Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Deutschland – der fernste Osten.
Eine kleine Station an einer kleinen Bahn. Bis zur Ankunft des Zuges noch geraume Zeit. Auf dem menschenleeren Perron stand ein einziger Herr – nicht mehr jung, schneeweiß, eine Figur, die früher sicher sehr elegant gewesen, und ein dunkles Auge, das sicher einmal sehr scharf gefunkelt hatte. Jetzt die Gestalt müde, das Auge unruhig.
Der dicke Stationsvorsteher war nun auch aus dem Stationsgebäude getreten. Eine neue rote Mütze über einem behäbig-schmierigen Uniformrock. Er sah erst nach dem Wetter und dann nach dem Zug, den eine winzige Rauchwolke zwischen jungem Kiefernwalde ankündete. Darauf trat er zu dem einsamen Herrn: »Guten Morgen, Herr Baron!«
»Guten Morgen.« An der kurzen Bewegung des Kopfes, wie er sich umdrehte, erkannte man zur Not den früheren Offizier.
»Wollen Sie nach K . . .berg, Herr Baron?«
»Nein. Ich erwarte meinen Bruder.«
»Ach was! Den Baron Rolf? – Der muß aber schon über zehn Jahre nicht in der Gegend gewesen sein.«
»Bleibt er lange?«
»Ich weiß noch nicht.«
Dann wurde die auf der einen Seite neugierige, auf der andern widerwillige Unterhaltung durch den Pfiff der Lokomotive unterbrochen. Der Zug lief ein. Die alten, kleinen Waggons einer auf Verstaatlichung wartenden Gesellschaft. Aus dem selten besetzten Coupé Erster stieg ein Passagier mit dem eleganten Handgepäck eines verwöhnten Reisenden. Er sah sich kaum um und rief nur dem Billetknipser am Eingang zu: »Ist Rabensches Fuhrwerk da?«
In dem Augenblick fühlte er auch schon eine Hand auf seiner Schulter: »Na, guten Tag, Rolf!«
»Guten Tag, Gert.«
Die Brüder schüttelten sich flüchtig die Hand. Zwei grundverschiedene Gesichter. Der jüngere brünett, häßlich – der ältere noch immer ein feines, kluges Gesicht. Nur um die Augen sprang ein verwandter, weicher Zug. Sie gingen in verlegenem Schweigen bis zu dem Wagen, der an der Station hielt. Ein unmoderner kleiner Jagdwagen, aber edle Pferde.
»Willst du kutschieren, Rolf?«
»Nein, ich danke wirklich, Gert.«
Da nahm der Ältere die Leinen, die der junge Kutscher auf dem Rücksitz stehend hielt. Sie fuhren im schlanken Trab, über holperiges Pflaster. Es war der erste Mai heute, ein heller, kalter Frühlingstag des Ostens, mit zähem Schmutz und unangenehmem Wind. In der ersten Viertelstunde sprachen die beiden kein Wort, als wenn sie sich geniert fühlten. Endlich räusperte sich der Ältere und sagte mit einem flüchtigen, warmen Blick nach dem Bruder: »Du siehst aber nicht schlecht aus, Rolf.«
»Nicht schlecht!«
»Ich verstehe, verstehe. Wir Rabens haben nun einmal keine Anlagen zum Schlechtaussehen.«
Sie schwiegen wieder. Auf bodenlosem Sandweg schwankte jetzt das leichte Gefährt nur mühsam vorwärts, die Braunen prusteten, der Kot spritzte. – Der Jüngere sah immer stumpf geradeaus. Es war die östliche Ebene, noch kahl, winterlich, mit schwarzen Brachen und braunen Wiesen. Die kalte Sonne funkelte über schüchternen Saaten und melancholischen Föhrenwäldern. Der Frühlingswind spielte in dem toten Gezweig der Bäume am Weg. Nur die feinen Spitzen vereinzelter Birken schimmerten rot und lenzverheißend. Der Wagen stöhnte an einem elenden Kirchhof vorüber – mitten drin in der trostlosen Landschaft von roher Feldsteinmauer umfriedet, die Grabkreuze windschief oder alt. Der Jüngere sah noch lange zurück, als könne er sich von dem Kirchhof nicht trennen. Später kam ein Dorf mit häßlichen Katen und einem Kruge an der Landstraße. Der strohblonde Wirt stand vor der Thür in plumpen Holzschuhen; er grüßte kaum. Es war Litauen, wo die ostpreußische Höflichkeit nicht wild wächst.
»Das wäre also die Heimat! – Ein halbes Dutzend anständige Güter – drum 'rum litauische Gehöfte, und was für welche! . . . Schmutz – Unhöflichkeit – Suff . . . Ich gehöre ganz entschieden nicht mehr hierher.«
Das sagte der Jüngere vor sich hin wie im verächtlichen Traum. »Und doch wäre es besser gewesen, ich hätte diese sogenannte Heimat nie verlassen.«
»Ich weiß doch nicht, Rolf . . .« Der Ältere war sehr niedergedrückt.
Vor ihnen lag jetzt auf einer Bodenwelle das Gut, aus kleinem Park das kleine Herrenhaus weiß und freundlich schimmernd. Dahinter dehnte sich das Gehöft – gewaltige Stallgebäude und Scheunen, winzige Insthäuser. Für Tiere und Korn die fast cyklopischen Mauern, das rote Ziegeldach, für die Menschen der bröckelnde Lehm und die verwitterte Schindel. Der verstorbene Freiherr zu North hatte das mit Fleiß so gebaut als großer Viehzüchter und kleiner Leuteschinder. Der neue Herr hatte entgegengesetzte Ansichten, die ihm aber das schmutzige Volk nie dankte. – Da war also wieder die Heimat! Der Jüngere sah aber nur flüchtig hinüber, um gleich in den zähen Kot der Landstraße zu starren, in dem die Achsen versanken.
»Bauernweg – und die thun natürlich nie etwas dafür! Außerdem war es ein ganz abnormer Winter, fast ohne Frost und Schnee.«
Aber der Jüngere lächelte nur geistesabwesend über diese Erklärung. Erst als die edeln Pferde auf harter Kiesschüttung trabten, riß er sich gewaltsam aus seiner schlaffen Haltung zusammen. Sie fuhren über den riesigen Hof. Es war Mittag und der Hof menschenleer. Vor der Auffahrt am Herrenhaus stand ein Stubenmädchen mit weißer Schürze und knickste. Ein alter Jagdhund reckte sich wedelnd.
»Und deine Frau und die Kinder, Gert?«
»Sie sind bis Pfingsten noch bei meinen Schwiegereltern. Klara wünschte durchaus den Grund der Verbannung zu wissen, ich bin jetzt aber ein sehr schwieriger Ehemann geworden und behandle alles gleichmäßig schlecht. Es ist doch auch besser, wenn wir die ersten Wochen allein sind.«
»Ich danke dir, Gert.«
Sie stiegen aus. »Kein Brief für mich da?« fragte nervös der Jüngere noch in der Hausthür.
Der Aeltere fuhr sich mit der Hand über die Augen und sagte mit scheuem Blick: »Nein, Rolf, ich hätte ihn dir sonst zum Zuge mitgebracht . . . Komm nur gleich in mein Zimmer!« Dort sah er den Bruder wehmütig an: »Armer Junge! . . . Warte doch nicht mehr auf den dummen Brief! . . . Ich hätte mir das Wiedersehen früher auch freudiger vorgestellt . . . Willst du auf die kalte Fahrt einen Cognac? Er ist gut. Ich habe ihn mir seit einiger Zeit angewöhnt.« . . . Als er die Gläser voll schenkte, zitterte die Hand, und ein Tropfen rollte auf den Tisch.
Dann gingen sie zum Essen. Der junge Inspektor aß mit am Herrentisch. Er war bescheiden und sprach ungefragt kein Wort. Es war ein kurzes Mahl – die Speisen kaum berührt. Nach dem Kaffee schlenderten die Brüder mit der Zigarre durch die Wohnzimmer. Es war noch zum großen Teil die alte Einrichtung des Elternhauses – nachgedunkeltes Mahagoni mit geschweiften Beinen, die Stühle steif, die Sessel bequem. – Aber es war kein wehmütiges Aufzucken in den gleichgültigen Augen des Jüngeren zu spüren. Zuweilen sah es aus, als würden seine Nerven durch die Erinnerung nur irritiert. Er pfiff leise vor sich hin. Vor einem Bücherbrett blieb er stehen – Klassiker mit verblaßten Goldrücken, vielleicht Andenken aus seiner Gymnasialzeit. Er tippte auf einen Band Goethe und sagte mit zuckendem Mund: »Wahlverwandtschaften!«
»Ja, Wahlverwandtschaften.« Auch um den andern Mund zuckte es, aber hart und feindlich. – »Ich habe auch öfters an das Buch denken müssen, Rolf, und es gerade jetzt noch einmal gelesen. Die Pflicht liegt durchaus nicht immer rückwärts – sie liegt ebenso oft vorn. Aber schlapp sind wir alle – du auch . . . Doch sprechen wir von etwas anderm!«
Aber sie blieben bei dem Thema Wahlverwandtschaften. Der Bruder merkte jetzt, daß dem Jüngeren die Unterhaltung über die Frau ein Bedürfnis war, ja, daß er eigentlich deswegen gekommen in diese vergessene Heimat. Diese Frau war ihm beinahe eine fixe Idee. Er erzählte und erzählte – all die kleinen, anmutigen Züge ihres Wesens, die er so liebte und die ihn so unglücklich machten, weil der große Zug fehlte. Der Aeltere war ein geduldiger Zuhörer und sagte wenig. Aber zuweilen zuckte es in seinen Augen böse.
Den Nachmittag gingen die Brüder in die Wirtschaft. Am längsten fesselte sie der Kutschstall. Sie hatten beide die starke Vorliebe des Ostens für Pferde einmal besonders stark besessen. Der Aeltere besaß sie vielleicht noch. Er wurde allmählich warm und gesprächig im Ammoniakgeruch des Stalles. Er gab die Geschichte der einzelnen Tiere, weil er glaubte, sie müsse den Bruder interessieren. Er klagte wie alle Landwirte dabei, aber ohne Nergelei. »Mit den Remonten geht's absolut nicht mehr! Die Kommission schmeißt mir immer aus dem Dutzend sechs 'raus. Die andern sechs bezahlt sie mir hoch. Aber wo ist dabei der Nutzen? . . . Es ist hier oben mit nichts mehr Geld zu machen. Ich habe die Viehherde forciert und überzüchtet. Alles, was du sehen wirst von Kühen, hat Tuberkulose. Mit Pferden, das heißt Kaltblütern, hatte ich auch kein Glück. Aus Verzweiflung habe ich sogar zwei Jahre den Vollblutzüchter gespielt, aber eingesehen, daß dazu andre Mittel gehören, als wir sogenannten Rittergutsbesitzer auftreiben können. Rittergutsbesitzer – klingt gut! Fronarbeiter unsrer Hypothekengläubiger – ist aber der wahre Titel! . . . Uebrigens eine ganz edle Vollblutstute steht noch bei mir. Ich werde sie nicht los. Was ich will, das geben mir die Coupscheller nicht – und für ein Butterbrot das Pferd – o nein!« – Er rief dem zweiten Kutscher zu, der den Jagdwagen wusch: »Bring doch mal aus dem Losstall die ›Desdemona‹ her!« Auch in den Augen des Jüngeren schien ein Schimmer von Interesse aufzuleuchten, als das Tier vorgeführt wurde – ein etwas hochbeiniger Lehmfuchs mit abgeschlagener Kruppe. »Da hast du das letzte meines Renngestüts, Rolf. Sieh mal, dran ist immer noch was . . . Sehr viel Hals – zäumt sich sehr vornehm bei – unter dem Reiter überhaupt ein Blender erster Güte . . . Die Vorhand darfst du natürlich nicht kritisieren. Viel zu fein! Aber ein wundervolles Sprunggelenk. Ueberhaupt Nerv in dem Gaul! . . . Und nervös, nervös! Ich darf die Stute als Familienvater nicht besteigen. Sie setzte mich auch gleich am ersten Tage hier auf dem Hofe in einem Riesenschwunge aufs Pflaster. Geräusche und sumpfiges Terrain – da gnade jedem Gott, denn der Fuchs wird wahnsinnig. Du hättest sie früher vielleicht mal klein kriegen können mit deinem eisernen Schenkel. Jetzt würde ich dir direkt abraten . . . Aber Gänge hat der Gaul, Gänge! . . . Blut bleibt doch Blut, auch mit tausend Fehlern.«
Während die hell wiehernde Stute auf und ab geführt wurde, vermochte der Jüngere kaum einen Gähnreiz zu unterdrücken. Er sah nur auf das Pferd, um den Bruder nicht zu kränken, der auch wohl gern die eingeschlafene Passion beim andern wieder wecken wollte . . . Ein rasches Aufblicken zeigte ihm das Vergebliche. Dabei wich die Wärme aus dem Auge. »Das interessiert dich auch nicht mehr, Rolf?«
»Nein, Gert.«
»Ja, was interessiert dich denn überhaupt noch?«
»Sie.«
»Ach sie!«
»Gert!«
»Rolf!« Und eine dicke Falte zeichnete sich zwischen den buschigen Brauen. Er wollte etwas Verächtliches sagen. Aber er bezwang sich zur rechten Zeit . . . »Komm, wir wollen 'raus auf die Felder wandern! Kannst du wohl noch Roggen- und Weizensaat auf den ersten Blick unterscheiden?«
»Ich weiß nicht, Gert. Es ist mir außerdem völlig gleichgültig.«
Darauf sagte der Aeltere leise, warm, wie zu einem kranken Kinde: »Was kann ich denn überhaupt für dich thun, mein armer Junge?«
»Nichts.«
»Aber es muß etwas gethan werden, Rolf! . . . Wenn dir das Zuhause und ich wirklich gar nichts mehr bedeuten . . . Sei doch vernünftig! Wenn eine Frau so schreibt: ›Vergiß!‹; – dann hat sie nie wirklich geliebt. Das ist eine verzweifelte Medizin, aber es ist die einzige, an der du gesunden kannst.«
»Mach mich nicht toll, Gert! Ich sage dir, ich bin schon lange auf einem Punkte, wo ich nur das Atom – das Atom Ekel brauche, um so oder so zu gesunden. Zwing du mir das letzte wenigstens nicht hinein! . . . Es giebt auch Kranke, die sterben müssen, sobald sie gesund sind . . . Vielleicht giebt sie mir das Atom selbst . . .«
»Vielleicht! Und du küßt ihr noch demütig wie ein Hund die Hand für den coup de grâce, der auch nur Gnade ist!« . . . Dann trat er dicht zu dem Bruder. »Gut! – Du bist krank, du kommst vielleicht nicht durch. Mich träfe es doch am schwersten, schwerer als sie, die immer nur an sich gedacht hat. Sie wünscht ja auch nichts sehnlicher, als dich nie wiederzusehen . . . Ich will in dem Ton nicht weiterreden. Die Abrechnung zwischen uns kommt auch noch mal. Aber wenn du nun einmal nicht leben kannst ohne das Phantom deines Herzens, dann geh wenigstens anständig vor die Hunde und nicht als weinerlicher Kerl, der du heute bist . . . Du bist der Rücksichtslosere von uns beiden dein Leben lang gewesen und gingst verbissen deine Wege, auf denen man dich beileibe nicht stören durfte. Bleib der rücksichtslose Mensch auch im Tode! . . . Du wirst und mußt dich wiederfinden – und sei's auch im allerletzten Moment. Ich sage dir: ›Landgraf, werde hart!‹ – gerade jetzt, wo du vielleicht zum erstenmal in deinem Leben ein gutes Recht dazu hast. Keine Sentimentalitäten, wo sie nicht hingehören! . . . Wie wir eben das Pferd besahen, da fiel mir eine alte Geschichte ein. Erinnerst du dich noch, als wir hier öfters hetzten – du ein junger und unbeliebter Dachs? Du rittest damals einen Sonderling von Pferd, das nur aus dem Trabe sprang. Und einmal behauptetest du ohne Notwendigkeit beim Jagddiner, daß du den Gaul zwingen würdest, aus dem Galopp zu springen – und zwar gleich bei der nächsten Hetze . . . Der Tag steht deutlich vor mir. Es war lange Halali geblasen, und wir wollten eben wieder nach Hause reiten. Da kamst du, den wir verloren hatten, auf einmal ganz weit hinten über die Brache gepacet. Und die Leute lachten und witzelten, weil du es doch nicht durchgesetzt hättest mit deiner Großmäuligkeit. – Und da kamst du näher, der Gaul ganz naß und ausgepumpt. Mir war es beinahe blamabel, weil wir jenseits einer Hecke hielten und die andern sich schon diebisch freuten, dich zum Trab durchparieren zu sehen. Ich müßte sehr schlechte Ohren gehabt haben, die ich nie hatte, wenn nicht ein alter Ekel halblaut murmelte: ›Der kann ja natürlich alles!‹ Und die andern steckten kichernd die Köpfe zusammen. Das boste mich mächtig. – Und da kamst du im scharfen Galopp an, und der Gaul ging nervös – und mir schlug das Herz bis zum Halse . . . Zwanzig Schritte vor der Hecke – ich sehe schon in Gedanken, wie du feige durchparierst . . . Aber mit nichten! – Der Gaul, der wohl gemerkt hat, daß heute mit dir nicht zu spaßen, will lieber wegbrechen und legt sich schon auf die Seite . . . Aber da – Peitsche hoch, Sporen rin . . . Ich denke mir: ›Brich dir's Genick, aber hinter der Hecke!‹ . . . Und aus dem fliegenden Galopp springt der Gaul wie unsinnig. Er überschlug sich allerdings, und du bliebst besinnungslos liegen – aber die Hecke hattest du doch aus dem Galopp genommen . . . Seitdem kenne ich sehr genau einen gewissen brutalen Zug um deinen Mund, wenn du va banque spielst – aber der Zug hat mir immer wohlgethan. Er hat auch später mir und andern gezeigt, daß ein Raben kann, was er will . . . Also wenn's sein muß, brich 's Genick, aber hinter der Hecke!« . . .
Die Brüder sahen sich an. Einen Augenblick dasselbe tückische Leuchten in beider Augen. Der Jüngere war sehr blaß geworden, und als er endlich antwortete, da that er's mühsam, denn der Atem ging schwer. »Ich habe einen Schwur gethan, Gert, daß ich nie mehr betteln will – auch nicht beim lieben Gott . . . Ich brach viele Versprechen – das breche ich hoffentlich nicht: ich werde mal anständig sterben.«
An dem Abend ging's mit der Stimmung. Sie saßen lange und tranken viel.
Am andern Morgen kam die Depression wieder – das stumpfsinnige Brüten und das ruhelose Wandern durch die Zimmer. Es war wirklich wie eine fixe Idee – die Liebe zu dieser Frau . . . Der Aeltere hätte den Bruder gern zerstreut, Besuche bei den Nachbarn gemacht, die das auch erwarteten. Aber nur ein »Um Gottes willen!« war die Antwort.
Der echte Frühling kam langsam. In den schwarzen Moorlöchern sproß das helle Grün. Die Kiebitze kreischten und flogen den Pflügern um den Kopf. Die Wintersaat hob sich, über die Sommerfelder zog ein grünlicher Hauch. Die Brüder wanderten meilenweit, weit über die Grenzen des Gutes. Der Weg war dem Jüngeren nie zu lang, wenn er von »ihr« erzählen konnte. Die frische, scharfe Luft der Heimat that seinen Nerven wohl – aber sofort nach der Rückkehr wieder das Zusammensinken, das monotone: »Wär's doch zu Ende! Ich will ja weiter nichts als den Tod . . .« Das waren schlimme Wochen. Der Aeltere begriff erst jetzt ganz, wie lange und schreckliche Verheerungen die großen Gefühle anrichten. Und dennoch gab es Momente, wo er dem Bruder den heiligen Schmerz neidete. Als nach einer warmen Nacht die Kastanienbäume hinter dem Haus knospend aufbrachen und der echte Lenz schwer und schläfrig allen in den Gliedern lag, wünschte der Jüngere, dem der Frühling mit seinem Hoffen nur weh that, die Briefe noch einmal zu lesen, die er vor einem Jahr und länger geschrieben. Es las darin die halbe Nacht. Der Bruder, der unten schlief, konnte deutlich unterscheiden, wie über ihm im Mansardenzimmer das ruhelose Wandern und das stumpfe Brüten sich in schrecklicher Regelmäßigkeit bis zum Morgen ablösten.
Die Brüder sahen sich andern Tags erst nach Tisch, weil der Gutsherr als Schöffe in der Stadt gewesen. Es war in Gerts Zimmer, wo Rolf in einem Lehnstuhl saß, die ausgegangene Zigarre noch in der Hand, den letzten Brief der traurigen Kollektion vor sich.
»Na, Rolf?«
»Na, Gert?«
Die Brüder reichten sich lässig die Hand. Dabei glitt der letzte Brief zur Erde.
»Schon heute morgen, Gert. Ich las einiges eben noch einmal. Ich begreife doch nicht ganz, daß ich damals überhaupt noch schreiben, so schreiben konnte. Das letzte von meinem malerischen Können ist jedenfalls in den Briefen . . . Sag übrigens, Gert, als du das erste halbe Dutzend von der Sorte bekommen hattest und doch wissen mußtest, daß eine tödliche Krisis im Anzuge – warum hast du dich nicht aufgesetzt und mich geholt à tout prix?«
»Weil du doch nicht gekommen wärst, Rolf, und weil ich es längst aufgegeben habe, irgendwo die Vorsehung spielen zu wollen. Du, mein Lieber, hast ja nie fremden Rat befolgt, und das Resultat hat dir fast immer recht gegeben. Auf dem Sprunge zu reisen war ich oft. Aber ich blieb, und zwar auch aus der bequemen Motivierung: ›Wer weiß, wozu die Krankheit gut ist‹ . . . Diese Unterlassung bedaure ich jetzt sehr. Ich hätte dich in einem Sanitätswagen holen müssen . . . Doch lassen wir das beiseite! – Ich kann deine Briefe fast auswendig und sage noch heute: ›Zu bereuen hast du nichts!‹ Mögen andre bereuen. Man kann schon schwer gegen kleine Gefühle ankämpfen – und gegen ein so großes? Sei darum in andrer Augen lächerlich, ein Thor. Schadet nichts! Vielleicht sind die edeln Sünden des Herzens Gott am wohlgefälligsten . . . Du liebtest die Frau – und hast sie verloren . . . Freilich, wozu das alles notwendig? Ich begreife in dem Falle die Vorsehung nicht, ich habe mit ihr schwer gemurrt, obgleich ich ein gläubiger Christ bin, allerdings kein Mucker . . . Also erzähle mir, wenn du willst, weiter von deiner Félicie! Ich höre es gern, weil ich das Beste von dir gewissermaßen dann in dieser Frau wiederfinde . . . Aber verlange niemals eine Kritik über diese Frau selbst! Sie ist gallebitter, und sie muß gallebitter sein nach meiner Lebensanschauung.«
Der Jüngere fuhr sich langsam über die Stirn. »Aber einmal müssen wir uns doch auch in dem Punkte aussprechen, Gert! – Nächste Woche kommen deine Angehörigen, und das Komödiespielen fängt wieder an . . . Ich muß dir übrigens nach der Lektüre hier sagen: Gert, die Frau hier konnte gar nicht anders! – Auch die beiden letzten Briefe beginne ich zu verstehen. Sie sind allerdings so gut wie ein Bankerott, ein häßlicher Bankerott eines großen Gefühls zu Gunsten einer kleinen Vernunft. Aber ich habe den Bankerott ja gewissermaßen vorausgesehen. Die sogenannte anständige Gesellschaft kennt doch auch nur diese Konfliktslösungen. Die Frau hat eben immer gesellschaftlich gefühlt, und ich habe nie gesellschaftlich gefühlt. Da liegt der Zwiespalt. Sie hat mich gewiß herzlich gern gehabt und hat auch tief empfunden – und nicht einen Augenblick mit mir gespielt. Aber zu einer Konsequenz nach vorn langte das Gefühl bei ihr von Anfang an nicht. Sie wünschte das auch gar nicht, sie hatte im Gegenteil Angst davor . . . Und dann kam der Abschied, der wehmütige Abschied, und mit ihm die Empfindung, daß sie doch mit ihrem guten Herzen viel tiefer in eine andre Welt der Anschauungen hineingekommen war, als ihr gut. Nach der Trennung hat sie mich sicher sehr lieb gehabt und sich nach meinem großen Gefühl gesehnt. Und sie hätte mich auch weiter lieb gehabt, wenn ich nicht den unglücklichen, überschwenglichen Brief geschrieben hätte. Da gingen ihr erst eigentlich die Augen auf, da bekam sie Angst, da wog sie ab und sagte sich nach langem Hin und Her der Gefühle ehrlich wie immer: ›Nein, mein Freund, wenn du damit nicht zufrieden sein willst – mehr kann und will ich nicht geben!‹ . . . Gefühlvolle Männer stoßen gefühlvolle Frauen auf die Dauer rettungslos ab – wir begeben uns ja auch damit der besten Waffe unsrer Männlichkeit, der Härte, zumal wenn auf dem Papier steht, was nur Mund und Augen selbst geben dürfen. Sie empfand den Brief unangenehm, peinlich, sie, die instinktiv die Gefühle von sich abwehrte auch früher schon . . . Aber das war nicht das Ausschlaggebende. Sobald die Frau wieder allein mit der Tradition, der Gesellschaft, dem Mann war, ertrug sie diese geistige Doppelehe nicht mehr. Das war durchaus anständiges Empfinden, dem ich in dem Fall unterliegen mußte. Darum das: ›Nur Schluß, Schluß! Ich darf mich nicht verlieren!‹ . . . Sie hat sicher ehrlich gekämpft, meinen Schmerz nicht leicht genommen – aber sie sagte sich, einmal zur Erkenntnis gekommen, ohne Eigensinn, jedoch fest: ›Es ist gut für uns beide, wenn es jetzt aufhört!‹ . . . Und dabei blieb sie trotz aller Güte unerbittlich. Das sind eben die starken, schwachen Frauen. Sie geben viel, aber sie geben niemals alles . . . Nett war der Schluß nicht – das gebe ich gern zu. Aber er war doch das einzig Vernünftige, für diese Frau gewissermaßen vorgeschrieben . . . Daher die Form, die etwas dürre Form des letzten Briefes, der sich um keinen Preis auf Weiterungen einlassen wollte. ›Ich habe Dich sehr gern – aber darum mach' ich ein Ende.‹ . . . Es sind sicher die besten Kinder der Tradition, die aus ihrem Gewissen heraus und selbst gar nicht glücklich zu dem Bestehenden zurückkehren. Sie thun's mit bitteren Thränen, sie thun es mit den heißesten Wünschen für das Glück des andern Mannes, ohne sich über die rasende Ironie solchen Wunsches klar zu werden – aber sie thun es ganz gewiß! . . . Das alles, Gert, hätte ich voraussehen müssen, und die Frau, die mir so viel gab, hat mich nie in thörichte Hoffnungen eingewiegt. Trotzdem stand ich vor dem jähen Schluß starr. Ich kam nicht drüber weg. Ich bin auch heute noch nicht drüber weg . . . Sieh mal, Gert, ich kritisiere die Frau scharf, fast unerbittlich – und wer die Briefe oberflächlich liest, der könnte mich der kleinlichen Auffassung dieses Herzens anklagen. Und das ist wahrhaftig nicht wahr! Mit der Frau geht's mir wie Lessing mit den großen Dichtern. So scharf kritisiert man nur unendlich geliebte Menschen, denen man ganz etwas anders zutraut als dem andern Gesindel . . . Auch heute – was muß ich doch eigentlich in diese Frau hineingelegt haben, und ein wie kostbarer Schrein meines eignen großen Gefühls muß sie mir noch immer sein, daß trotz aller Vernunft der Zauber dieser Frau so ungebrochen besteht wie jemals! Ich will den Zauber nicht – sie will den Zauber erst recht nicht – und der Zauber besteht doch . . . Es kann mir heute, wo das alles vorbei ist, nur noch leid thun, daß eine Frau wie sie zu nichts anderm bestimmt war als zu einem köstlichen Stück Tradition . . . Nenne mir die andre Frau auf Erden, die mir das noch sein könnte, nachdem das gewesen! – Es giebt keine.«
Der ältere Bruder war indes mit langen Schritten im Zimmer auf und ab gegangen, den dünnen Reitstock in der Hand, mit dem er eben vom Hofe hereingekommen, und an dessen Hirschhornkrücke er immer nervös zu spielen pflegte. »Ja, ja, Rolf – das ist schon wahr! Sie ist sicher keine gewöhnliche Frau. Ich habe sie auch stets mit anderm Maße gemessen. Keine Frau hat je einen so warmen Freund gehabt wie mich.« . . . Er hielt einen Moment inne. – »Aber auch keine Frau hat einen so bittern Feind wie mich jetzt . . . Ja, Rolf«, – er war jäh im Zimmer stehen geblieben, und die feinen Aristokratenhände bebten – »ja, Rolf, ich hasse die Frau, ich hasse sie für dich, der du das aus Schwäche oder Verblendung nicht mehr vermagst.«
Da fuhr auch der andre auf. »Dazu hast du kein Recht, Gert! Das habe ich nicht von dir gewünscht. Die Frau gehört noch immer mir allein! . . .«
»Kein Recht? – Und wenn ich's doch hätte!« – Er machte zwei kurze Schritte nach dem Bruder hin, und die Stimme ward ihm hoch und heiser, als er weiter sprach: »Ich habe allerdings ein Recht auf diese Frau. Ich habe auch durch sie gelitten, und die weißen Haare statt der ergrauenden verdanke ich ein wenig reichlich der Herzogin von Lièges . . . Einmal mußte das zur Sprache kommen. Und ich sage dir: die Frau hat doch nur frivol mit dir gespielt und hat dich nie ein Atom geliebt.« Die heiße Thräne des Zornes zischte ihm ins Auge. Er wehrte ihr nicht. Und einem leidenschaftlichen Impulse des Augenblickes nachgebend, packte er das dünne Rohr des Stockes mit beiden Händen und brach es mit einem Ruck auseinander. Dann warf er die dürren Stücke auf die Erde. »Das bist du, Rolf! Das hat die Frau aus dir gemacht! Hast du Lust, die beaux restes noch irgend jemand Anständigem anzubieten? . . . Nein und abermals nein! Da bin ich vom alten Bund und sage: Aug' um Auge, Zahn um Zahn. Und was sie verbrochen, das soll sie dereinst büßen.«
Der Jüngere sah ihn, in dem Lehnstuhl liegend, mit zusammengekniffenen Wimpern an: »Also, bitte!«
Aber der scharfe Ton machte drüben keinen Eindruck, denn der Bruder fuhr erregt fort: »Ich habe die Frau sehr gut verstanden, ich habe, wenn du willst, mit ihr gezweifelt, gerungen, die Skrupel, die Qualen durchgemacht, in denen so feines Empfinden mit einer groben Wirklichkeit sich auseinandersetzt. Ich habe mich oft geärgert, wenn du ihr unrecht thatest – du thatest das manches Mal! – weil der Mann in deinem Fall die sehr berechtigten Gefühle der Frau nicht verstehen kann und nicht verstehen will. Ich habe noch weniger Hoffnungen gehabt als du und sagte mir doch immer: Laß sie! Sie ist eine feine, vornehme Natur, deren Gefühlsleben man nicht hart anfassen soll, weil es leicht zerbricht. Gerade sie wird in der letzten Stunde irgend einen hochherzigen Entschluß finden, vielleicht das maßlos verächtliche Lippenzucken, mit dem zuweilen die Frau der Gesellschaft urplötzlich im Angesicht der Tradition und der kleinen Moral, wenn's sein muß, mitten im Ballsaal all den eiteln Schimmer, die falsche Gêne wegwirft und mit hochmütigem Augenblitzen sagt: ›Hier, seht mich in meiner königlichen Nacktheit! – Bin ich nicht schön?‹ . . . O mein Lieber, ich habe immer gefunden, daß die vornehme Frau mehr Mut hat als der vornehme Mann, nur daß sie vielleicht länger braucht bis zum unwiderruflichen Entschluß! . . . Ich hab's weder dir noch jemand früher erzählt – jetzt ist sie auch längst verkommen in einer ›moralischen‹ Ehe. Ich war mal als Ordonnanzoffizier im Manöver einen Tag zu einer Prinzessin kommandiert, die sich den Scherz ansehen wollte. Geblüt, königliches Geblüt – ganz andre Klasse als deine Herzogin! Sie hatte kein sehr hübsches Gesicht, aber sie war jung und jedenfalls die eleganteste Reiterin, die ich je im Sattel gesehen. Ich wußte aus Zufall, daß sie eine schwere Herzensangelegenheit mit jemand hatte, den ich recht gut kannte. Er zitterte vor der letzten Konsequenz – sie nicht. Ich dachte aber, das wäre schon alles ausgestanden. Als sie nun mich und sich zu halsbrecherischem Galopp auf einem scheußlichen Gelände zwang, da merkte ich, daß es innerlich noch keineswegs überstanden sei. Sie sprach nicht gerade viel mit mir. Kurze, hochmütige Frage – streng dienstliche Antwort. Es machte mir aber doch Vergnügen, weil sie so viel Schneid hatte. Wir hatten uns bei den äußersten Vorposten 'rumgetrieben, als sie plötzlich auf irgend einen Punkt zeigte, sehr weit drüben. Ich sage mein: ›Zu Befehl!‹ Wir reiten los im scharfen Galopp. Und auf einmal schimmert so ein tückischer Sumpfbach vor, gemein zum Absprung und noch gemeiner zum Landen. Ich erkenne das sofort und rufe: ›Um Gottes willen, Hoheit!‹ – Aber sie rührt sich nicht mal im Sattel und ruft nur zurück: ›Ach was! Dann bleiben Sie meinetwegen zurück, Herr Leutnant.‹ Das that ich natürlich nicht. Aber ich mußte mein olles Chargenpferd mächtig zusammennehmen und schaffte es doch sehr knapp. Ihr Vollblut aber blieb drüben mit gebrochenen Fesseln liegen, und sie selbst verletzte sich schwer am Knie. Sie hat nicht mal geseufzt bei dem Schmerz. Das Leben war ihr wahrscheinlich sehr gleichgültig . . . Wie gesagt, da war er der Schlappier . . .
»Also weiter im Text! Ich verstehe die Herzogin Félicie, wie sie kämpft, lange kämpft und zu keinem Entschluß kommt. – Wer verdenkt's ihr? Hätte sie's schneller gemacht, wäre sie eine oberflächliche Frau. Ich verstehe sie, wie aus müder Hand das helllila Taschentuch zum letztenmal von der Jacht winkt. – Es bedeutete doch noch immer ein warmes: Auf Wiedersehen! Ich verstehe Biarritz, die Hochzeitsfreude, den Strom des Neuen, der auf flachem Kahn sie lustig hinschaukelt über die schlimmsten Riffe für einige Zeit. – Aber das Leben ist eine Rundfahrt, und die schlimmsten Riffe kommen immer wieder. Ich verstehe auch, daß sie sich nicht für dich entschied, was wir beide ja nicht erwarteten, weil zaghafte Naturen nun einmal das Gewaltsame nicht leiden mögen. Die Empfindung für dich brauchte darum nicht kleiner zu sein . . . Aber daß sie bei dem Mann blieb, ruhig blieb, ohne den leisesten Versuch, frei oder allein durch die Welt zu gehen: das verstehe ich nicht und will's auch nicht verstehen. Wenn das Herz unter dem historischen Brokat der Prunkbetten ruhiger wird, statt empört zu springen – dann ist das Prunkbett der Herzogin von Lièges der traurige Katafalk ihres besten Gefühls! Das heißt, es kann mit dem Gefühl wohl nicht sehr weit her gewesen sein. Was sie dir an Liebe nicht geben konnte, das mußte sie wenigstens an Haß dem Mann geben. Das ist die uralte Rache starken Empfindens . . . Nein, Rolf, sie hat dich nie wirklich geliebt; sonst wäre sie eines Tages dem andern doch davongegangen. Aber wer in die ungesunde Stickluft solcher Tradition geduldig zurückkehrt, der thut's, weil ihm da allein wohl ist – und man soll ihn weder beklagen noch ein Heldentum wittern . . . Ich könnte mir sehr wohl denken, daß sie an ihren Lieblingsbruder, ganz in dem Stil wie du an mich, auch eine Herzensbeichte geschrieben – und das gäbe wiederum ein ganz andres Bild. Ich will das andre Bild aber gar nicht! Es könnte doch nur eine Geschichte der Gefühle sein, und die ist immer matt neben einer Geschichte des Gefühls. Ich will ebensowenig wissen, wie sie zu dem letzten Entschluß gekommen ist. Es giebt pflichtvergessene Beichtväter genug, und gute Freunde genug – und beide kommen vor lauter Angst und Selbstsucht gar nicht auf den Gedanken, daß ein Herz in solcher Ehe doch nur elend verkommen kann, natürlich, wenn etwas dran ist an diesem Herzen . . . Aber das Herz verkommt da nicht, das Herz nicht! Die Ratgeber hatten nur zu recht . . . Ich denke streng über die Ehe, obgleich ich nur ein mäßiges Glück in ihr fand. Aber ich bin zufrieden, denn kein starkes andres Gefühl scheuchte mich aus dem bequemen Sorgenstuhl. Ich bin Christ, sogar gläubiger Katholik – aber ich hatte meine eignen Gedanken über unsre Ehe schon lange vor deiner Affaire. Die Ehen werden leider nicht im Himmel geschlossen! Und der alte Gott hätte viel zu thun, wenn er all das Pack persönlich zusammenbringen wollte, das sich heute wegen des Geldes, oder wegen des Namens, oder weil sie nichts gegeneinander hatten, freit. Die Ehe ist allerdings auch ein Sakrament – aber die ganz andre Ehe! . . . Die Mehrzahl von unsern Ehen geht aber so vor sich: daß sich die Leute nur verbinden, weil sie nichts trennt, und sich später nicht trennen, weil sie nichts verbindet. Das klingt wie ein hübsches Wortspiel. Es paßt aber auf deine Herzogin – wenn auch nur zum Teil . . . Ich sage mir, die Ehe im allgemeinen ist eine menschliche, rein äußerliche Satzung, ein praktisches Institut, das ein Band sein soll, aber keine Fessel. Und wer nur die Fessel fühlt und ein gutes Recht hat, nur sie zu fühlen, wie diese Frau, der soll sich dieser Fessel entledigen, solange er noch kann . . . Und vom Standpunkt des Sakraments sage ich wiederum: Es giebt keine größere Todsünde, als die heilige Ehe zur frivolen oder bequemen Lüge zu machen. Und man thut Gott wahrlich keinen Gefallen damit . . . Aber zu solcher Klarheit muß man selber kommen – das Herz muß es uns sagen und darf nicht stille werden, so sehr die Vernunft dagegen spricht . . . Nein, Rolf, mit dem Augenblick, wo sich die Frau wieder geduldig ins Joch der Lüge spannt, hat sie ihre Vollblutqualitäten in meinen Augen verloren . . . Ich wünsche gar nicht gerecht zu sein in ihrem Sinne und peinlich das Für und Wider abzuwägen – denn dabei wird man kleinlich und sagt zu allem ja, was einmal gewesen. Wir fassen ja alles auf, wie die Regeln der lateinischen Grammatik, wo die Ausnahme nur die Norm bestätigt. Wir sollten uns im Leben viel öfter fragen, was uns innerlich frommt und nicht, was den andern äußerlich recht scheint. Wir thäten dann wahrscheinlich uns Besseres und den andern weniger Schlechtes. Die Pflicht gegen sich selbst! – Wir sollten unsre Gefühle zu allererst zu dieser Pflicht trainieren und erst viel später zu der Pflicht gegen andre . . . Ich werde weitschweifig, weil ich hundertmal mir selbst wiedergekäutes Zeug gebe, das aber doch mal 'raus muß. Und ich habe mir vorgenommen, meine Kinder zum Hammer zu erziehen und nicht zum Amboß. Wär' ich im Leben immer Hammer gewesen, du wärst jetzt auch nicht in die Verlegenheit gekommen, Amboß zu sein . . .
»Noch einmal zu deiner Herzogin! Wenn sie doch ein starkes Empfinden für dich gehabt hätte, aber aus Gründen, die wir nicht kennen, die sie aber nur ehren, zum Bestehenden zurückgekehrt wäre – dann hätte sie dein großes Empfinden, dich nicht mit so liebenswürdiger Vernunft abthun können, wie sie's zuletzt that. – Sie würde dir alles gesagt, alles erklärt haben, und das kühle: ›Vergiß mich!‹ wäre ihr sicher nicht in die Feder geflossen – dies ›Vergiß mich!‹, das ein Schlag ist mitten ins Gesicht! Sie ist wahrscheinlich heilfroh, daß sie dich los ist – und nur die Schwäche verhilft dir noch zu dem Andenken. Ein Pastellbild mit der Almosenwidmung? – Ich danke! . . . Und sie ist sicher ganz zufrieden, daß sie sich jetzt sagen kann: ›Ich war die Verschwenderin und er der Undankbare. Und ich kann Gott danken, daß er mich zur rechten Zeit erleuchtete!‹ . . . Wer aus Liebesbriefen deiner Sorte nur die Kränkung herausliest, der will nur die Kränkung herauslesen. Und wer auf den empörten Brief des Herzens so resigniert schweigt, der schweigt gern und aus klugem Eigensinn. Sie mag sich dabei wie eine Heilige vorkommen, die Märtyrerin einer schweren Pflicht und eines viel zu guten Herzens . . . Aber Rolf, ich muß dich frei machen von dieser Heiligen – und sei's auch durch deinen Tod.
»Du mußt dich wiederfinden, wie du dich verloren hast. Den Gefallen wenigstens thu' ihr. Sei wieder du selbst! Komme zu dem Punkte, wo du begreifst, daß eine geliebte Frau, der man schreibt: ›Wenn ich dich auf Erden nicht besitzen kann, dann wenigstens im Himmel!‹ und die darauf kühl schweigt, vielleicht vom Ekel dieser Vorstellung überrieselt, die ist mit dir fertig, ganz fertig! Sie möchte wohl auch gar nicht mit dir in denselben Himmel kommen – Ein so weit gehendes Gefühl ist ja auch lästig . . . Halte du übrigens, mein Lieber, es mit diesem Himmel, wie du willst – ich aber will mit der Frau gar nicht in denselben Himmel. Sie hat sich die kleine, sentimentale Thräne doch allzu rasch getrocknet, wo die große echte ungehemmt über ein andres, verzweifeltes Gesicht rollte. Und wenn sie am jüngsten Tage in all ihrer Schönheit und all ihrer Güte vor Gottes Thron niedersinkt, so wird er sie fragen, wie uns: ›Hast du gewuchert mit den anvertrauten Pfunden?‹ – Und sie wird antworten: ›Herr, ich gab allen.‹ – Und der Herr wird sie lange ansehen und sagen: ›Ich kenne dich nicht!‹ . . .
»Und, Rolf, wenn sie deine Briefe läse, und wenn sie uns hörte, so würde sie nur die kleinliche Kränkung herauslesen wollen und nicht das große Gefühl, und nur die Beleidigung heraushören und nicht die Empörung . . . Sie würde sagen: ›Pfui, wie gemein.‹ – Oder sie würde flüstern: ›Herr, sie wissen nicht, was sie thun‹ – Oder sie würde großherzig denken: ›Ich verzeihe den Verblendeten doch!‹« . . . Der ganze Körper bebte dem Mann, während er zu Ende sprach: »Sie soll dich hassen, sie soll dich verwünschen – aber sie soll dir nicht verzeihen! Und Gott soll sie in ihrer letzten Stunde allein lassen, wie sie dich allein gelassen hat in deiner Not!« . . .
Ein schweres Schweigen.
Der Jüngere lag noch immer unbeweglich im Sorgenstuhl zurückgelehnt, aber beim Zuhören war ihm das Monocle aus dem Auge geglitten, ohne daß er es bemerkt hatte. Er war weder gekränkt noch beleidigt. Dazu fühlte er die brüderliche Zuneigung auch aus einem ungerechten Verdammen zu warm. Der andre, so hart, so unerbittlich – und er so weich, so wenig Mann! Was dem einen die Muskel straffte, das schlaffte sie dem andern. Er hätte lächeln können über dies matte Zusammensinken, diesen endgültigen Bankerott seiner impulsiven Natur. Ihn überkam erst jetzt die volle Erkenntnis dieses Bankerotts – ihn, der eigentlich nur in die Heimat gekommen war, um zu sterben, getrieben von dem Instinkt des Endes, das auch das Wildtier in die Dickung zurückscheucht. Denn ob er nun hier lang oder kurz noch vegetierte – er starb doch schon lebend. Und wie solche Klarheit gerade Nervenmenschen urplötzlich wie eine Erleuchtung überkommt, so begriff er auf einmal, daß alles mit erbarmungsloser Notwendigkeit so kommen mußte. Er war sein Lebtag eine problematische Natur gewesen – und alle problematischen Naturen gehen an sich selbst zu Grunde. Er hatte weder die Lebensfreude noch den Segen der Arbeit je gekannt. Im Impuls, den ein starrer Eigenwille zum Ziele peitschte, hatte er darum sein Bestes gegeben, als Künstler wie als Mensch. Und eben darum ging er an der Unfähigkeit, zu verzichten, zu Grunde. Er wollte die Frau – er errang sie nicht – das war das Ende . . . Er empfand das ohne Bedauern, weil dieser scheinbar unedelste Kampf seines Lebens der edelste gewesen. Er war unterlegen in dem Kampf, aber es fiel ihm nicht ein, zur Alltäglichkeit zurückzukehren. Er wollte sich das einzig große Gefühl seines Lebens, den Glauben an diese Frau, bis zum Tode bewahren. Das war nicht Eigensinn, sondern eine Art Idealismus – und an diesem Idealismus mußte er unfehlbar sterben. – Er glaubte mit ganzer Seele an diese Frau!
Das war eine lange Gedankenfolge. Darum erwiderte er nach langem Schweigen erst: »Warum eine Rose entblättern, Gert? Wer Zeit genug hat, zuzusehen, dem entblättert sich schließlich jede Rose von selbst – aber dann ist's keine Rose mehr. Laß mir meine Rose, Gert, so frisch und so schön wie sie ist! Ich will's nun mal . . . Weißt du, ich habe wohl früher behauptet, es sei für die Menschheit wichtiger, daß sie an einen Himmel glaubt, als daß dieser Himmel existiert . . . So ist es auch für mich besser, daß ich an diese Frau glaube, als daß sie existiert . . . Und sie existiert doch genau so, wie ich an sie glaube! . . . Sie ist und bleibt meine Heilige. Und wen man unendlich geliebt hat, der muß wohl auch unendlich viel wert gewesen sein . . . Fürchte darum keine Schwachheiten, Gert! Ich werde in meinem Leben nie wieder betteln, selbst wenn ich bettelnd die Frau erringen könnte. Ich werde auch hoffentlich nicht die Geschmacklosigkeit begehen, mich selbst abzuthun offiziell – es müßte denn ein Anfall von Geisteskrankheit sein, wo unheilbare Melancholie oder Tobsucht meinen Gemütsdefekt genügend kaschieren würden. Aber eingestandenermaßen um eine Frau zu sterben – nein! So etwas thun Ladenjünglinge oder Phantasten und verdienen dafür nur das Achselzucken . . . Und dann wär's auch herzlos gegen die Frau selbst, die doch für meine Ueberspanntheit nichts kann . . . Ich hoffe jedenfalls, daß ich nie so weit komme, aber ich weiß es nicht. Im übrigen sagte ich dir schon neulich: ›Ich brauche zum Gesunden nur das Atom – das Atom Ekel . . . Wird mir das verständig verabreicht, so finde ich mich entweder schrecklich wieder, und du kannst dir zu diesem absoluten Weltverächter von Bruder gratulieren, oder – es ereignet sich ein Unfall . . .‹«
Das Mädchen kam herein und brachte eine Depesche. Der Bruder las sie und hob dann die zerbrochenen Enden des Reitstockes auf und legte sie auf das Fensterbrett.
Eine Stunde später fuhren die Brüder im Break nach der Bahn, um Frau Klara und die Kinder abzuholen. – Es war ein wortreiches Wiedersehen. Frau Klara, eine noch sehr gut aussehende Blondine, deren liebenswürdige Herzenskühle ihr Teint und Figur am besten konserviert hatte, stellte dem Schwager die Kinder vor, die noch nicht in der Pension waren, und die jetzt den Onkel sofort wegen mitgebrachter Schokolade interpellierten.
Als das erledigt war, sagte Frau Klara zum Schwager: »Und wie gut du aussiehst, Rolf! Wenn ich denke, wie mein Mann in dem letzten Jahr alt geworden ist . . . Na, du genießest ja auch das Leben, hast keine Sorgen . . . Dürfen wir nicht nächstens doch auf eine Schwägerin rechnen?«
Der Gatte räusperte sich unwillig. »Daß ihr Frauen doch immer dasselbe thörichte Zeug reden müßt!«
Frau Klara wandte sich pikiert wieder zum Schwager: »Ja, sieh mal, so behandelt dein berühmt liebenswürdiger Bruder uns seit Jahresfrist täglich . . . Na, das wird sich hoffentlich durch deinen Besuch mildern, denn er vermißt doch eigentlich nur dich! . . . Geschrieben hast du gegen deine Gewohnheit sehr häufig . . . Aber wenn du vielleicht denkst, daß mir Gert auch nur eine Zeile gezeigt hat, so irrst du dich. Heimlichkeiten werden's wohl nicht gewesen sein – aber Briefe von dir sind Heiligtümer, die kein andres Auge entweihen darf, und die im Geldschrank aufbewahrt werden müssen.«
Die Brüder sahen sich dabei an und schwiegen.
Eine glückliche Ehe war das auch nicht gerade.
Es war jetzt in wenigen Tagen voller Frühling geworden. Die Wege trocken, über den Bäumen des Parks ein grüner Hauch, und auf den Feldern das silbrige Grau der sprossenden Saaten . . . Nachbarn kamen zu Besuch und fanden, daß der jüngere Raben noch zugeknöpfter und hochmütiger geworden sei, seitdem man von seinen Erfolgen nichts mehr hörte. Man fuhr fleißig auf die andern Güter. Aber Rolf, den früher die Landwirtschaft interessiert hatte, fand jetzt den Osten trostlos und seine Menschen öde. Eigentlich freuten sich nur die Kinder an dem Onkel, weil er ihnen etwas Neues war. Der kurze Sommer kam, die Ernte, und gleich auf brennende Hitze ein kühler, langer Herbst.
Als die Lokomobile auf dem Vorwerk das Verkaufsgetreide ausdrosch und das Summen und Pfeifen bis zum Herrenhaus drang, kam eines Morgens unter vielen Briefen auch ein Brief mit einer belgischen Marke. Frau Klara brachte ihn dem Schwager selbst. »Na, na, eine Damenhand!«
Rolf zuckte zusammen und wurde blaß. Er blieb fast den ganzen Vormittag auf seinem Zimmer eingeschlossen. Erst gegen Mittag kam er herunter und setzte sich auf eine Bank im Lindengang des Parkes. Von dort sah er träumend nach dem Stück gelber Stoppel, das vom Feld herüberleuchtete. Der Herbstwind fegte darüber. – Er saß sehr lange. Absatzfohlen waren mit der Bahn gekommen, und der Gutsherr hatte sie selbst, wie immer, von der Station geholt. Darum verspätete sich das Essen. Jetzt schritt er eilig durch den Park, pfeifend, angeregt durch seine Pferdepassion. Als er den Bruder sah, setzte er sich zu ihm und klopfte ihm auf das Knie: »Du, der Jude hat mir doch schöne Füchse besorgt – prachtvolle Knochen und viel Figur. Manchmal macht die Landwirtschaft auch wirklich Spaß.« Dann schielte er nach dem Brief, den der andre noch gedankenlos in der Hand hielt. Er erkannte die Marke und fragte zögernd: »Von ihr?« – Seit der großen Auseinandersetzung waren sich die Brüder etwas aus dem Wege gegangen, aber nicht aus Erkältung, sondern aus Gêne.
Der Jüngere antwortete ruhig, fast weich: »Wenigstens ist in dem Brief viel von ›ihr‹ die Rede. Er ist von der deutschen Reichsgräfin – du erinnerst dich wohl noch der alten Jungfer? . . . Sie wundert sich, daß man von neuen Bildern nichts mehr hört . . . Du, Gert – dabei fällt mir ein – wir haben von ›ihr‹ so lange nicht gesprochen. Ich habe sie doch sehr, sehr lieb gehabt – ich hätte sie auch gern noch mal im Leben wiedergesehen . . .«
»Denkst du an's Sterben, Rolf?«
»Im Gegenteil. Mir ist heute erst wohl: das macht der Brief.«
Der Aeltere sah dem Jüngeren scharf ins Gesicht. »Aber du bist merkwürdig blaß heute, Rolf, und du hast in den Augen so einen . . . so einen fatalistischen Ausdruck . . .«
»Das kann allerdings stimmen. Ich, der alte Fatalist, werde mich doch nicht auf meine letzten Tage ändern. Ich bin's heute stärker als je . . . Darum also in dem Sinne weiter! Wenn ich mal tot bin – vergiß, bitte, nicht, daß die Frau mir eine liebe Heilige gewesen ist, die mir nur Gutes thun wollte.«
»Ach Rolf, das klingt wie ein Trauerchoral!«
»Das ist aber gar nicht beabsichtigt.«
»Dann komme zum Essen! Nach Tisch zeige ich dir die Fohlen, daß du auf andre Gedanken kommst.«
Bei Tisch herrschte gute Laune. Namentlich die Kinder waren sehr angeregt, weil die Fohlen auf ihrem Tummelplatz im Hof schmerzlich nach den Müttern wieherten. Von der Tafel konnte man genau sehen, wie die hübschen Tiere sehnsüchtig die feinen Köpfe durch die Eisenstangen der Umfriedung steckten. Einmal pfiff auch die Lokomobile vom Vorwerk, schrill, heiser. Die Kinder lachten. Bei dem Pfiff blitzte es in Rolfs Augen auf wie eine Eingebung. Es sah's niemand. Die Augen wurden auch sofort wieder matt, nur das Monocleglas blinkte. Viel später sagte er nachlässig: »Du, Gert, ich möchte mich mal wieder auf einen Gaul setzen . . .«
»Aber selbstverständlich, Rolf! Laß dir meinen Reitbraunen gleich nach Kaffee satteln. Er springt absolut sicher, und man sitzt beim Trab wie in einer Wiege.«
Der Jüngere erwiderte lächelnd: »Das habe ich nun eigentlich nie so sehr geliebt. Etwas durchgeschüttelt muß ich werden . . . Hast du nicht noch einen andern Gaul? . . . Aber wozu hast du eigentlich die Vollblutstute?«
»Wo denkst du hin, Rolf! Das kannst du zur Not riskieren in vier Wochen, wenn du dich eingelebt hast auf dem Sattel. Aber selbst dann noch . . .«
»Ich bitte dich, Gert! Ich reite jedes Pferd. Ich habe doch noch immer die ganz weiche Hand.«
»Ja, ja, Rolf! – Aber höre mir lieber . . .«
»Ich habe nun einmal Lust, heut, Gert. Morgen habe ich die Lust sicher nicht mehr.«
»Nein, Rolf, den Fuchs gebe ich dir nicht!«
»Dann nehm' ich ihn mir,« antwortete der Jüngere lächelnd. »Was willst du dagegen thun? Du kannst doch nicht den Leuten sagen: ›Wenn mein Bruder die Stute zu satteln befiehlt, dann thut's nicht!‹«
»Allerdings, Rolf. Aber ich bitte dich dessenungeachtet.«
Da mischte sich Frau Klara ins Gespräch. Sie liebte den Schneid mehr als den Schwager. »Es ist wieder deine Nervosität, lieber Mann! . . . Du hast doch selbst neulich zu mir gesagt, Rolf wäre zwar niemals ein besonders eleganter, aber immer ein unbedingt sicherer Reiter gewesen. Und du wolltest noch heute das Pferd sehen, das ihn aus dem Sattel brächte, ohne sich selbst mit zu überschlagen.«
Rolf, der neben der Schwägerin saß, reichte ihr scherzend die Hand und sagte: »Du bist doch meine beste Freundin, Klara. Wie konnten wir beide uns eigentlich so lang verkennen?«
Der Hausherr schüttelte darauf den Kopf, etwas pikiert durch diese neue Allianz. »Wenn ihr beide es durchaus wollt – meinetwegen! Aber ich bitte dich wenigstens, Rolf: ohne Sporen und Peitsche. Auch keine Kandare – der Fuchs ist zu weich. Es ist, ehrlich gesagt, eine dumme Marotte, diese ganze Reiterei. Jetzt, wo die Lokomobile immer pfeift, ist der Gaul nun schon gar nicht zu taxieren und wird dir durchgehen. Ich garantiere überhaupt für nichts.«
Frau Klara, die sich für diesen Ritt engagiert hatte, blinzelte dem Schwager nur ermutigend zu. Die Tafel wurde mit einer leichten Verstimmung aufgehoben. Der Hausherr ging sofort in sein Zimmer. Aber er lugte doch hinter der Gardine vor, als eine Stunde später drüben am Kutschstall das Vollblut herausgeführt wurde. Frau Klara stand dabei, auch die Kinder, die sich einen Onkel gar nicht zu Pferde vorstellen konnten. Er wollte schon hinausgehen, weil er deutlich die Kandarenkette blinken sah. Auch trug der Bruder Sporen, und die schwere Rennpeitsche steckte im hohen Lackstiefel. Aber zu guter Letzt ging der gute Gert doch nicht. Er hatte sich über die beiden geärgert. Dann setzte er sich auf den Sorgenstuhl, wie jemand, der mit der Welt nichts zu thun zu haben wünscht. – Daß sich die beiden auf einmal zusammenfanden! Er hatte immer blind gegen seine Frau zum Bruder gehalten in allen Dingen. Zum Dank wurde ihm der bei einer Bagatelle untreu. Gerade die Bagatelle wurmte ihn am meisten. Er konnte, wie alle feinfühligen Menschen, auch kleinlich sein.
Er saß noch nicht lange mit seinem Groll allein, da wurde von draußen an die Scheibe geklopft. Es war der Bruder auf dem Fuchs, dessen Hufschlag der weiche Sand der Vorfahrt nicht verraten hatte. Rolf winkte mit der Reitpeitsche. Aber nur zögernd öffnete der Aeltere das Fenster. Der Bruder beugte sich tief aus dem Sattel und streckte ihm die Hand hin. »Sei nicht giftig, alter Gert!«
»Nimm dich wenigstens in acht, Rolf!«
»Ach was! Was passieren muß, passiert doch. Ich bin heute Fatalist. – Aber mir passiert sicher nichts.« Und dabei drückte er die andre Hand mit einem eigentümlich flüchtigen Druck. »Gott befohlen, Gert!«
Er wandte rasch den Kopf ab. Im Moment sprang der Fuchs auch schon zum kurzen Galopp an.
Gert sah dem Reiter nach. Es war noch immer der sichere Sitz und der feste Schenkel, die ihn beruhigen konnten. Trotzdem beruhigte er sich nicht. Eine plötzliche Unruhe, eine unerklärliche Angst faßte ihn, sobald der helle Schweif der Stute hinter der Scheune verschwunden war. Es war eine Unruhe, die aus dem Herzen, nicht aus dem Kopf kam.
Und er ging rasch hinauf in den ersten Stock, wo man vom Frontispice die Ebene weithin überschauen konnte. Er sah den Reiter nicht. Aber er fragte sich besorgt: »Warum reitet er durchaus heut? Und warum durchaus dies subtile Tier?« Und von diesem vagen Angstgefühl getrieben, suchte er auch noch das Mansardenzimmer des Bruders, das nach dem Park hinauslag. Es war gar nicht seine Art, in fremde Zimmer zu gehen in Abwesenheit ihrer Bewohner – er wußte auch, daß der unordentliche Rolf das selbst von Frau Klara gar nicht liebte. Aber er ging doch hinein! . . . In dem kleinen Raum das wenig malerische Durcheinander, die Zigarettenatmosphäre – nur der Schreibtisch peinlich geordnet. Auf dem grünen Tuch der Platte lag sorgfältig zusammengefaltet der Brief aus Belgien. Gert nahm ihn – es war, als wenn's ein fremder Wille für ihn thäte – und sah flüchtig hinein, trotz der Indiskretion. Eine Stelle fiel ihm sofort auf: »Die Prinzessin Bragan hat, was Sie interessieren wird, Baron, einen Sohn. Und die gute, gute Félicie, die ein wenig schwermütig ist, freute sich darüber doch so, daß sie mir gestand, dieses Kind ihrer Schwägerin habe sie so glücklich gemacht, als sie überhaupt noch glücklich sein könne . . . Sie kennen meine reizende Nichte ja auch so gut – und das wehe Lächeln, das sie jetzt ausschließlich lächelt, müßte einen Künstler wie Sie geradezu bezaubern. Sie lächelt zuweilen genau so wie »Die Liebe« auf Ihrem schönen Gemälde . . . Aber Félicie ist doch so ganz, ganz anders! Wer über das Glück andrer glücklich sein kann wie sie, der besitzt doch die schönste Selbstlosigkeit.«
Er las nicht weiter – aber er suchte in dem Schreibtischaufsatz mit nervöser Hand herum. Er wußte jetzt, daß er sich nicht grundlos geängstigt und daß der merkwürdig fatalistische Ausdruck in seines Bruders Augen heute seine Geschichte hatte. Endlich fand er, fast versteckt unter Büchern, ein kleines Paket, gesiegelt wie ein Wertbrief und an den Herrn Gert von den Raben adressiert: »Nach meinem Tode zu öffnen.« Die Tinte war schon etwas verblaßt, weil die Adresse vor geraumer Zeit geschrieben. Gert riß das Siegel auf, obgleich es die schlimmste Indiskretion gegenüber einem Lebenden war. Es waren nur Andenken von »ihr« und Briefe von »ihr«. Er kramte zwischen ihnen ohne Neugier, aber ein wehes Gefühl schlich ihm ums Herz. Es waren eigentlich rührend kindliche Andenken – ein Lorbeerblatt, ein welkes Veilchen, ein rosa Seidenband . . . und die feine, feine schwarze Haarsträhne. Wie oft mochte die der Bruder wohl geküßt haben früher! . . . Erst ganz unten ein Zettel: »Alles sofort zu verbrennen!«
Erst wie er den las, fiel es Gert ein, daß die Indiskretion unsinnig, weil diese letzte Willensbestimmung zu weit zurücklag. Er wollte das Paket wieder siegeln, ein wenig beschämt doch und froh, daß er nicht auch die Briefe von »ihr« durchstöbert hatte. Aber als er das Licht anzündete, zitterte ihm die Hand zu sehr. Der Kopf war ihm mit einemmal so leer geworden, er mußte sich setzen. Er war so matt, so unfähig irgend eines Entschlusses! Er sah nur immer wieder das Paket an, und das Schicksal des Bruders erschien ihm so grau, so traurig, nicht einmal vergoldet von der kleinen Tragik, die auch mit dem herbsten Schicksal sonst versöhnt. Wenn der nun wirklich bei dem Ritt heute verunglückte, starb – so war es am Ende doch das beste. Es lag ja alles in Gottes Hand! . . . Und wenn er jetzt den Bruder suchte, ihn zum Weiterleben gewissermaßen zwang, so war das doch der kleine Egoismus und nicht die großherzige Bruderliebe . . . Darüber wurde er sich vor diesem Paket mit den Andenken klar. Aber er nahm doch das Paket, um es bei sich unten einzuschließen, und ging doch hinaus, den Bruder zu suchen. Es war mehr der Trieb, irgend etwas zu thun, als der Wunsch, dem Schicksal in den Arm zu fallen.
Als er hinaustrat in den kühlen, hellen Herbsttag mit dem scharfen Wind und den zackigen Wolken, sah er gerade wieder den Bruder vom Hof reiten. Er ritt im Schritt – aber die Stute war ganz naß und trat sehr unruhig. Gert wollte ihm zurufen – aber er rief nicht. Er wartete, bis der Bruder sich im Sattel drehte – aber der drehte sich nicht im Sattel . . . Dann kam der Inspektor herbei in angenehmer Aufregung und erzählte: »Herr Baron – er hat den Fuchs doch klein gekriegt. Ihr Herr Bruder! Bei der Lokomobile war er auch – der Fuchs tanzte wie wahnsinnig, aber er bekam ihn nicht 'runter . . . Der Herr Baron reitet doch sehr gut.«
Er hörte dem Mann zu und kam sich jetzt ein wenig lächerlich vor mit seiner Angst. Aber er brach doch schnell das Gespräch ab und sagte nur kurz: »Ich danke« – was sonst gar nicht seine Art war.
Dann ging er über den Hof ins Freie. Auf dem Feld sah er die Lokomobile rauchen, und wie die Leute in Gruppen um die Strohberge standen und gestikulierten. Er sah auch, wie jetzt der Bruder den Fuchs auf dem schnurgeraden, weichen Feldwege zum Galopp zusammennahm. Es war gar nicht weit – er hätte noch rufen können. Aber er bezwang sich, er fühlte, daß, was auch kommen mochte, Schweigen die bessere Menschenpflicht, die größere Selbstlosigkeit war. Wenn Rolf heute wirklich den Tod suchte, so wußte der auch sicher, warum . . . Er blieb hinter der Scheune stehen und stützte sich auf seinen Stock. Er wollte wegsehen – und sah doch unverwandt nach dem Reiter, der jetzt im ruhigen, schönen Kanter die anderthalb Kilometer bis zur Lokomobile maß. Eine so sichere Hand, ein so fester Schenkel! . . . Nein, es war doch wohl die wiedererwachende Kraft, die sich am Pferde üben wollte . . . Und da auf einmal der schrille, heisere Pfiff – Rolf mußte das wohl mit dem Maschinenführer so abgemacht haben. Die Leute am Strohberg stoben auseinander, die Mädchen kreischten. Und jetzt ein bäumendes, schäumendes, vor Aufregung, halb wahnsinniges Tier. Das kurze, blitzschnelle Drehen – der rasende Seitensprung – der scheinbar verzweifelte Kampf zwischen Mann und Pferd. Aber mit seinem scharfen Auge sah der Gutsherr sofort, daß sein Bruder spielend den Sattel halten konnte – Die Angst war vorüber. Ja, das Zuschauen beim Kampf war ihm Genuß . . . Und eine Sekunde später der Fuchs ruhig, zum Sprung gesammelt – und in der nächsten Sekunde der fliegende Galopp eines durchgehenden Pferdes über die schier endlose Stoppel. Gert lachte vor sich hin: »Da wirst du bald müde werden, mein Pferdchen!« . . . Aber wie er den Bruder so dahinfliegen sah über das weite, weite Feld, da kam ihm der Ritt wieder fast lächerlich vor. Das Vergnügen paßte nicht mehr zu seinem Bruder . . . Also der war doch zur Alltäglichkeit zurückgekehrt – der Fatalist, der immer anders gewesen als die andern. Das Unglaubliche – ja! Das Alltägliche – nie! . . . Und der bekehrte sich nun auch.
Gert von den Raben ging langsam zurück nach dem Hof. Da schrillte der Lokomobilenpfiff noch einmal. Er drehte sich um, weil ihn der Unfug zu ärgern begann. Er wollte eine Verwünschung murmeln – er murmelte sie nicht. Wo drüben sumpfige Wiesen die Stoppel säumten, galoppierte jetzt der Durchgänger. War's der Pfiff – war's der Zügel, der das Vollblut jetzt in ganz andrer Richtung trieb? . . . Es ging in langen, gezogenen Sprüngen über den weichen Grund und geradewegs auf einen alten, riesigen Plankenzaun zu, der Rest einer längst aufgegebenen Koppel. Ein Sprung – war hier Wahnsinn . . . Und auf einmal begriff Gert alles. – Ein stutzendes Pferd – eine hoch erhobene Peitschenhand, die niedersaust – eine krachende Planke – ein im ausgleitenden Sprung sich überschlagender Pferdekörper, der Reiter mit . . . Und dann Gerts eigner, heiserer, verhallender Schrei.
Einige Minuten vermochte er sich nicht zu rühren. Dann aber ging er hinüber nach den Wiesen – es war nicht allzu weit. Er winkte die Leute zurück, die von der Lokomobile herbeieilten. Er wußte genau, was geschehen war. Auf dem grünen Rasen hinter dem zerbrochenen Zaun lag der Fuchs mit glasigen Augen – verendet. Unter ihm, die Brust eingedrückt, sein Bruder – auch verendet. Gert beugte sich über den Toten. Das Gesicht war nicht entstellt, aber um die geschlossenen Lippen lag der gewisse brutal entschlossene Zug. Er hatte wieder einmal das Unglaubliche versucht, der Mann – und diesmal hatte er gesiegt . . . Dem Ueberlebenden war das Ende auch recht, er neidete es beinahe dem Toten . . .
Darauf winkte er die Leute herbei, die neugierig von fern standen. Er selbst ging weg. Er schämte sich ein wenig der Thräne, die in sein Auge getreten war . . . Im Park kam ihm seine kleine Tochter entgegengelaufen. »Papa, wo ist der Onkel mit dem Fuchs?«
Da erst rann ihm der heiße Strom über das Gesicht. Und während er dem verwunderten Kinde das Haar zitternd streichelte, sagte er weich: »Er ist verreist auf immer. Aber das darf dir nicht leid thun. Ihm ist endlich wohl, mein Kind!« . . .
*
Am Abend desselben Tages war großes Feuerwerk auf einem belgischen Schlosse. Man feierte mit Gepränge die Taufe des jungen Prinzen von Bragan. Die Illuminationslämpchen an der mächtigen Schloßfront flackerten, das bengalische Licht flammte. Es war eine helle Sternennacht. Im alten Park wandelten der Herzog und die Herzogin von Lièges Arm in Arm. Das Bragansche Wappen, sinnig aus bunten Lichtern gefügt, leuchtete über dem Portal. Man las deutlich den Wappenspruch: »Pour l'amour la mort.« Die Herzogin war müde vom Trubel heut – aber der schöne Spruch freute sie doch. Sie blieb stehen, träumend nach ihm zu schauen . . . Dabei dachte sie an einen andern, der nicht hier war. Sie hatte ihn nicht vergessen, obwohl sie es leicht gekonnt. Sie wollte es nicht – sie hatte ihn einst geliebt. Und gerade jetzt flog ihr ein Stich durchs Herz. Sie dachte, wie oft sie der andre gekränkt und wie wenig er sie verstanden – das that ihr weh. Und wie sie doch treu geblieben war im Erinnern und Versprechen – das that ihr wohl. Aber das Herz schlug ihr schwer, das andre Herz. Sie war ja auch so krank!
Der Herzog, der höflich stumm auf das Weitergehen gewartet hatte, fragte jetzt spöttelnd:
»An wen denkst du so intensiv, Félicie?«
Sie zeigte auf den leuchtenden Wappenspruch drüben, der sich wie glückverheißend über den dunkeln Parkbäumen hob. Und sie lächelte ebenso weh und ebenso süß wie einst.
Sie wandelten weiter. Die Herzogin drehte sich noch einmal um. Pour l'amour la mort! – schimmerte ein letztes Mal.
»Pour l'amour la mort!« wiederholt sie träumerisch. Sie wußte ja nicht, daß es inzwischen der Wappenspruch eines adligeren Geschlechtes geworden war.
Ende