Johannes Richard zur Megede
Félicie
Johannes Richard zur Megede

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Elftes Kapitel.

Sturm . . .

Nach Sonnenuntergang wurde es schon so merkwürdig schwül. Wir erstickten beinahe in dem atlasausgeschlagenen Coupé, das auch ich zur Rückfahrt benutzte. Félicie wünschte die gemeinsame Fahrt durchaus: »Die Leute mögen munkeln oder nicht . . . mag es eine Verabredung sein! Aber heute kein Verstecken spielen, heute nicht! – – Morgen – morgen – ich habe ein Grauen vor dem Morgen.«

Weit drüben über Monte Carlo ein schwefliges Wetterleuchten. Unsre Rassepferde gingen in unruhigem Trab. Als wir in den Schloßhof einfuhren, lag der Park düster, stumm, mit schweren, heißen Düften. – Das Diner – eine einsilbig schleichende Unterhaltung bei fast unberührten Speisen. Wenn ein Teller klirrt, fährt die Herzogin nervös zusammen. Der Diener hinter dem Stuhl lächelt diskret. Wir stehen sehr bald auf. Félicie reicht mir matt die Hand. Sie spricht französisch: »Verzeihen Sie, Baron, wenn ich mich schon jetzt zurückziehe. Der Besuch und die Fahrt haben mich doch sehr angestrengt. Ich merke das jetzt erst. Mein Herz verträgt große Strapazen wohl nicht mehr.« . . . Bei den letzten Worten schillert das große, müde Opalauge noch einmal licht . . . Ein Blitz zuckt durch das gotische Riesenfenster, so daß die bunte Glasmalerei Leben bekommt. Es ist eine Scene aus der Legende – ein Apostelkopf bewegt sich, ein Heiligenschein leuchtet fahl . . . Ganz fern der Donner wie ein dumpfes Knurren.

»Gute Nacht, Baron.«

»Gute Nacht, Herzogin.«

Ich gehe auch sofort in mein Zimmer – auf meinen Lauscherposten an der Portiere. Félicie kommt gegen alle Gewohnheit bald. In der schwülen Stille höre ich jeden Ton. Sie geht auf dem weichen Teppich auf und ab – bald schleppender, bald schneller Schritt. Sie hält sehr lange aus – ich verstehe sie nicht. Dann bleibt sie stehen. Das Seidenkleid knittert, als wenn sie niederkniete – ein fremder Laut, als wenn jemand, das Gesicht auf ein Kissen gepreßt, leise schluchzte. – Jetzt verstehe ich sie – Ich könnte auch weinen.

Ich rühre mich nicht, bis sie wieder aufgestanden. Die Thür zum Schlafzimmer knarrt kaum hörbar – ich bin allein. Vielleicht heut zum erstenmal ist es mir recht. Auch ihre Nähe war mir Qual . . . Mir ist ums Herz so weh . . . Die verwünschte Gewitterluft drückt wohl auf meine Nerven. – Eine halbe Stunde, wo ich mit brennenden, trockenen Augen in das knisternde Licht auf dem Marmortisch starre. Auf der hellen Wand gegenüber spielt der Schatten. Ein paarmal überflutet ihn die Helle eines Blitzreflexes. Ich horche nach dem Donner, als brächte er Befreiung – aber wieder nur das ferne, drohende Knurren . . . Ich öffne das Fenster, weil ich die Atmosphäre nicht mehr aushalten kann. Die Cypressen starren wie umflorte Fahnenmasten bei einem Begräbnis. In den Mimosenblüten säuselt's, der Zweig einer Steineiche nickt. Nachtgetier schwirrt, von der Helle gelockt, ins Zimmer – ein großer Falter flattert mit. Ich sehe ihm nach, er flattert geblendet gleich ins Licht und taumelt mit versengten Flügeln auf den Leuchter. Die sammetnen Fühler zappeln verzweifelt, während er sich rücklings quält. Ekkehard fällt mir ein – und die Herzogin Hadwig – und der arme Falter, der ein Mönch war . . . Ich ein Mönch! . . . Ich möchte über diese thörichte Vorstellung lachen . . . ich vermag es nicht mehr.

Das Säuseln draußen wird stärker – auch die Cypressen klagen leise.

Ich war noch im Park. Es trieb mich. Ich mußte den Felsweg noch einmal gehen, den ich am ersten Morgen mit ihr gegangen. Ein schwüler Wind fächelt die brennende Stirn . . . Ich sah die schwefligen Blitze über dem Meer ruhelos aufzucken – die Umrisse von Baum und Busch zeichneten sich scharf in dem gespenstischen Licht. Dann gähnte unter mir der Abgrund – der Fels häßlich gelb, die See tückisch grau. Das Unwetter hing schwer lastend über Nizza. Der ganze Horizont ein schwarzer Qualm . . . Jetzt zuckt's unaufhörlich. Die Felslinien des Ufers in fahler Helle leuchtend – dabei das Gestein tot und starr wie auf einem Wüstenbilde. Der Sturm sammelt wohl Kraft für morgen . . . Mir schwindelt auf dem Felspfad heute nicht.

Auch unten am Wasser war ich und stand auf der Felsplatte am Bootshafen, von wo der Duc sich vor sechs Tagen eingeschifft. Eine lächerliche Spanne Zeit – und was birgt sie? – Das Schicksal eines Menschen ganz gewiß – vielleicht das von dreien sogar. Ich starre in das schwarze Meer. Es ist kaum bewegt; nur bei den leuchtenden Blitzen sieht man das feine Wellengekräusel. Die Brandung ein schmaler, weißer Streif, aber unheimlich. Sie gischtet so leise und so hohl . . . Auf der Felsplatte an dem dunkeln, tiefen Wasser kamen mir böse Gedanken. Sie kommen wohl jedem einmal . . . Warum kündet sich eigentlich der Sturm so lange an? Warum kommt er nicht morgen ohne warnende Wetterboten – urplötzlich? Die Jacht in See – der Duc am Steuer – die schwarzgrünen Wogenberge – der zersplitterte Mast – die vor Angst verzerrten Gesichter – die paar verzweifelten Schreie – endlich ein angespülter Leichnam, der mich über das Schicksal eines Mannes beruhigt . . . Scheußliche Gedanken! . . . Verdammt mich meinetwegen! Oder ich selbst will am Steuer sitzen, es soll meine Leiche sein. Und wenn die habgierige Flut mich nicht herausgiebt – auch gut. An einem ehrenvollen Begräbnis liegt mir nichts. Es hieße höchstens ein Memento für sie – ein Stein, nach dem eine heimlich pilgert, das Gruseln einer sentimentalen Erinnerung, die dennoch wohlthut . . . Darin bin ich doch ganz anders als die Frau. Für sentimentale Erinnerungen habe ich zu heiß gefühlt . . . Ich bin sicherlich nicht schlecht! Aber was mir der Himmel nicht geben will, das nehme ich gern von der Hölle . . . Lieber Gert, ich ventilierte in dieser Nacht sehr ernstlich den Gedanken, ob ich mich nicht durch einen Sprung frei machen sollte. Es wäre ja nur ein unglücklicher Zufall. Die Frau würde vielleicht auch aufatmen. Aber die Welt ist lächerlich. Etwas Lächerliches durchkreuzte auch meinen Entschluß. Ich bin ein allzu guter Schwimmer, ich könnte am Ende doch ans Land kriechen wie eine gebadete Maus und hätte nichts davon als einen Schnupfen und den Ekel vor der eignen Jämmerlichkeit. Wir Nervenmenschen haben viel Anlage, feige zu werden. Und meine eigne Feigheit würde mir noch weher thun als eine andre . . . Durch dieses Resumé bin ich eigentlich schon feige, und im Zenit des Glücks an Selbstmord zu denken, ist vielleicht die größte Feigheit. Wir denken alle zu viel und vergessen darüber die rettende That – Die That, ob gut oder schlecht, gilt allein! Ich glaube, daß uns ein Gott nur nach den Thaten richten wird. Und da oben werden keine mutigen Thatsünden, sondern nur feige Unterlassungssünden gebüßt. Schon hier – mit dem kleinen Finger, den ich einem Ertrinkenden reiche, thue ich etwas Besseres, als mit dem größten Gedanken für eine ertrinkende Menschheit. Die That, und nochmals die That! Und dabei gelten die meisten Guten nur für gut, weil, sie aus Schwäche keine Sünde ganz thaten. Schöne Heilige die!

Ich steige den Berg, ganz artig wieder hinauf. Da ist wieder der Bann dieses Schlosses, der mich erst peinigt und dann ernüchtert. Jeder unterliegt ihm auf die Dauer – Félicie auch – Weit da draußen die frei atmende Brust, das ganze Gefühl, die ganze Sünde; hier drinnen sofort das beengte Herz, die kleine Verantwortlichkeit, der weinerliche Bankrott. Die Tradition umgiebt uns eben mit so viel kleinen Gefühlen, daß das große lächerlich oder lästig wird . . . Entfliehen? – Non, mon cher frère. Jetzt müßte ich schon mir selbst entfliehen, und das geht bekanntlich nicht anders als durch den Tod.

Ich muß übrigens sehr lange in der Schwüle gewandelt sein, denn ich hörte im Schlosse eine Uhr Mitternacht schlagen. Als ich oben auf der Terrasse noch einmal zurücksah, war der Horizont drüben nur ein tiefschwarz umrissenes Feuermeer, das sich unheimlich genug in dem bodenlosen Wasser spiegelte. Zuweilen grollt dumpfer Donner. Es beginnt stärker zu wehen in lang ausholenden Stößen. Die Büsche beugen sich, die Cypressen knarren. Die Brandung geht hohler. Wie ich die Treppe hinaufschlich, um niemand zu stören, auf Zehen, sah ich von der Ahnengalerie her einen blassen Lichtschein. Ich dachte sofort an Diebe. Und so wenig mir der Herzog genehm, gegen Einbrecher will ich ihn gern schützen. Ich war aber grundlos mutig. Der Lichtschein kam aus dem offenen Musikzimmer. In der Ahnengalerie lehnte eine schwarze Gestalt am Fensterkreuz. Und die reizenden Linien dieser zierlichen Gestalt würde ich wohl in der ewigen Finsternis noch erkennen!

Bei einem Knarren der Diele fährt sie leicht zusammen. »Félicie!« sage ich leise.

»Ach, Sie!«

Ich fasse eine fiebernde Hand. Und sehe in ein furchtbar blasses Gesicht: »Was ist dir? Bist du krank? Oder bist du mir böse wegen heut nachmittag?«

Sie schüttelt den Kopf: »O nein! Ich könnte doch höchstens mir böse sein. Und ich bin auch mir nicht böse . . .«

»Hast du auf mich gewartet?«

»Nein. Ich habe Sie wohl gesehen vorhin auf der Terrasse. Ich starre schon über eine Stunde hier hinaus in die Blitze. Ich war todmüde – und konnte doch kein Auge zuthun . . . Ich bin so verzweifelt!«

»Du bereust doch, Félicie?«

»Nein!« antwortet sie fast empört. »Sie suchen bei mir ein tiefes Gefühl, und ich gebe es Ihnen. Mehr kann ich nicht!« – – Sie sieht mich lange an mit großen, dunkeln, fiebernden Augen . . . »Seien Sie einen Augenblick ganz still! . . . Es ist niemand da . . . Nun kommen Sie schnell!«

Dann nimmt sie mich hastig bei der Hand und führt mich ins Musikzimmer . . . »Küssen Sie mich noch einmal, aber schnell!« –

Dann umarmt sie mich rasch mit ihren weißen, weichen Armen. »Machen Sie die Augen zu!« Sie küßt mir hastig Mund und Augen. Als ich ein Gleiches thun will, tritt sie zurück. »Lassen Sie! Es ist genug . . . Ich habe Sie wirklich lieb! – Glauben Sie es mir jetzt endlich?« Ihre geliebten Augen sehen mich dabei fest an, als wenn sie sagen wollten: ›Nun, du Kleingläubiger, bin ich kleinlich?‹

Nein, bei Gott, kleinlich ist sie nicht! Wo sie sich auf sich selbst besinnt, da ist sie groß. Wenn nur nicht die lähmende Tradition dieses verwünschten Schlosses wäre!

Ach, Gert, ich bin doch so glücklich, so dankbar! . . . Wir blieben nicht lange. Sie trieb zum Gehen. Als ich bereits über eine Stunde wieder in meinem Zimmer, klopft's hinter der Portiere, und eine liebe, weiche Stimme sagt: »Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

Es wohnt ein böser und ein holder Zauber in diesem Schlosse. Welcher ist mächtiger?

*

Gegen Morgen kam das Wetter herauf – so schwer, wie ich noch nie eins erlebte. Mein Zimmer war ohn' Unterlaß in das blaue, zuckende Licht getaucht, so daß mir die Augen schmerzten. Der Donner rollte tief und schwer. Die dicken Mauern des Sarazenenschlosses erbebten davon. Aber nur ein einziger, prasselnder, betäubender Schlag – er zerriß den Patriarchen des Parks, eine hellrindige Seepinie, in zwei Stücke. Das gelbe Holz war schwarz gesengt, der Felsboden ringsum aufgerissen. Der Mond sah gemächlich zu. Er hatte sich verspätet und hing als umflorte Scheibe über einem Kap . . . Wohl kein Bewohner des Schlosses vermochte diese Nacht ruhig zu schlafen. Ich selbst ging schon um sieben in die Halle, die Dienerschaft war da versammelt, aufgeregt, mit bleichen Gesichtern.

Das Wetter zieht endlich ab, im schwarzen Qualm, wie es gekommen, seine Nachhut das unheimliche, schweflige Leuchten. Die Atmosphäre ist dick, staubgesättigt. Es fiel kein Tropfen Regen. Dafür peitscht ein Orkan mit wilden Böen Küste und Meer. Die Brandung rast. Von der Halle sieht man deutlich die ungeheuerlichen Schaumberge . . . Der Diener vergaß, mich nach meinen Kaffeewünschen zu fragen. Die Leute fürchten ein Erdbeben. Das letzte ist noch manchen in schrecklicher Erinnerung. Es sind alles strengläubige Katholiken in der Gefahr, sonst kaum Gewohnheitsbeter. Selbst die Finger der sehr gerissenen Kammerjungfer vibrieren angstvoll, als tasteten sie alle Kugeln eines Rosenkranzes ab. Sie sind wie die Neapolitaner, die auch nur für ihre Sünden fürchten, wenn sich die rosige Wolke über dem Vesuv zu der riesigen, dunkeln Pinienkrone verdichtet, oder wenn der Zerstörer von Pompeji plötzlich Unheil kündend verstummt. Ich fürchte nicht für meine Sünden!

Die Herzogin war in ihrem Zimmer geblieben. Gegen neun kam ein Telegraphenbote von der zwei Meilen entfernten Station. Er erzählte, daß dies wohl das letzte Telegramm sei für einige Zeit, weil der Sturm überall die Leitung unterbrochen. An der Levante-Riviera sähe es noch weit schlimmer aus. Der Bahndamm unterspült oder überflutet, ein ganzer Zug von den Geleisen gerissen . . . Kaum war der Mann weg, da schrillte die elektrische Glocke. Die Herzogin befahl mich ins Verandazimmer. Sie ist blaß, welk, nur die fiebernden Augen leuchten. »Da!« Sie reicht mir das Telegramm: »Ein Wetter im Anzuge – meine Bootsleute streikten beinahe – ich gehe trotzdem in See. Edmond wettete gegen. Auf Wiedersehen, Charles.«

Ich reiche es ihr stumm zurück. – Wir sind ganz allein, wir könnten uns mit Gemütsruhe küssen. Es ist aber der berühmte »Morgen« nach dem »Gestern«, wo man es nicht thut, weil man sich geniert.

»Rauchen Sie übrigens ruhig Ihre Zigarette, Baron!«

Ich knipse gehorsam das edelsteinbesetzte Goldetui auf – eines von den unglaublich-thörichten Andenken an Berlin nach einem glücklichen Hoppegartener Renntage. Félicie liebt es nicht, weil ihr feiner Geschmack alles Aufdringliche haßt. – Die Unterhaltung will nicht. Wir haben zu denken. Bei ihr sind's wohl reuige, bei mir finstere Gedanken. In dem Zimmer ist noch der Pflanzenduft, die trockene Schwüle des Tages vorher. Lange ertragen überreizte Nerven solche Luft nicht. Ich empfinde das Zimmer wie ein Gefängnis, das Schloß wie eine Zwingburg.

Félicie, die brütend vor sich hinstarrt, empört sich zuerst gegen den Bann. »Ich muß 'raus – ins Freie – in den Sturm. Klingeln Sie, bitte! . . . Sie sollen auch mitkommen . . . Der Kutscher wird gleich anspannen, die Viktoria natürlich, das Coupé ertrüg' ich heute nicht. Der Diener mag zu Hause bleiben. Er und die Kammerjungfer sind wie alle brutalen und zugleich hinterlistigen Mensch auch bei dem Schatten einer Gefahr schon in Todesangst. Wir wollen die Küste entlang fahren, dann in einem Hotel frühstücken . . . Hier im Schlosse – selbst mit Ihnen, mein Freund – ich halt's nicht aus! Es mag eine Art Krisis sein. Gleichviel! Eine Nacht wie die gestrige noch einmal erträgt mein Herz nicht . . .« Dann sagt sie zu sich selbst: Wenn ich doch jemand hätte, der mir raten könnte!‹ . . . Als ich sie ansehe, fügt sie nervös hinzu: »Sie dürfen mir nicht raten – Sie nicht! . . . Ich habe Gott um eine Erleuchtung gefleht . . . Er zürnt . . . Er schickt mir keine . . .«

Es ist vielleicht der entscheidende Moment in meinem und in ihrem Leben. Wer die Schwankende gewaltig an sich zieht, dem gehört sie für immer. Ich kann's nicht. Zwar weder der Gedanke noch der Mut würden mir fehlen. Wenn ich ohne ein Wort jetzt die Glasthür nach dem sogenannten Balkon öffne, hinaustrete – (der Fels stürzt an dieser einzigen Stelle fast senkrecht in die Tiefe) dann der ahnungslos Zuschauenden nur der eine Blick: ›Tot oder lebendig? Wähle!‹ . . . Und welche Frau wankte da nicht mit einem heiseren Schrei auf den Mann zu, wie irr nachher stammelnd: ›Thue mit mir, was du willst, aber thu mir das nicht an!‹ . . . Bei mir wäre das nicht einmal Komödie. Doch die Phrase jeder Art, auch die tötende, widerstrebt jetzt meinem Empfinden. Ein Theatercoup rächt sich stets. Ist die Frau, was sie scheint, dann habe ich es auch nicht nötig, dann findet diese tiefe Natur doch noch einmal selbst blindtastend den einzigen Ausweg aus dem Labyrinth. Sonst . . . Ich will mir mein Heiligenbild nicht freventlich selbst zertrümmern.

Es war eine wilde Fahrt in dem Sturm – wild und schön. Im Sturm finden wir Nordländer uns doch erst wieder. Er leiht uns etwas von seiner Kraft . . . Heute habe ich zum erstenmal Oliven im Sturm gesehen. Schön! Die Straße lang dies grauschimmernde, wogende Blättermeer, das eine heulende Bö unbarmherzig züchtigt, bis die zerklüfteten Stämme, zur Erde gebogen, wie die Kinder klagen. Demgegenüber rauschen die Pinien fast stolz. – Es ging zuweilen scharf bergab. Die Pferde schnaubten ängstlich, wie sie der Sturm gegen den Fels drücken wollte, die offene Viktoria knarrte und legte sich einen Augenblick bedenklich auf die Seite. Uns beiden ging der Atem aus. Die Tiere waren fast im Durchgehen, als dann ein abgerissener Pinienast über ihre Köpfe weg in den Abgrund geschleudert wurde. Der englische Kutscher that seine Pflicht und hielt die Wildbäumenden mit eiserner Faust.

Endlich sind wir unten an der Küste. Es war doch das Schönste. Der Weg biegt sich da. Das Gespann trabte ruhiger, weil der abgelenkte Wind es nicht so scharf fassen konnte. Zwischen himmelansteigender Wand und tobendem Meer geht's dann wie durch ein Defilé. Das Meer ist wirklich rasend. Tiefgrün, Wogenberg auf Wogenberg heranrollend – in dumpfem Laut draußen, wo die Schaumkämme sich überstürzen, mit einem erschütternden Gebrüll neben uns, wo die Wellen am Felsstrand haushoch emporschlagen, das Meer weithin bedeckend mit gischtendem Schaum.

Dazu das fahle Licht, die schwüle Staubluft, der schwere Orkan, der den scharfen Salzhauch der See herträgt, so daß die trockenen Lippen brennen. Die Pferde werden wieder unruhig, drängen schnaubend gegen den Fels. Die Brandung hat die Brustwehr der Straße über Nacht zerschmettert und wühlt jetzt dumpf heulend in den Trümmern. Der weiße Strahl zuckt wie eine Riesenfontäne empor. Spritzwellen übergießen von Zeit zu Zeit die Straße, und das Wasser rieselt gierig. Unter der Peitsche mit klatschenden Hufen jagen die Tiere durch. Wir sprechen kein Wort. Uns bangt auch nicht. Die wilde Schönheit des Bildes nimmt uns gefangen – dieser wilde Kampf der Elemente, der selbst den Fels über uns erschüttert, so daß kleine Steine herunterrollen. Ein großer Block zur rechten Zeit wäre vielleicht besser, als diese von Absatz zu Absatz hüpfenden Brocken, die zuletzt mit einem hellen Klacks in den Staub fallen. Ich fürchte den Block nicht, ich wünsche ihn auch nicht, denn ich habe so ein Gefühl von trotziger Kraft, die sich ihr Schicksal selbst machen möchte. Das ist der Sturm. Wie wunderbar er doch die Nerven peitscht!

Wir sind jetzt an der schwarzen Klippe. Ist sie eigentlich noch? Die grünen Wogenberge sind über sie hergefallen, hüllen sie in tobenden Gischt, umbäumen sie mit Geheul, als wenn die thörichte See den Stein züchtigen wollte. Und der schwarze Fels erbebt thatsächlich unter ihr . . . Zwei Tage später? – Dann hebt sich die schwarze Klippe wieder über kosenden blauen Wellen, so unversehrt und so leblos wie je. Ich nehme übrigens das Omen an! So will ich selbst den Sturm auch bestehen . . . Und ein schlechtes Omen ist's wiederum doch. Was nutzt's schließlich, wenn ich zurückbleibe als etwas ebenso Düsteres, Starres?

Wir lassen den Wagen nicht halten an der geheiligten Stelle. Félicie blickt jetzt unverwandt nach vorwärts, ich blicke unverwandt zurück. Die schwarze Klippe! . . . Was mir heute urwüchsige Kraft, das scheint der Frau neben mir vielleicht gottloser Frevel. Was mir im Sturm die Nerven strafft, das Herz stärkt, bei dem zieht sich vielleicht das andre Herz mimosenhaft zusammen, der Nerv erschlafft. Das ist ihm alles zu wild, zu häßlich! Félicie wünscht vielleicht gar nicht diese Empörung zu verstehen in ihrer wunderbaren Kraft und wunderbaren Nacktheit. Es gilt ihr vielleicht als göttlich Zeichen, reuig zurückzukehren zu der Tradition, der Ordnung. Wer kennt die Frauen? Ihr Mut, ihre Nerven sind vielleicht ganz anders als die unsern. Die mutige Frau lockt oft das stumme Martyrium, wo uns der Heldentod frommt . . . Vielleicht, vielleicht . . . Das sind so Reflexionen. Es wäre auch in dem Getöse gar keine Möglichkeit gewesen zu längerem Gedankenaustausch, höchstens mal ein leidenschaftlich geflüstertes: Je t'adore, das diese feine Ohrmuschel doch erfaßt, und das die Augen mit einem lieben Lächeln zurückgeben.

Wo nach dem Küstenort zu das Vorland sich weitet, rollten die Wogen mit gleichmäßigem, dumpfem Donnern auf den breiten Sandstrand, sie rollten bis zum Eisenbahndamm, den sie unterwühlten, überspülten. Ein Zug versuchte gerade vergeblich noch durchzukommen – die Wagen unsicher schwankend hinter der keuchenden Lokomotive. Schließlich bohrten sich die Räder nur noch tiefer in den nassen Sand.

Die Kraft des Sturmes ist noch lange nicht gebrochen.

Ein Wunder giebt's auch noch.

Wir fuhren direkt nach dem Hotel durch fast menschenleere Straßen. Die Gaffer und die Aengstlichen waren vollzählig bei dem einsinkenden Eisenbahnzug versammelt, oder sie standen am Hafen. Die Stupiden und die Alten hüteten das Haus, weil auch der Orkan sie nicht aus ihrem Phlegma zu rütteln vermochte. Das Dejeuner in der Glashalle des Hotels war schlecht. Der observierende Oberkellner, ein paar Schwindsüchtige: das war die Gesellschaft. Die Thatkräftigen sind ausgeflogen. Uns hielt's auch nicht allzu lange. Schon der gewisse Zwang . . . die thörichten Gedanken . . . Mich fieberte bei der Vorstellung, daß der Duc jetzt auf See – im Orkan – im rettungslos verlorenen Schiff. Bei derselben Vorstellung fröstelte sie. Im Grunde unsers Herzens glauben wir aber beide an das herzogliche Wagnis gar nicht. Wir sehen über die empörte See hinweg, deren weiße Schaumkämme aus tückischem Graugrün bis hier heraufleuchten. Wir haben die Augen nach innen. Der Sturm rüttelt heulend an den Fenstern, dazu brüllt der dumpfe Wogenlaut wie ferner Geschützdonner. Es war jenes wache Träumen, wo man sieht, ohne zu sehen, und hört, ohne zu hören.

Als wir langsam aufstanden, langsam gingen, schaute uns der Oberkellner kopfschüttelnd nach. Die Schwindsüchtigen tuschelten. Hotelklatsch! Die Leute müssen doch ihr Vergnügen haben. Draußen sieht mich Félicie scheu an:

»Wohin?«

»An den Strand, denke ich, wenn's dir recht ist.«

»Aber die vielen fremden Leute?«

»Ach, die Leute!«

»Also kommen Sie!«

»Aber ich bitte dich, Félicie, wenn du wo anders hin willst?«

»Nein, kommen Sie!«

»Aber Félicie!«

»Nein, kommen Sie!« Sie ist sehr selten eigensinnig. Und vielleicht kann sie gerade in diesem seltenen Eigensinn einmal etwas thun, wovon die große Güte nichts weiß. Sie hat übrigens recht mit ihrer Abneigung gegen die Strandpromenade. Zuweilen wäre ein Blick in die Zukunft auch gut.

Ich will mich kurz fassen. – Der Strand am Hafen, mit Menschen gespickt – Kurgäste, Fischer, angstvoll die einen, neugierig die andern. Seit Menschengedenken erlebte die Riviera nicht solchen Sturm. Die paar Segelschoner auf der unsicheren Reede sind von der Mannschaft verlassen, ein Spiel der Wogen; die ans Land gezogenen Fischkutter laufen Gefahr, von der Brandung zerschmettert zu werden. So weit das Auge reicht, ist die See ein grünweißer Hexenkessel. Ganz auf der Höhe ein einziges Schiff . . . es ist wieder die verwünschte »Félicie«, die diesmal mit dem sicheren Verderben zu ringen scheint.

Das übrige erlaß mir, Gert . . . Wir haben stundenlang auf einem Fleck gestanden, das Ziel der hämischen oder verwunderten Blicke. Sie kennen wohl alle die todgeweihte Jacht da draußen – und kennen auch wohl alle uns. Wir haben kaum ein Wort gesprochen. Ich habe um den Untergang gebetet, sie um die Rettung. Ich bin ein Mann, und sie ist ein Weib. Ich kann die Weltordnung auch nicht umkehren . . . Die Jacht rang so schwer und so mutig wie nur je ein Schiff. Ich hätte selbst drauf sein mögen. Schade! – denn dann wäre sie sicher untergegangen, während sie so sicher davonkam. Nur ein Wunder konnte sie retten. Sprang der Sturm auf Ost, war sie geborgen – blieb er auf West, war sie verloren. Er sprang um vier Uhr nachmittags auf Ost . . .

Wozu giebt's Wunder? Ha! . . . Aber wozu geschehen sie andern? Mein böses Gebet war doch sicherlich stark, und ihr gutes Gebet war sicherlich schwach. Ich hätte das zierliche Schiff mit schrecklicher Gemütsruhe auf den Klippen zerschellen sehen. Als die Jacht endlich gerettet in die hohe See hinaustrieb, sah ihr eine zitternde, todblasse Frau nach. Das war der Augenblick, wo ein Mann ein wahnsinnig geliebtes Weib beinah haßte . . . Aber ich bin ungerecht, die andern rechnen auf den Himmel da oben, ich will ihn schon auf Erden.

Die See raste wohl noch lange weiter, und Schiffstrümmer trieben noch wochenlang an die Küste.

Félicie fuhr nach dem Schloß. Ich sollte durchaus mit. Die Opalaugen sagten noch immer: ›ich habe dich lieb‹ – aber es war in diesem Leuchten mehr gütiges Mitleid als sündige Kraft. Ich blieb fest. Ich mußte die zwei Meilen gehen. Der Weg that mir gut, das heißt, er gab mir die Schwäche des Hoffens wieder . . . ›Augenblicksreue eines guten Herzens,‹ dachte ich von vorhin. – ›Sonnenwende des Glücks‹: wäre richtiger gewesen . . .

Ich schreibe Dir wie ein Mann – und bin es doch nicht mehr. Ich bin ein hoffender Thor – weiter nichts.

Den Abend waren wir nicht zusammen. Ich grollte mit mir und mit ihr. Der feige Groll, der nie That wird! . . . Sie war gütiger, und ich hörte noch durch die Portiere ein weich geflüstertes: »Gute Nacht« . . . Nein, Gert, kleinlich ist sie wahrhaftig nicht! Sie ist wie alle gütigen Frauen auch wieder peinlich gerecht und hält blind, was sie versprochen. Sie hat einmal gesagt: ›Ich liebe dich‹ – daran wird sie treu festhalten, bis das letzte Atom des Gefühls geschwunden . . . Trotzdem hat der Sturm, der im Wunder die Jacht rettete, auch diese Ehe gerettet. Die Frau nimmt's als ein Zeichen von oben, als die Erleuchtung, um die sie nächtlich gefleht. Damit hat sie den festen Punkt . . . Auf diesen Punkt wird sie sich retten – ich werde an diesem Punkt zerschellen. Warum gab mir denn eigentlich die Vorsehung das große Gefühl? – Nur um an einer unsagbar wehen Erinnerung lebenslang zu siechen – oder um mit leichterem Herzen zu sterben?

*

Die Nacht? . . .

Ein berühmter Afrikareisender behauptete mir einmal, der Mensch hielte viel mehr aus als eine Katze. Ich nahm's als die berufsmäßige Aufschneiderei aller Afrikareisenden. Der Mann hat aber nur zu recht.

Die ganze Nacht heulte die Brandung mit ohrenzerreißender Wut. Meinen »Schlaf« störte sie nicht. Am Morgen eine unschuldig lächelnde Sonne, ein frischer Wind. Der festlich glänzende Park rauschte. Und durch das muntere Gezweig hindurch sah ich unten die blauschimmernden Wogenberge lang und majestätisch heranziehen und im weißglitzernden Sturz sich brechen am Fels. Die Luft von jener kühlen, jungfräulichen Reinheit wie nur nach einem großen Sturm. Ich hatte den Kaffee bei mir im Zimmer genommen. Das weiche Rauschen des Kleides und der weiche Morgengruß hätten mich heute getötet. Erst gegen Mittag ging ich hinunter. Die Leute hatten die letzten Spuren des verheerenden Orkans beseitigt – die Kieswege waren säuberlich geharkt, die verwüsteten Bosketts geordnet. Von der zerspellten Seepinie zeugte allein noch das schwarze Loch im dürren Fels. Es duftete alles nach Frühling, ein thörichter Vogel zwitscherte auch. Ich ging später den Schlängelweg entlang hinunter nach dem Meer. Die »Félicie« war geborgen. Sie wiegte sich mit zerrissener Flagge und eingezogenen Segeln, fest verankert, anmutig und schlank auf der blauen Krystallflut. Die Sturmfahrt, der Sturm selbst erschienen mir jetzt wie ein müßiger Traum. Vom kleinen Bootshafen ruderte eben ein Matrose nach der Jacht zurück. Auf halbem Wege kam mir das herzogliche Paar entgegen. Arm in Arm – sie sind ja verheiratet, und der schmale Pfad ist gefährlich. Félicie wieder sehr blaß, ihr Blick mied mich. Die Todesangst um den Mann, die lange Trennung – es war so selbstverständlich und so rührend, das Leiden, bei dieser herzkranken Frau! Der Duc, angeregt, federnden Schritts, mit jenem feinen Siegerlächeln nach einer mutig überstandenen Gefahr. Wir begrüßten uns mit einem sehr höflichen Händedruck.

»Na, haben Sie das Haus auch gut behütet, Baron?«

»Ich hoffe, Herzog, obgleich es bei der Gelegenheit ums Haar eine Trauerfeier gegeben hätte . . .«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie waren doch gestern an Todesenden mit Ihrem Schiff! – Aber Sie haben Glück . . . Wen nur ein Wunder retten kann – und wen dies Wunder rettet . . .«

»Ach so. Sie meinen den Sturm! – So schlimm war das übrigens doch nicht. Eine Stunde dachte ich allerdings auch: ›Ade, schöne Welt!« – Die Mannschaft hat sich ganz vorzüglich gehalten. Mut ist eben Gewohnheit . . . Ich gedenke heut nacht einen sehr langen Schlaf zu thun. In den zwei letzten Nächten war davon nicht die Rede.«

Aber es eilt ihm nicht. Der Herzog hat so viel bessere Nerven als ich. Er interessiert sich auch noch vorläufig so sehr für den Park und den Sturmschaden, den der erlitten. Er will alles sehen, begutachten. Ich muß, schon aus Anstand, mit. Mir ist aber dabei genau so zu Mute, als wenn ich die Leidensstationen eines Kalvarienberges durchzumachen hätte. – Er hat in seiner Frau und mir zwei recht stumme Begleiter, dieser wiedergekehrte Hausherr. Aber kein Mißtrauen, keine verwunderte Frage!

»Siehst du, Félicie, da hat auch ein schöner Mimosenast dran glauben müssen? . . . Und die Agaven – schade! . . . Die Herrschaften scheinen doch nicht das liebevolle Auge zu haben . . . Ich hab's nun einmal. Ich sehe überhaupt alles, alles.«

Der Narr!

Es wäre lächerlich, wenn es nicht so traurig wäre. Und wir lächeln stumm dazu, wie wir zu dem größten Unsinn stumm lächeln würden.

Der Herzog ist unermüdlich. »Und nun zu der blitzerschlagenen Pinie! Es ist ein Jammer – der schönste Baum auf der schönsten Stelle . . . Was doch das gleich für ein Unterschied ist! Unser mächtiger Bergfried, auf den wir so stolz waren – nicht wahr, Félicie? Der dumme Blitz!«

Dann wird er gefühlvoll, wie das die heimgekehrten Männer schöner Frauen so zu überkommen pflegt. Er klopft der Herzogin die Hand. »Bin eigentlich undankbar! Dich hätte der Blitz ebenso gut treffen können, Félicie, und dann besähe ich das schönste Juwel meines Schlosses heute nicht mehr.« Bei den letzten Worten entzieht sie ihm mit einem matten Lächeln die Hand. Die Lüge solcher Ehe ist trotz aller Tradition zuweilen widerlich. Das Beben des Ekels fühlt der Narr natürlich auch nicht. Er hält's alles nur für Frauenlaune, die man witzelnd gewähren lassen soll . . . »Ach, ich verstehe! Ich bin dir zu galant in Gegenwart eines Dritten. Du liebtest das nie . . . Aber da hinauf müssen wir doch noch, meine Herrschaften! Wunderbare Aussicht! Es ist gerade was für Maler. Und Sie waren natürlich noch nie oben, Baron? Félicie vielleicht vor zwei Jahren das letzte Mal.«

Wir steigen im Gänsemarsch den halsbrechenden, steinigen Ziegenpfad hinan, ich der letzte. Es geht so wunderbar steil überall in die Tiefe. Wo ist der Schwindel? Ich kenne ihn nicht mehr. Das Leben ist eine Dummheit, der Tod ist eine Dummheit – und ich bin den Pfad hier schon zweimal gewandert, was gestern im Sturm wirklich keine Kleinigkeit war . . . Oben beugt sich der Duc wißbegierig in den aufgerissenen Fels. Er thut's harmlos, den Rücken haarscharf an der rettenden Tiefe. Wir beide stehen vor ihm. Und wie der Mann so kniet, da kommt mir ein scheußlicher Gedanke. Ein leiser, freundschaftlicher Stoß beim Aufstehen – ein höfliches: ›Nehmen Sie sich doch in acht, Herzog!‹, von einer unmerklich schnellenden Bewegung des Armes begleitet, und ein Körper rollte rücklings im Schwunge über den steilen Hang, rettungslos zerschmettert von den Felsklippen drunten . . . Nenne es die Bestie im Menschen, die in mir jäh erwacht! Ich sehe auf. Meine und Félicies Augen treffen sich. Ein heißer Strahl bei mir, ein angstvolles Leuchten bei ihr. Ach, sie haßt den Mann doch nicht, wie sie mich nicht liebt! Wir beide werden immer zu feige oder zu gut sein zu einer That. Es war ja nur ein Moment, den wir aber hätten nutzen sollen. Mörder! . . . Unnötige Aufregung. Das Gewissen saldiert sich . . . Der Herzog steht jetzt wieder vor uns, die schlanke, sehnige Gestalt, mit der ich mich im offenen Ringkampf sicherlich nicht messen könnte.

Beim Abstieg er wieder voran. Félicie wendet sich einmal zurück nach mir. Ein schönes Lächeln, das mir danken soll, weil ich ein Schwächling gewesen. Ich lächle wieder. Ich thue ja alles, was sie will – ich stehe unter ihrem Zauber. Aber wie jetzt die kleinen Kiesel, vom Fuß gelöst, den Abhang niederrollen, faßt's mich wie Wut. Was sind wir doch für schlappe Kerls im neunzehnten Jahrhundert! – Ueber Deine Leiche, Gert, könnte ich schreiten – so groß ist mein Gefühl für diese Frau! Und über die Leiche dieses Gleichgültigen schreite ich nicht! Heißt das Gewissen, oder heißt das Schwäche? . . . Der Gedanke an die ungethane That ließ mich stundenlang nicht. Wenn ich mir da Renaissancemenschen vorstelle, auf demselben Fleck, in demselben Fall – so einen Cesare Borgia und eine Lucrezia neben ihm – und das heiße, heischende, alles verstehende, alles verzeihende Lächeln! Die Frau hätte dem Zaudernden Kraft geliehen, weil sie Kraft hatte. Und hätte er es doch nicht gethan, so hätte sie ihn verachtet. Die Menschen hatten eben keine Nerven, und darum hatten sie kein Gewissen, und eben darum war es eine schöne, kraftvolle Menschheit, die die kleine Moral nicht kannte. – Die kleine Moral der Gesellschaft von heute heißt: ›Thue das Böse heimlich und das Gute öffentlich! Aber thu keins von beiden ganz, denn das ist lächerlich oder schändlich.‹ – Aber die große Moral aller Zeiten heißt: ›Was du thust, ob gut oder schlecht, das thue ganz!‹ Dazu langt's bei uns nicht mehr. Wir sind eine Dekadentengesellschaft, wo die Guten Gott danken, daß sie eine Sünde nicht thaten, und die Bösen dem Teufel danken, daß niemand von ihrer Sünde etwas merkte. Was heißt Gewissen? – Nerven. Was heißt Mord? – That . . . Wer ein großes Gefühl hat, erwirbt damit ein gutes Recht, über kleine Leichen zu schreiten, wie ein großer Fürst das gute Recht, seine Herde zu scheren . . . Sieh, Gert, das war so einer von den wenigen Augenblicken, wo der herüberzuckende Funke zeugen soll, ob das eigne große Feuer in dem andern nur einen Kienspan entfacht hat oder eine tiefe Glut! – Ich rege mich auf, ich empöre mich, ich denke die scheußlichsten Gedanken und wandle doch gehorsam hinter meinem Todfeind her wie die ohnmächtige Revolution hinter einer allmächtigen Tradition.

Ich habe mit dem Manne nachher noch gemütlich gefrühstückt, seinen Wein getrunken, seine Zigarren geraucht und feige hinter seinem Rücken um einen Blick gefleht, der mir auch mitleidig gewährt wurde. Ich habe dem Manne ruhig zugehört, wie er in seiner witzelnden Art den Heldenkampf seines Schiffes erzählte, so daß es kaum mehr erschien als ein gelungenes Segelmanöver. Ich habe mit ihm Billard gespielt – und mich von ihm schlagen lassen. Ich verdiene es nicht besser! . . . Ich habe den Tod im Herzen und kann lächeln. Ich bin weit feiger als mein schottischer Schäferhund, der trotz alles Prügelns die Herzogin doch heimlich anknurrt . . . Es kommt übrigens noch schlimmer – es kommt noch viel schlimmer!

Die Herzogin hatte sich früh zurückgezogen. Ich klammerte mich wie gesagt in unbegreiflicher Feigheit an den Herzog. Im Augenblick that mir dieser glückliche Blinde weder leid, noch haßte ich ihn. Hatte ich nur Angst vor dem Alleinsein – oder fürchtete ich das Toilettenzimmer neben mir? – Heute der weiche, müde Schritt, vielleicht ein weiches, müdes »Gute Nacht« – nein! . . . Der Duc hielt tapfer aus, bis der Gähnreiz die Höflichkeit übermannte. Als ich später in mein ödes, kaltes, riesiges Atelier kam, wo nichts an meine warme Kunst gemahnt, da schlich ich doch wieder feige an die Portiere. Aber kein Laut – Gott sei Dank! – Dann that mir diese Oede wieder so weh.

Die Nacht klar und kühl, die Brandung hell. Ich stand am offenen Fenster und dachte an nichts. Es dauerte eine lange Weile, dies stumpfe Sinnen. Daß der Körper doch immer wieder Kraft zu längeren Leiden sammeln muß, statt sich im Leiden rascher zu verzehren! Leiden ist wohl der Training der Seele, wo die Vorsehung unsre Vollblutqualitäten vorsichtig prüft. Wer bei der »Arbeit« niederbricht, der wird mit unheilbarem Sehnenklapp als Droschkengaul verauktioniert, wer's aber durchhält, kommt ins Gestüt. Die Rasse braucht ihn. – Mein Geschmack wäre beides nicht. Ich möchte weit lieber beim Rennen eingehen . . . Weise Gedanken – was? Da störten meine Netzhaut irgendwelche Schatten, die sich bewegten. Ich sehe hin. Auf der äußersten Balkonecke links stehen zwei Gestalten. Ich brauche mein Monocle nicht, um sie zu erkennen. Der flimmernde Sternenhimmel giebt dem ehelichen Wiedersehen ja so viel Helle! – Es sind die beiden. Sie schauen wohl noch träumerisch hinaus vor dem Zurruhegehen. Er hat die Hand um ihre Taille gelegt, den Kopf sehr nahe an ihrem Kopf. Er flüstert – sie sieht vor sich hin. Geküßt wurde auch. Es ist das Wiedersehen. – Für ihre schönen Lippen mußte es eine Qual sein, denn sie öffneten sich nicht, sie küßten nicht, sie ertrugen nur den Kuß. Das ist die Tradition, das Recht! . . . Ich bin vorsichtig zurückgetreten, daß er mich nicht sieht. So mögen Mörder im Hinterhalt stehen, mit brennend kalten Augen, in der nächsten Sekunde kracht der tödliche Schuß. Ich schieße nicht, obgleich der geladene Revolver stets auf meinem Nachttisch liegt. Ich schieße ganz gut, ich würde meiner Hand vielleicht heute sicherer sein als je – aber ich schieße nicht. Ich bin ja kein Mörder, nur ein Feigling . . . Darum warte ich ganz geduldig, bis die starr und stumm gewordenen Schatten sich wieder rühren, verschwinden. Die Glasthür klirrt ein wenig, und ein Frauenkopf schaut noch einmal scheu zurück nach meinem Fenster. Ich habe das Licht ausgeblasen vorhin wegen der Moskitos – Ich bin also wahrscheinlich nicht in meinem Zimmer. Ich vegetiere wohl irgendwo am Billard oder in der Halle . . . Dann schließe ich leise das Fenster. Es soll ganz still sein. Ich will lauschen. Ich weiß genau, was jetzt kommt . . . Ein unhörbarer Frauenschritt, ein leicht knarrender andrer daneben: »St!« – Sie sind so rücksichtsvoll, sie nehmen sich so sehr in acht, obgleich ich doch gar nicht in meinem Zimmer bin.

Sie blieben lange. Er wollte wohl dabei sein bei der Toilette seiner schönen Frau – und weiße, nervöse Hände vermochten heute durchaus nicht fertig zu werden mit der tiefschwarzen, duftenden Haarflut. Der Spiegel gab sicher ein welkes Frauengesicht zurück und tote Opalaugen. Sie sprachen nicht, aber ich hörte einen heimlichen Kuß. Ich fühlte ihn. Es war auf einen zarten Nacken, der darunter erschauderte. Warum läßt sie's – warum? Und dann wieder die leise knarrende Thür zum Schlafzimmer. – Ich werde verrückt! Ach Gott – sei mir gnädig!

Diese Nacht war vielleicht die furchtbarste meines Lebens. Der Zenit ist vorbei. Jetzt bewege ich mich auf absteigender Bahn. Der Sonnenwagen, den ich mit so heißem Bemühen auf die Sonnenhöhe gezogen, rollt als alltäglicher Karren von selbst wieder hinab. Ich weiß es, ich mache mir keine einzige Illusion mehr . . . Noch rollt der Karren gemächlich – größere Thoren merkten den Abstieg kaum. Ich müßte herunterspringen, wo es noch möglich, herunterspringen mit zerrissenen Kleidern, mit blutendem Herzen. Was thut's? Man flickt sorgfältig die Kleider, man verbindet sorgfältig das wunde Herz und wandelt als hochmütiger Bettler wieder seine eigne, einsame Straße. Aber seit gestern habe ich den Hochmut nicht mehr, weil ich die Kraft nicht mehr habe. Ich, der ich fliehen müßte in dieser Nacht, in dieser Stunde, ohne Koffer, ohne Mantel – aber fliehen – fliehen! . . . Denn der Aufenthalt in diesem Schlosse ist für mich von jetzt ab höchstens eine russische Rutschbahn, wo es bergauf und bergab geht, bald langsamer, bald schneller, luftig oder traurig, wie es die Lüge des Lebens gerade malt – aber es geht unaufhaltsam der oasenlosen Wüste unten und dem ruhmlosen Ende zu. Ein Ruck – der Wagen hält – die Station ist da – der todsieche Bettler steigt aus. Er hat nun seine alte Wüste wieder erreicht, über einen hohen Zauberberg hinweg erreicht, genau an der Stelle, wo der Wüstenpfad auch einmündet, dem er entrinnen wollte. Er ist wieder der alte – nur daß die beste Kraft vergeudet ist indes. Und er stampft doch weiter, stumpf, dumpf. Rettende Brunnen giebt's nicht mehr. Was sollten die ihm auch nutzen? . . . So kommt's einmal, Gert, dessen bin ich ganz sicher. Der Feigling verdient auch kein besseres Schicksal.

Ich sitze in meinem Lehnstuhl, die Fäuste in die Augen gepreßt, und ringe vergebens nach der dumpfen Verzweiflung, die den letzten Entschluß doch giebt. Ich finde nur die stöhnende Verzweiflung, das empörte Herz, das mit letzter Kraft sich an das entfliehende Glück krallt. Das große Gefühl will nicht so jählings sterben. Es ist noch lange nicht gebrochen, es ruft jetzt alle bösen Geister, daß sie ihm helfen – ich will das Glück, ich will's! Es ist wie das verbissene Hoffen eines Kämpfers, der seine Fahne wanken, fallen sieht und plötzlich den Fahnenstock umklammert, stöhnend, verzweifelnd, während der übermächtige Feind hohnlächelnd das seidene Tuch abreißt und das Holz dem Thoren denn doch großmütig läßt, es später zu holen, wenn der an seinen unverbundenen Wunden verblichen.

Ja, ich rufe alle bösen Geister! Sie sollen mir helfen! . . . Und die salzige Thräne rinnt mir zwischen den Fingern durch. Mein Hund kommt und leckt mir traurig die Hand. Ich stoße das treue Tier weg, das ich schon lange schlecht behandelte und das doch unentwegt sich gleich bleibt in seiner Liebe zu mir und in seinem Haß gegen die Herzogin. Ich mag den Hund nicht mehr . . . Ich mag Dich auch nicht mehr, Gert! . . .

Wenn ich das Glück durch den Tod meiner beiden einzigen Freunde erkaufen kann, ich kauf' es ohne Wimpernzucken . . . Adieu.

Grüß mir auch noch die Heimat herzlich, die ich nicht mehr habe.



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