, will ich nicht mehr erzählen. Ich kann auch nicht. Ich ging zu meinem Mann auf unser Schloß zurück. Ich habe ihm auch nicht alles gesagt, ich schämte mich – es war so häßlich – und er konnte doch auch nichts dafür. Er glaubt es noch heute nicht, daß sein Blut so degeneriert und alt. Seitdem leben wir beide nebeneinander her. Er hat nichts von mir. Aber ich kann ihm keine Untreue vorwerfen. Er liebt nach wie vor in mir, was er in mir geliebt hat: die Herzogin, die weiß, was sie der Gesellschaft schuldig ist, und die liebenswürdige Frau, die ihn nicht quält . . . Aber nun verstehen Sie auch, mein Freund, daß ich nur äußerlich meinem Mann treu sein kann und auch treu sein will. Die Abneigung besteht nach wie vor. Er wünscht sich auch gar nichts andres, als eine bequeme Ehe ohne Skandal. Ich bin den ganzen Winter über nur deshalb auf diesem Rivieraschlosse, weil ich dann wenigstens die Tage allein bin, wo er mit seiner Jacht manövriert. Er möchte mich schon mithaben auf See, aber ich will's nicht, und ich darf's auch nicht – ich habe mich hinter den Arzt gesteckt, der mein Herzleiden für gar nicht unbedenklich hält . . . Wer so etwas wie ich durchgemacht hat, der soll wohl nicht herzleidend werden! . . .

»Nun hören Sie weiter! Ich habe mir in meinem Leben viel die Cour machen lassen, weniger aus Freude an Eroberungen als aus heimlichem Haß gegen meinen Mann. Ich habe bei der Gelegenheit viel nette Menschen gefunden, sogar sehr nette. Nichtwissende halten mich darum für leichtfertig oder oberflächlich, was ich aber nicht bin. Ich bin vielleicht nur eigensinnig. Und was ich einmal versprochen, das setze ich trotz aller Anfechtung durch. Sie können ganz ruhig sein, mein Freund! Ich habe nie etwas Gemeines gethan, nicht mal gedacht. Und was ich zum Beispiel Ihnen an Gefühl gebe, das hat er gar nicht zu verlangen. Ich halte bei ihm aus, ich leide unter seiner Nähe, weil ich den Skandal scheue, und weil ich ihn nicht unglücklich machen will durch die Trennung. Das bin ich ihm und mir schuldig. Wenn er auch meine Krankheit bespöttelt, ist er doch die Rücksicht selbst. Er überläßt mir alles, erfüllt mir jeden Wunsch, quält mich nie mit Eifersuchtsanwandlungen, womit Sie auch die geliebteste Frau unfehlbar quälen würden. Dafür beuge ich mich unter den äußeren Zwang. Aber das ist ja nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist mein Bruder, die Familie, die Pflicht überhaupt, die man zu erfüllen hat.

»Mein Freund, Sie müssen das verstehen. Sie müssen es! . . . Ich habe ja so gerungen – und ringe noch. Ich habe ja so viel hin und her gedacht – und denke noch . . . Ach Gott, wenn Sie ahnten, welch thörichte, unmögliche Träume ich Ihretwegen geträumt habe, mein Freund! Ich habe Sie auch noch immer lieb – ich träume noch immer . . . Und eigentlich bleibt mir doch nur die Hoffnung auf den Tod, um den ich sündig in jeder Frühmesse flehe . . .« (Sie sollte nicht um den Tod bitten, sondern um einen Entschluß, Gert! Wer wie sie zu lange und zu gewissenhaft abwägt, der verliert zu guter Letzt erst recht die Schätzung. Und wer immer erst sich und andre fragt, ob er über eine kleine Mauer springen darf, der wird auch über die kleinste nicht springen. Er will's vielleicht nicht mal. Er sieht ja in Wirklichkeit während seines ganzen Lebens immer nur zurück und fragt das anständige Gesindel, ob er springen darf – das anständige Gesindel, das das Gros jeder Gesellschaft ausmacht, und das gewiß nachts und heimlich über die höchsten Mauern klettert, aber beim Frühmorgen ebenso heimlich zurückkriecht. Wenn man die im Leben immer mit angstvollen Augen fragt und sich selbst auch noch mit denselben Bedenken, so wird man unfehlbar die Antwort bekommen: ›Brich gleich vom Start weg! Die Hindernisbahn ist nichts für dich. Galoppiere auf der Flachbahn weiter, sie ist nun einmal die vorgeschriebene, und es galoppiert sich da weit bequemer, obgleich das Geläuf bei Trockenheit zu hart und nach Regengüssen zu sumpfig, und obgleich es auch da gefährliche Maulwurfshaufen für todmüde Fesseln giebt.‹ Und der so Beratene geht seinen müden Galopp willig weiter, ohne sich eigentlich je ernstlich gefragt zu haben, ob das trainierte Sprunggelenk nicht doch zum großen Mauersprung gelangt hätte . . . Es langt auch nicht, Gert! Wer nun einmal der Märtyrer seiner eignen Schwäche bleiben will, den soll man nicht quälen.)

Félicie soll selbst weiter sprechen. Gerade jetzt springt der eigensinnig entschlossene Zug um den weichen, edeln Mund auf: »Mein Freund, ich kann nicht weglaufen wie ein Bürgermädchen, von meinem Mann, aus diesem Schloß, aus der Gesellschaft – ich darf mich doch nicht selbst aufgeben! Meinem Mann würd' ich ein schweres Unrecht thun. – Er würde gar nicht mal den Grund dieses offenen Bruches begreifen. Und die Gesellschaft könnte dann mit Recht über mich die Achseln zucken. – – Aber gut – das will ich auf mich nehmen! Ich kenne die Gesellschaft denn doch zu gut, um nicht ohne ihre Achtung auskommen zu können, und das Unrecht an meinem Mann würde ich auch verwinden. Doch nun kommt mein Bruder! Schon seinetwegen darf mir der Gedanke an eine Flucht gar nicht kommen. Ich müßte es auf einen Prozeß ankommen lassen, auf einen schrecklichen Skandal, der jedes Zartgefühl tödlich verwunden muß. Und ein Prozeß – schrecklich! Nie, nie! Ich ertrüge ihn einfach nicht. Mein Bruder müßte mich auch verachten, wenn ich die Schmach eines solchen Skandals dem Braganschen Namen aufbürdete, statt würdig mein Schicksal zu tragen. Meine Schwägerin, die Marquise, würde mich nicht mehr ansehen und meinem Bruder umgehend den Absagebrief schicken, weil die beste Familie des Quartier St. Germain nun einmal die Fahnenflucht der Herzogin von Lièges nicht dulden darf. Ich würde zwei geliebte Menschen, die füreinander bestimmt sind, unfehlbar unglücklich machen mit meinem Egoismus. Und hätte ich das alles durchgesetzt und ginge mit Haß, Schmach, Verachtung beladen in irgend ein einsames Dorf – könnte ich dann je wieder froh werden? Die Reue, die Scham würden mich weit eher sterben lassen, als ich jetzt sterbe. Aber es wäre ein schrecklicher Tod, während so mein Tod ruhig sein wird. Ja, mein Freund, das habe ich mir alles in schlaflosen Nächten klar gemacht. – Und ich mußte doch alles, was ich an Glauben, Geschwisterliebe, Vernunft besitze, krampfhaft zusammennehmen, um nicht in feiger Verzweiflung aufzuspringen! ›Ich trage die Lüge dieser Ehe nicht mehr!‹ – Ich muß sie tragen, tragen solange ich kann. Das Aeußerste bleibt mir ja noch immer unbenommen. Und darum, mein Freund, hätten Sie, anstatt mich zu quälen, mich irre zu machen an Ihren Gefühlen, lieber vornehm sagen sollen: ›Sie leidet – sie leidet noch viel mehr als du. Darum will ich gern leiden . . . Wir haben ja noch immer die Erinnerung!‹ . . . Habe ich nicht recht? – Ich bin die Unglücklichere, weil ich die Gefangene bin . . . Jetzt werden Sie ganz verstehen, warum ich mich vor dem überwuchernden Gefühl hüten muß, das uns beide nur unglücklich machen könnte . . . Ich fürchte das Gefühl noch immer. In jener Sturmnacht hätte es mich beinah bezwungen. Das wird Ihnen wohlthun, mein Freund, weil es Ihnen beweist, daß Sie kein Verschwender waren. Vielleicht verschwendete im Gegenteil ich – und Sie wollen es nur nicht verstehen – und ich bereue es noch bitter . . . Ich weiß manchmal doch nicht . . . Sind Sie zufrieden mit meiner Beichte?«

»Ja, Félicie.«

Ich würde dies »Ja« auch heute wiederholen. – Sie hat recht, ganz recht. – Ich habe recht, ganz recht. Es sind zwei Weltanschauungen. Weiter nichts . . . Ja, mon cher, weiter nichts! Ich könnte das Lachen Lears lachen, weiter nichts! . . . Wenn einem auf einmal klar wird, daß der ganze Kampf thöricht war. Von vornherein verloren für mich. Wir haben in Wirklichkeit nie miteinander oder füreinander gekämpft. Die Frau sagt: ›Die Gefühle haben recht.‹ Ich sage: ›Das Gefühl hat recht.‹ – Das eine ist vernünftige Ueberlieferung, das andre unvernünftige Empörung. – Wenn von zehn guten und edeln Gefühlen eins obstinat wird, da zwingen's die andern neune schon ganz von selbst. Diese Anlage ist Félicies Glück. – Aber wenn man nur ein Gefühl hat, ein einziges Gefühl? Und wenn man nicht anders kann? – Dann ist das ein Unglück, und man selbst ist ein Narr. Jetzt weißt Du, wie die Schlacht steht.

Die Beichte hatte lange gedauert und das peinliche Schweigen hinterher auch. Wir wollten uns freundlich anlächeln – und es kam bloß ein wehmütiges Lächeln heraus . . . Vor dem Kamin steht noch immer »Die Liebe« auf ihrem rotsammetnen Postament. Der Kandelaber malt fahle, flackernde Lichter auf das Bild. Wir schauen nachdenklich zu. Es liegt doch eine furchtbare Wahrheit drin. Die Liebe, lächelnd über einen Sterbenden schreitend! – Ich kenne den Mann längst. Félicie kennt ihn auch. Aber es ist ja nur ein Bild – und sie ist darauf so schön – und lächelt so weh – und ist auch eine Sterbende . . . So sah ich's bis heut auch. Aber wie jetzt die Schatten und die Lichter über die Leinwand hinzittern, in dieser alten Halle, in dieser Mitternachtsstunde, nach dieser Beichte, da bekommen die Gestalten merkwürdiges Leben. Der Sterbende atmet schwerer, und die Frau lächelt weher . . . Ich sehe, wie Félicie plötzlich das seidene Tuch um die fröstelnde Schulter zusammenzieht – mir wird auch kalt. Unsre beiden Körper berührte in dem Augenblick etwas Graues, Eisiges: der Tod. Und der Tod starrt mich jetzt auch unverwandt aus den wunderbar lächelnden Frauenaugen an, in die ich einst die ganze Kraft meines Könnens gelegt hatte, ohne zu ahnen, daß die Augen den Tod für mich bedeuteten. Ich hätte das Bild doch le rire nennen sollen. – Aber an dem Lächeln dieser Augen sterbe nur ich.



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