Johannes Richard zur Megede
Félicie
Johannes Richard zur Megede

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Sechzehntes Kapitel.

Dieser Roman will noch immer nicht enden – er endet wohl erst mit meinem Leben.

Ich war noch einen letzten Tag allein im Schloß. Eine unnötige Tortur! . . . Aber ich wollte doch noch Abschied nehmen von dem alten Sarazenenturm, wo ich in der Liebe mich selbst fand und mich selbst verlor. Ich war ganz früh herübergefahren von Nizza – von Nizza, dessen Strand, dessen Quai, dessen Hafen ich hasse, weil ich sie wohl nie mehr anders werde sehen können, als in dem herzlos schönen Lichte jenes Abschiedstages. Wie kann nur der Wind so köstlich fächeln, das Meer so tiefblau flimmern, wenn das Glück auf seinen Wogen unwiederbringlich entflieht! Die Welt hat keine Seele. – Andre in meinem Fall würden denken: ›Attendre et espérer.‹ Ich möchte das auch. Aber keine weiße Hand winkte mir das beim Scheiden zu.

Heute ist wieder so ein grausam schöner Tag. Ich mag während der Fahrt nicht auf die See hinaussehen, die unter den Coupéfenstern in weißen Katzenköpfchen gischtet – dieselben weißen Gischtflocken säumten neulich die Kielwelle der »Félicie«; ich mag auch nicht die stickige Erdluft der Tunnels einatmen – in diesem Brodem habe ich sie ja zum erstenmal geküßt. Alles macht mir Weh – der wolkenlose Himmel und das strahlende Licht, die lauschenden Palmen und die säuselnden Oliven, selbst das alte, morsche Fischerboot dort am einsamen Strand. Um alles, alles weht noch ihr Zauber. – Ich habe die Frau zu sehr geliebt – das ist nie gut!

Auf der Bahnstation erwartet mich das Coupé. Félicie hat bestimmt, daß bis zu meiner Abreise alles genau so bleiben soll wie vorher. – Aus den blauen Atlaskissen weht mich der feine heimliche Duft an, der allem eigen, das die weißen Hände je berührten. Ich fahre die Felsstraße bis zum Schloß – an der Klippe vorbei, die schwarz und leblos starrt aus funkelndem Blau – an den Oliven vorbei, die einst im Sturm gestöhnt – an der Felsecke vorbei, wo auf ketzerischen Spaziergängen uns immer das alte Schloß entschwand und das junge Glück emportauchte. Jetzt biegt der Wagen knirschend durchs Portal. Der goldene Herzogshut leuchtet noch immer. Dieser traditionelle Hut entschied doch wohl mein Geschick . . . Dann die Burgtreppe. Die gotische Halle. Wir haben fast Mai, eine erbarmungslose Helle wogt durch den sonst so dämmerigen Raum; die Waffen gleißen, die Banner starren, der geharnischte Mann am Kamin sieht aus den Löchern seines Stechhelms mich noch immer mißtrauisch an. Auf dem dunkeln Eichentisch das Sèvresservice, der duftende Kaffee, die gewohnte Zigarette in silberner Schale. Es ist noch nichts vergessen, was die Schloßherrin befahl. Ich brauche auch nicht eine Minute zu warten. Die junge Italienerin, die mir statt des nachgereisten Kammerdieners serviert, ist eine Augenweide mit ihren weißen Zähnen und ihrem roten Mund. Es ist alles wie sonst – nur »sie« fehlt. Sie ist nicht tot, ihr guter Schatten umschwebt den Verlassenen nicht mitleidig; sie ist nur auf ewig fort, und ihre Seele schwankt, ob sie traurig rückwärts blicken darf zu mir oder hoffnungsfreudig in die Zukunft . . . Ich sitze so lange. Die Erinnerung ist noch allmächtig. Erinnerungen sind so schön, wenn man träumend mit ihnen wandelt; sie sind so traurig, wenn sie nur als Schemen geschwundenen Glücks vorüberwallen. Und es ist doch dasselbe Schloß, dieselbe Halle, nicht drei Tage stehen zwischen einst und jetzt – aber in der Zeit versank mir eine Welt. Ich rauche Zigarette auf Zigarette. Der feine Dampf umwallt mich, berauscht mich. Ich möchte dankbar sein – und bin undankbar. Ich weiß, daß ich nie mehr das feine Rauschen eines Seidenrocks vernehmen werde – und ich lausche doch in thörichter Sehnsucht nach dem Ton. Ich weiß, daß keine kranke Frauenhand duftend kühl in meiner fiebernden je mehr ruhen wird – und ich strecke doch unbewußt meine Hand aus, um die andre zu fassen. Ich weiß, daß nie mehr eine liebe Stimme mir das Guten Morgen flüstern wird – und ich sage doch wie im Traume: ›Guten Morgen, Herzogin!‹ Es sind Thorheiten, schmerzliche Thorheiten, aber wer entzieht sich diesem edeln Schmerz, wer möchte sich ihm entziehen?! Und wie ich so sitze und immer an sie denke, weil ich nur an sie denken kann, da mache ich mir Vorwürfe, als hätte ich die Abwesende erst wirklich geliebt, als hätte ich ihr früher nicht oft genug gesagt, wie sehr ich sie liebe – und ich hab's doch viel zu oft gesagt! Ich wähne, ich habe sie absichtlich gequält, ihr absichtlich wehe gethan – und that mir selbst doch am wehesten und konnte doch nicht anders! Ich quäle mich, ob die Gute nicht mehr leidet jetzt – und sie kann doch nie mehr leiden als ich! . . . Was ich auch je gesprochen, gesagt, gedacht – giebt's eigentlich einen tieferen Kniefall vor der Seele einer Frau, als wenn man sie so liebt, wie ich sie geliebt habe? Es war nicht der Körper, der Reiz, die Anmut – es war doch nur ihre Seele, die ich liebte. Ich weiß das jetzt ganz genau. Ich spür's deutlicher jetzt, wo ich allein, wie ich weher spüre, was ich an ihr verloren. – Sie hätte im Leben ein klein wenig mehr sie selbst sein sollen! An diesem Kleinwenig, vielleicht an einer Aeußerlichkeit, krankt, ohne daß sie es ahnt, vielleicht ihr ganzes Geschick. Sie würde mich vielleicht steinigen, wenn ich ihr sagte: ›Du bist ein unglückliches Gemisch von Verstand und Gefühl, weil beides zu fein ausgebildet ist, um kraftvoll zu sein.‹ Darum die Angst vor dem großen Gefühl, das du zwingst mit einer kleinen, eigensinnigen Falte auf der schönen, faltenlosen Stirn. Und doch, welch holder Zauber muß dich umfließen, angebetete Frau, daß du dem Manne dennoch alles warst und daß er dich nie vergessen kann, so gern du es möchtest, so gern er es möchte! . . . Ich sehe deine Schatten schärfer, als sie sind, und verbrenne doch in dem Licht, das diese Schatten wirft. Ich bin weder von heute noch von gestern – und wollte dir den Zaubertrank einflößen, und du flößtest ihn mir ein. Welche Frau kann so wie du von sich sagen: ›Ich kann zaubern, ich zaubere auch. Aber nachher thun mir die Verzauberten immer leid.‹ Das ist auch dein Verhängnis, Fee, daß dir am Ende die Verzauberten nur leid thun können. Weiter langt's nicht. Und damit schaffst du dir selbst so viel Weh . . . Dein Zauber reicht ja so weit, so weit! Er hat selbst meinen Hund bezwungen, der sich im Interesse seines Herrn so ehrlich dagegen wehrte. Tip verzehrt sich wie ich in Sehnsucht nach der Zauberin. Er sitzt neben mir und denkt vielleicht: ›Konntest du nicht wenigstens bei den Verzauberten bleiben!‹ Er ist treu und versteht nicht, daß du treulos bist nach seiner Ansicht. Nicht mal der Hund will von der Erinnerung allein leben.

Und doch ist die Erinnerung heute bei allem Weh schön. In diesem Schlosse ist noch so viel von der Zauberin zurückgeblieben, was die vernünftige Trauer bannt, die thörichte Hoffnung weckt. Wir beide, der Hund und ich, gehen durch das Schloß auf den Spuren deines weichen Fußes – vielleicht küsse ich auch eine Stelle, wo er geweilt. Wir sind beide weiche Idealisten, wo wir harte Realisten sein sollten . . . Ich gehe in das Rokokozimmer, wo durch eine Unachtsamkeit der Domestiken das Klavier noch offen steht, und schlage das Heft auf, wo du deine kleinen, reizenden Lieder komponiert hast. Die Lieder haben so viel von deinem schwermütigen Reiz, und wenn ich denke, wie du sie mir zum erstenmal spieltest, so thust auch du mir leid. Das trifft auch mich. Man sollte im Leben mehr Kraft haben und weniger Feingefühl . . . Ich sitze auf dem Balkon, wo wir so oft gesessen, und streichle kindisch die Seitenlehne des Stuhls, die deine weiße Hand berührt. Ich streichle auch den Marmortisch, wo deine nie beendete Spitze so oft gelegen – es war ein originelles Muster – und so reizend – und blieb so unvollendet wie du . . . Ich will deinem Andenken damit nicht wehe thun. Der Sonnenschein, den du mir gabst, war doch so warm! – Ich sitze lange auf dem Balkon. Der Park duftet wie einst – aber es ist ein andrer Duft; das Meer blaut – aber es ist ein andres Meer. Du fehlst! Ich habe vielleicht in meinem ganzen Leben nur mit dir genossen – weil ich jedes Bild erst im warmen Spiegel deiner guten, großen Augen wirklich sah.

Ich gehe auf die Terrasse, wo wir so viel Gedanken getauscht, gute und böse, viel Ketzereien darunter, von denen niemand ahnen darf, daß gerade sie uns verbanden. Und wie oft, wenn ich wieder etwas Unglaubliches gesagt hatte und mich entschuldigen wollte, hat deine weiße Hand mir hastig gewinkt, und deine schönen Lippen haben geflüstert: »Mais nous sommes mariés, mon ami, nous sommes mariés« . . . Und wieder eilen wie einst die Stunden, weil dein Zauber die Zaudernden noch immer scheucht. Die Sonne ist im Untergehen. Ich sehe sie jetzt wirklich zum letztenmal, im letzten Hoffnungsschimmer. Sie taucht so ruhig, so klar ins Meer, die Reflexe zucken über die leicht bewegten Wasser. Und wieder fließt das rosige Licht wie damals über die Küstenberge, und die Töne der Feierglocke zittern herüber. – Die Tageskönigin ist versunken. Am klaren Horizont nur noch der helle, gelbliche Schein, bei dem man sich immer erst des Rivieralichtes recht bewußt wird, weil in diesem klaren, weichen Abendschimmer jeder Palmenwedel so deutlich zittert und jedes Mimosenblatt so heimlich bebt. Die Fischerboote mit ihren weißen Segeln ziehen im Abendwind in langer Linie wie eine Flottille heim. Es zeichnet sich alles so rein, so scharf! Und jetzt – ganz fern drüben wie damals: ein winziger, leuchtender Punkt. Es könnte die »Félicie« sein, die zurückkehrt. Das Glück kehrt nie zurück, Gert! – Aber in dieser weichen Feierabendstimmung der Natur macht es mir ein wehes Vergnügen, einen thörichten Traum zu träumen, als wäre es wirklich die Jacht, als käme sie näher, als könnte ein liebendes Auge schon eine liebe Gestalt erkennen. Das Glück eilt ja immer so schnell! Ich schließe auf Minuten gläubig die Augen. Ich rede mir dabei vor, daß, wenn ich sie wieder aufthue, Félicie neben mir sitzt und lächelnd sagt: ›Da bin ich, mein Freund – ich bin schon so lange wieder da und habe mich so auf dein verwundertes Erwachen gefreut!‹ . . . Und jetzt öffne ich wirklich die Augen. Da ist der helle Abendschimmer schon im Schwinden. Das fremde Segel ist weg, versunken, so sehr ich auch schaue. Und ich fühle eine Kühle, eine Einsamkeit – ich starre melancholisch wie mein Hund auf die graue, leblose See.

Es war Zeit zum Hineingehen. Neun Uhr. Man hatte mich nicht stören wollen. Vielleicht that selbst diesen Leuten der Verlassene leid. Aber Mitleid – danke! . . . Ich hatte diese kleine Anregung meines Hochmuts bitter nötig. Das Diner war in dem hellgrünen Boudoir serviert. Mit dem Zimmer verbinden mich wenig Erinnerungen – und das war gut.

Den Abend verbrachte ich in der Halle. Es war dämmerig und warm da, und wieder flackerte ein einziger Kandelaber. Die bitterwehen Gefühle wollten mich überkommen – aber sie wichen. Ich hatte ganz bestimmt die Empfindung, daß sie auf Stunden mit ihrer ganzen Seele bei mir war. Das that so wohl! – Ich fühlte beinahe ihre körperliche Nähe, die mir die hellsten Tage meines Lebens gegeben; ich fühlte, daß sie mit mir litt. Vielleicht weinte sie die bittere, bittere Thräne einer Gefangenen, oder sie saß schwermütig auf Deck und schaute unverwandt zurück und grüßte mich mit feuchten Augen. Die Empfindung ihrer Seelennähe habe ich später nie so intensiv mehr gehabt. Das mag an mir gelegen haben – oder auch an ihr. Nur heiße Gefühle steigert die Zeit, die Entfernung, während die andern allmählich darunter verblassen. Ein Jahr später erscheint der Frau vielleicht der thörichte Traum nur noch thöricht. Und dann müßte sie mir leid thun . . . Wenn sie doch nur das schöne, kranke, spielende Kind wäre? . . . Aber sie ist es ganz gewiß nicht! So habe ich gesessen und geträumt mit ihr bis Mitternacht. Und denke, Gert – mich, den Schlaflosen, überfällt auf einmal der Schlaf. Es war ein wohlthuender Halbschlummer . . . Und dann – es kann keine halbe Stunde gedauert haben – ich höre ein leises Knistern, spüre den weichen Hauch eines geliebten Mundes, etwas duftend Kühles berührt mich. Es war ganz sicher ihre weiße Hand. Durch meinen ganzen Körper geht ein wohliges Rieseln, davon ich erwache. Wo bin ich? – Ach ja – in der Halle. – Ich will mich umdrehen nach ihr, die doch bei mir sein muß. Sie ist nicht da. – Und während meine schlaftrunkenen Sinne sie noch thöricht suchen, erwache ich langsam zur Wirklichkeit. Die schwarze, tote Riesenöffnung des Kamins starrt mich an. Ich begreife alles. Es war ein schreckliches Erwachen . . .

Ich bin allein – nicht mal der Hund ist bei mir. Und da spüre ich eine Einsamkeit, eine Leere, eine Oede, so trostlos lastend, wie nie in meinem grauen Leben. Ueber den ganzen Körper legt sich eine tödliche Mattigkeit. Ich überwinde sie mit der äußersten Anspannung meiner Kräfte. – Dafür packt mich ein so rasendes Heimweh nach ihr, daß ich aufspringen möchte und laufen, bis ich sie finde oder bis ich röchelnd niederbreche. – Und ich thue etwas unsagbar Thörichtes. Ich wandere durch alle Zimmer und suche sie wie ein Hund, und Tip sucht auch und winselt leise. Aber es ist nichts, nichts mehr von ihr in diesem Schlosse. Es ist alles vorüber. In dem Toilettezimmer wird mir das klar. Der venetianische Spiegel ist weg und die reizenden Intimitäten des Empiretisches – nur noch die häßliche Unordnung, die zerstreuten Möbel, die herabgerissenen Vorhänge. Und was ich fiebernd suche – den Duft ihres tiefschwarzen Haares – auch er ist verflossen . . . Ich gehe in das Schlafzimmer nebenan. Die riesigen, geschnitzten Prunkbetten mit ihrem schimmernden Brokat sind unberührt; die Ordnung herrscht da, die Stickluft der Tradition. Ich stehe vor den Prunkbetten. ›Hier ruhten sie – hier ruhten sie seit Jahren – hier werden sie noch Jahre ruhen!‹ . . . Eine grenzenlose Empörung gegen alles Bestehende möchte mir aufquellen, die Hand möchte die unschätzbaren Brokatdecken sinnlos zerfetzen aus dumpfem, tierischem Haß . . . Meine Hände zerfetzen nichts. Nur der Revolutionär bricht vor der Tradition zusammen. – Der Herzog wird die Frau nie verlieren, die er nie besaß. Die Tradition hat gesiegt. Sie mußte siegen.

Auch das geht vorüber, wie im Leben alles vorübergeht. Ich sitze wieder am Kamin und schaue in die schwarze, tote Höhle. Das ist eigentlich der Schluß des Romans – und die Konsequenz – und der Hohn. Wo »Die Liebe« im Prunkrahmen, auf plüschverhangenem Postament gestanden, gähnt jetzt das Nichts. Die geharnischte Puppe bewacht das Nichts – diese dürre, trostlose Wirklichkeit, weil eben die nur ein Recht hat . . . Also zu solchem Ende sind die großen Gefühle bestimmt? – Na, auch gut! Lacht ihr andern, lächle auch du, Herzogin! . . . Es muß auch Narren geben auf dieser Welt, großherzige Narren – und vielleicht wäre die Welt bettelarm ohne sie.

Ja, Gert, ich will das Malen wieder anfangen, die vernünftige Arbeit, die man doch eigentlich nur für andre thut. Ich werde wieder ich selbst werden – und das wird Félicie so freuen! Du lieber Gott, bilden sich eigentlich alle Frauen ein, daß sie ein Martyrium tragen, wenn sie beharren? Martyrium der Schwäche, wie hübsch drapieren dich doch deine Kreuzträgerinnen! . . . Und bin ich selbst etwa stärker? Im Gegenteil! Man weiß nur besser, wie schwach man ist . . . Sag mal: Wer liest den Don Quichotte des unvergänglichen Humors wegen? Alle. Und wer liest ihn wegen der Idee? Keiner. Und doch ist der unverwüstliche Idealismus das Beste am ganzen Don Quichotte.

Gegen Morgen ging ich auf mein Zimmer, um zu packen. Ich packte mit der peinlichen Ordnung, die einem nur der Stumpfsinn giebt. Ich habe auch die kleinen Andenken eingepackt, die ich von ihr besitze. Es sind rührende Andenken darunter, wie sie eigentlich nur große Kinder aufbewahren. Und doch möchte ich mich von ihnen nie trennen. Ich werde sie auch später irgendwohin tief unten verpacken, ich werde genau wissen, wo sie liegen. Und wenn ich sie durch einen Zufall finde, wird mir ein weher Stich durchs Herz gehen, auch viel, viel später noch. Und wenn ich sie nie mehr ansehen sollte aus Angst vor meiner Schwäche, das Gefühl bleibt doch, daß sie etwas Heiliges sind, daß ich in ihnen etwas von ihr besitze, das nur sie selbst mir wieder nehmen kann. Darum habe ich wohl auch die tiefdunkle Haarlocke geküßt, mit dem blauen Seidenband, das sie selbst darum wand, weil sie den thörichten Wunsch des verliebten Thoren so feinfühlig ehrte. Ich hatte meine Augen geschlossen, während ich das Haar küßte – da war trotzdem wieder der feine Duft und der Traum und das Weh.

Um fünf Uhr kam das Mädchen, mich zu wecken, ich hatte gerade das Packen beendet. Um sechs Uhr fuhr ich ab. Ein Sirokkotag. Ich habe nicht mal mehr zurückgeschaut nach dem Schlosse.

*

Ich wollte eigentlich nach Nizza zurück und dann über Marseilles und Paris nach Dieppe, wo mir das Seebad in reizender Erinnerung sein könnte. Aber ich machte mir unterwegs bereits klar, daß ich Länder französischer Zunge meiden muß. Denn schon unter den wenigen französischen Worten, die ich mit dem Schaffner des Luxuszuges wechselte, litt ich selbst unsäglich. Mein Empfinden ist zu blödsinnig fein organisiert. Wenn ich denke – wieder Nizza – Französisch – und das verwünschte Mittelländische Meer immer zur Seite, wo jedes auftauchende Segel mir unfehlbar den Gedanken an die zurückkehrende »Félicie« wecken muß . . . Nein, nein! . . . Es ist feige, aber ich vermag's nun einmal nicht zu ertragen. Ich möchte auch nicht den Leuten hier herum das Vergnügen machen, irgendwo tobsüchtig angehalten zu werden oder schwermütig niederzubrechen. Vielleicht bleibt mir auch das nicht erspart. Mir bleibt ja im Leben doch nichts mehr erspart – davon bin ich überzeugt. Darum wähle ich den Zug nach Genua. Das ist wenigstens die andre Richtung, da muß ich mich beruhigen, weil schlechterdings kein Segel die »Félicie« sein kann. Aber auch diese Fahrt war schrecklich. Und dabei war es doch ein Sirokkotag, der Himmel lastend, die See grau . . . Ich weiß nicht, wie ich die Zukunft ertragen werde, aber ich weiß, daß ich sie ertragen muß. Ein halbes Jahr jünger – oder hundert Jahr älter . . . Was gäbe ich drum! . . . Ich bin albern, ich bin lächerlich, ich seufze einer Frau nach, die das gar nicht liebt – und was das Schlimmste: ich hoffe noch immer. Wahrscheinlich werde ich aus meinem Karren überhaupt nicht herauszukomplimentieren sein, und wenn sie mich mit ihm umwerfen, werde ich mich noch an den umgeworfenen klammern. Und sie wird das selbst thun – sie selbst! . . . Herrgott, ich, der ich immer gefleht habe, ich möchte nur nicht feige werden in meinem Leben, bin jetzt beinahe verächtlich . . . Warum werfe ich nicht eigentlich alles hinter mich und pfeife auf jedes Versprechen? – Ein Recht habe ich dazu.

Als ich in Genua ausstieg und die Schaffner gerade wieder ihr: »Einsteigen nach Ventimiglia!« riefen, kroch mir der Ekel am Leben scheußlich wie ein Reptil über den Rücken. Hast Du ihn jemals gespürt? – Ich kann ein Lied davon singen! Er ist grau, lähmend, aber er tötet nicht.

In Genua blieb ich den ganzen Tag. Ich will erst in der Nacht über den Gotthard. Was ist Genua? – Ein häßliches, winkliges Nest. Was sind die Genuesen? – Betrüger . . . Und die Paläste, das Campo santo? – Ich habe gar keinen Sinn mehr für Schönheit. Ich bin nur froh, wenn nicht hinter irgend einer Straßenecke das Meer vorleuchtet! Ich schreibe an Dich in einer Bierstube der Galleria Mazzini. Ich schreibe mit zittriger Hand, die auch Ströme von Hennessy nicht festigen können. Und ich sitze dicht am Fenster, weil es mir völlig gleichgültig ist, ob ein Mensch sieht, daß ich mit feuchten Augen schreibe. Sie können ja wähnen, ich habe an der Riviera eine Frau oder ein Kind an Tuberkulose verloren. Ich verlor ja auch thatsächlich eine Frau – nur daß sie nicht tot ist und nie schwindsüchtig war.

Als ich gerade das Couvert schließen will, tippt ein Stöckchen ans Fenster: »Bon jour!« – Es ist der Graf mit den Sammetaugen. Er kommt auch ohne viele Weitläufigkeiten herein, weil er als alter Spieler durchaus kein dégout gegen mittlere Lokale hat, zumal wenn da ein anständiger Mensch sitzt. Darauf plaudern wir sarkastisch und witzeln häßlich. Es geht merkwürdigerweise ganz gut, als wenn der Geist nur ein Räderwerk wäre, das man aufzieht, und das abschnurrt. Das ist gut, sehr gut – und der fine Champagne ist dabei stark beteiligt! Von der Herzogin die erste Stunde kein Wort. Der Graf war zwar am Abfahrtstag in Nizza, aber viel zu bequem, um noch an Bord zu gehen. Er weiß genau, wie's mit mir steht, er lächelt vielleicht innerlich über mich, aber er hat den Takt und das Feingefühl des vornehmen Mannes. Erst beinah zum Abschiede – er will schon mit dem Ein-Uhr-Zuge zurück –, als ich aus einer Art Zerstreutheit den Brief an Dich noch siegeln will, sagt er lächelnd: »Soll ich Ihnen den Brief besorgen, Baron?« – »Danke, ich bringe ihn selbst auf die Bahn.« – »Nein, ich meinte es anders. Sie sollen mir den Brief zum Verbrennen geben und keinen oder einen neuen schreiben. Schreiben Sie, daß Sie im Begriff sind, sich aus dem Zweifel in die Orgie zu stürzen, was Alfred de Musset stets für das Vernünftigste erklärt hat. Es ist tatsächlich das Einzige – auch für Sie . . . Nehmen Sie's mir, bitte, nicht übel, Baron! . . . Sie erinnern sich meines Spaziergangs auf einer Terrassenbrüstung, der Sie ganz nervös machte – und Sie erinnern sich unfehlbar der Unterhaltung bei dieser Gelegenheit. Inzwischen hat sich irgend eine für den höflichen Gruß entschieden, während sie sich für die schweigende Hochachtung hätte entscheiden können. Irgend jemand leidet darunter. Aber ich versichere Sie, daß diese Frau irgend jemand nie geliebt hat – sonst wäre sie vielleicht gegangen, aber sicher nicht mit ihrem angetrauten Mann. Es thut mir herzlich leid um diese Frau. Sie wird sich mit dem sogenannten Pflichtgefühl belogen haben . . . Wäre ich meine Cousine – Ah! – Dann würde ich's wahrscheinlich ebenso machen wie die Frau, aber ich würde weniger an die Pflicht denken und mehr an das Vergnügen. Pflicht? – Ich bitte Sie, unter Leuten von Welt! . . . Daß man in solchen Situationen aushält, kann ich zur Not verstehen – daß man aber reuig zu ihnen zurückkehrt und darin die Pflicht erblickt, das vermag ich beim besten Willen nicht zu verstehen . . . Werden Sie um Gottes willen nicht böse, Baron! Ich meine es gut, auch mit der Frau. Sie ist hundertmal mehr wert als viele Frauen – sie ist eine gute, kluge, anständige Frau, die aber, seltsam genug, die Pflicht auf dem falschen Ende sucht. Sie fühlt sich wohl auch wohler dabei . . . Also schreiben Sie in dem neuen Brief: vive la joie  . . . Als ich Sie vorhin hier sah, wollte ich schon vorbeigehen, aber mir sagte irgend ein Instinkt, daß Sie gerade in dem Moment im Begriff waren, das Wandeln an Abgründen zu versuchen. Das ist nichts für Sie! Das paßt viel besser für meine Cousine und mich, die wir stets den einen Schritt rückwärts, aber nie den einen Schritt vorwärts thun. Und wenn Sie nun diesen Schritt vorwärts thäten, so dankt es Ihnen niemand, am wenigsten die Frau, für die Sie ihn doch thun . . .«

Das Gespräch drehte sich um diesen Punkt geraume Zeit. Der Graf will mir partout beweisen, daß selbst bei einer Frau wie Félicie nur die Gewohnheit und die Angst vor dem Skandal allmächtig seien. Alles Dazwischenliegende sei nur Episode . . . Der Mann kennt das Leben, er kennt die Frauen – aber er kennt seine Cousine Félicie ganz gewiß nicht!

Solange er da war, ließ ich mich unterhalten und widersprach nicht viel. Ich behandelte die ganze Angelegenheit als Marotte eines Blasierten und nebenbei als interessante Auseinandersetzung über die Frau überhaupt. Ich war auch, ehrlich gesagt, nicht in Kampfesstimmung – ich wollte nicht verteidigen. Es erschien mir viel wohlthätiger, zwei Stunden thatsächlich zu glauben, daß diese Frau genau so wie andre Frauen – nur anmutiger und darum gefährlicher . . . Glaube ich das wirklich? – Werde ich das jemals glauben? – Ich werde es niemals glauben! Niemals, niemals, niemals! . . . Und das sage ich nicht etwa von ungefähr. Wer wie ich in jeder dritten Minute eine geliebte Frau leidenschaftlich anklagt, eben weil er sie liebt, und weil er unglücklich ist – und wer trotz alledem immer wieder unfehlbar zu dem Satze zurückkommt: Sie ist doch ein edles, großherziges Geschöpf – der will eben nur die Gesellschaftsmoral kränken, aber nie sie selbst . . . Als der Zug nach Ventimiglia längst über alle Berge war, wäre ich am liebsten dem Grafen nachgesetzt und hätte ihm gesagt: ›Die Frau macht sich und mich unglücklich, nicht weil sie schlecht, sondern weil sie gut ist.‹

Und wie man das Widersprechendste immer an sich selbst erleben muß – ich traf auch noch die deutsche Reichsgräfin, und zwar mit dem berühmten Maler. Es war eigentlich für mich ein recht unerwünschtes Wiedersehen. Sie wollen übrigens beide heute noch nach Rom – sie Erster, er Dritter. Meine Landsmännin hat nun einmal eine Schwäche für berühmte Leute. Wir haben natürlich zusammen diniert. Das Gespräch drehte sich hier ausschließlich um Félicie. Die gute Reichsgräfin ist ahnungslos. Aber es war mir trotzdem ein weher Genuß, aus dem Munde der mütterlichen Freundin zu vernehmen, wie gut und schön die Herzogin schon als Kind gewesen sei. Und der Maler stimmte ein – und ich stimmte ein. Ich that es so gern, ich empfand Reue wegen vorhin. Die Reichsgräfin ging gleich nach Tisch – sie hätte noch eine Menge Besorgungen. Aber als der schmutzige, berühmte Mann das Thema »Félicie« auf eigne Faust fortsetzen wollte, da wurde es mir zu viel. So etwas ist Entweihung – »Sprechen Sie mir, bitte, von allem – aber sprechen Sie mir nicht von dieser Frau!« . . . Und das geniale Rauhbein begriff nicht mal. Es wurde im Gegenteil pikiert und ging. Mag er gehen – mögen sie alle gehen auf dieser Welt, alle, wie sie da sind, und mich allein lassen mit meinem dumpfen Schmerz! Ja, ja, das ist das schreckliche Auf und Nieder der Stimmung.

Um zehn Uhr nachts war ich in Mailand. Da auf dem Bahnhof habe ich auch noch meinen Hund verloren. Du brauchst Dich nicht aufzuregen wegen der Herzlosigkeit, Gert! Daß es mein treuester Freund war, weiß ich allein. Aber auch dieser Verlust ist mir gleichgültig. Man hat mir das schöne Tier wohl weggefangen, und es stirbt bei seinem neuen Herrn an Heimweh oder erduldet alle Qualen des Viviseziertisches. Vielleicht ist er auch weggelaufen, zurück an die Riviera, verzweifelt, winselnd nach ihr, vergiftet von demselben Zauber wie ich. Ich hätte in Mailand bleiben sollen, zu suchen, Belohnungen auszuschreiben. Das Tier war mir doch immer so viel mehr wert als ein Mensch. Aber ich kann nicht, Gert, ich kann beim besten Willen nicht! Ich muß weg! – Da faucht der Schlafwagenzug nach Basilea auch schon. Ich habe kaum Zeit, mir das Billet zu lösen . . . Armer Tip! – Ich bin doch ein Mensch und kann auch nichts andres thun als verkommen! . . . Aber jetzt im Augenblick nur fort, fort! Zu diesem thörichten Triebe langt's gerade noch.

Ich hatte die zwei Kabinenplätze Erster belegt, um die Nacht ganz allein zu sein. Ich lege mich trotzdem nicht hin. Ich lasse die Nachtluft durch das offene Fenster strömen. – Wenn doch der Gebirgshauch bald käme! Er soll ja das Herz frei machen und leicht – und ich habe ihn so nötig für meinen lastenden Alp . . . Und endlich kommt der frische, kühle Hauch von den Schneegipfeln gezogen. Es war ein Wahn – er macht doch nicht frei! . . . Es ist wieder Vollmond wie damals bei der Herfahrt. Auch ein Hohn. Es sollte düstere Nacht sein . . . Ich sitze auf meinem Bett und zähle mit der Uhr in der Hand die Minuten. Ich weiß nicht warum – aber ich muß etwas thun. Und ich rufe dem Zuge zu: ›Weiter, weiter!‹ – Ich muß vorwärts sehen, ich darf nicht zurückdenken, sonst werde ich rettungslos verrückt.

Wir fahren über den Gotthard. Wieder die Stickluft der Tunnel und das schwere Prusten der Lokomotive. Es geht alles so mühselig im Leben, wenn man nur die Augen aufmacht . . . Und hüben und drüben die firnbedeckten Bergriesen, starr, stumm; dazwischen, weich umrissen, silbriggrau der Fels. Und da – ich weiß nicht, wie es kam – werfe ich mich auf die Kniee und bete und bete mit bergeversetzendem Glauben um das Wunder. Ich thue es sicher das letzte Mal in meinem Leben. – Unser Zug gleitet vorüber an den Bergen – und sie rühren sich nicht – und mein Herz wird auch nicht leichter. – Da stehe ich langsam auf. Es ist alles Unsinn. – Ein Gefühl vermagst Du vielleicht im Gebet zu zwingen – Gefühle zwingst Du mit keinem Gebet . . . Bei dem Beten verlor ich dich erst ganz, Félicie, – dich und den Glauben.

NB. Ich habe in Frankfurt die Route geändert und fahre nach Hamburg weiter. Ich kann Belgien nicht passieren. Es ist mir unmöglich. Hoffentlich finde ich auch in Hamburg ein Schiff, das einen belgischen Hafen nicht anläuft.



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