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Der Herzog ist da. Er brachte mir herzliche Grüße vom Grafen. Sonst hat Freund Charles eine starke Pike auf diesen Vetter, der neulich mit lächelnder Ruhe ein großes Vermögen am Spieltisch gelassen hat – nicht etwa in einer Nacht, sondern in einer Stunde, mit so wahnsinnigen Sätzen pointierte er.
Heut ist Mittwoch. Abreise: Sonntag oder Montag. Félicie hofft noch immer auf einen Aufschub – ich nicht mehr. Die Reise soll bis Barcelona auf der Jacht vor sich gehen. Von da gedenkt man auf interessanten Umwegen Biarritz zu erreichen. Zurzeit weilt dort die Braut-Marquise, deren Mutter in der Nähe dieses Modebades eine wundervolle Villa im Burgstil besitzt. Félicie kennt diese Villa und liebt sie wie alles, was mit dem Prinz-Bruder in irgend einem Zusammenhang sein könnte. Dort und nicht in Paris soll auch die demnächst zu feiernde Hochzeit sein. Die angebetete Frau freut sich seit vielen Monaten auf diesen großen Moment, wo »pour l'amour la mort« wieder zu Ehren kommt in dieser Liebesehe. Die Art, wie der Duc den ganzen Reiseplan besprach, machte mir sehr klar, daß ich zur Stellung eines Hausgenossen avanciert bin, der anspruchslos und bequem, weil er mit einer Haut begabt ist, aus der man ohne Schaden Reitpeitschen und Spazierstöcke schneiden kann. – Aber ich bleibe trotzdem. Ich will nun einmal – wie ich auch freiwillig nie aus meinem Karren an der Endstation aussteigen werde, sondern erst energisch herauskomplimentiert werden muß. Félicie, die gerade in letzter Zeit mich auffällig schnitt in des Ducs Gegenwart, weil sie dann das Gewissen quält, und weil diese Ehe zu dreien für solches Feingefühl nachgerade etwas Entsetzliches wird – sucht mich jetzt immer. Sie ist melancholisch, gedrückt, die großen Opalaugen schimmern feucht, was ihnen einen neuen Zauber verleiht. Sie ist in Wahrheit noch immer ratlos und kämpft noch immer. Sie möchte mir um keinen Preis weh thun und wiederum dem Duc keinen plumpen Argwohn wecken. Sie sieht die lieben Tage des Glücks jetzt in einem schwermütigen Lichte. Sie möchte die Tage nicht missen, weil sie doch eine Art Heiligtum sind, an dem man nicht rühren darf. Sie wünscht, die Tage des Glücks gingen weiter – und wünscht, sie gingen zu Ende. Und doch hat sie dabei dumpfe Momente wie ich, wo sie das Niegewesen wünscht oder das Vergessen wenigstens. Sie will weg – und will nicht weg. Sie denkt an mich und denkt an ihren Bruder. Ihr bangt vor dem Abschied, und sie freut sich auf das Wiedersehen. Sie fürchtet sich, dem Prinzen von Bragan ins Auge zu schauen, weil der die Schuld herauslesen könnte; sie fürchtet eine ironische Frage nach mir, ein verächtliches Urteil über mich. Sie kämpft eben, sie ringt. Sie fühlt bald so rot wie die schlimmste Revolution und wieder so blau wie die beste Tradition. Sie haßt ihren Mann – und wird sich doch nie frei machen! . . .
Sie wird wehmütig lächelnd doch eines Tages zur Tradition zurückkehren, weil die das Bessere. Heut kämpft sie noch verzweifelt gegen etwas, für das sie sich innerlich längst entschieden. Ich vermute das, weil ich ein Pessimist bin. Und dabei liebe ich sie noch immer, aber ich liebe sie hoffnungslos. Ich weiß genau, daß trotz aller Gefühlswärme, allen Edelmuts, aller Herzensreinheit sie doch herzlich froh sein wird, wenn ihr der Bruder eines Tages sagt: ›Du hast etwas vor, Félicie! Ich ahne sogar, um wen es sich handelt. Aber bitte, keine Tollheiten, liebes Kind! Und wenn du wünschest, daß ich dich eines Tages nicht mehr kenne, so trenne dich nur von deinem Mann. In unsern Familien giebt's so was einfach nicht! Und das bitte ich zu bedenken.‹ – Sie wird empört sein, sie wird vielleicht weinen und sich innerlich so zermartern wie eine – und dann wird sie doch thun, was die Gesellschaft und was die Tradition befiehlt. – Félicie ist noch lange nicht so weit. Der schwerste Kampf kommt erst nach der Trennung – aber sie kommt so weit! . . . Und vielleicht wird es eines Tages sie selbst sein, die mich durch eine Tragikomik des Schicksals aus meinem Karren freundlich herauskomplimentiert auf meinen Wüstenpfad . . . Sie wird sagen oder schreiben: ›Ich habe Sie glücklich machen wollen, mein Freund – ich vermochte es nicht. Werden Sie darum wieder, was Sie waren! – Mir wird's furchtbar schwer, es Ihnen zu sagen: vergessen Sie mich mit allen Mitteln und unter allen Umständen.‹ . . . Das Vergessen ist ja in dem Fall so furchtbar leicht, Gert!
Ich war stets ein jammervoller Prophet, Gert – und wer leidet, mißtraut. Aber ich möchte doch solches Wort oder solchen Brief lieber einmal an mich, den Toten, gerichtet haben, als an mich, den Lebenden. Ich habe eine kindische Angst vor der ungeheuren Bitterkeit, die mir da aufsteigen würde – und ich hoffe für diese Frau, daß sie nie so tief unter sich selbst hinabsteigen möge. Es sind ja nicht die bewußten, es sind die unbewußten Herzlosigkeiten einer Frau, die am tiefsten verwunden.
Und ich bleibe, Gert – ich bleibe.
Ich belauschte neulich absichtslos eine Unterhaltung zwischen ihr und dem Duc.
»Was hast du eigentlich, Félicie? Du scheinst schlechter Laune, liebes Kind – und ich habe dir doch nichts gethan.«
Sie antwortet nervös: »Nein, du hast mir gar nichts gethan!«
»Wirklich nichts, Félicie?«
»Weniger als nichts, Charles!«
»Ich verstehe dich nicht, mein Kind.«
»Ja, ja – aber laß mich!«
Ueber dieses »Laß mich!« wird sie nie hinauskommen. Menschen, die nie im Leben stark verletzen können, die können auch nie im Leben stark wohlthun. Halte in einer Lüge eine gewisse Zeit aus – und seist du auch der Beste, du wirst selbst zur Lüge. Es sind im Grunde doch die goldenen Rücksichtslosigkeiten, die das Leben verlangt, und die allein die Menschheit vorwärts stoßen. Und wenn einer immer aufpassen wollte, ob der zielbewußte Fuß keinen Käfer zertritt – der wird nicht weit kommen. Und wer immer auf einen fremden Arm gestützt, ängstlich geht, der wird nicht mehr für möglich halten, daß er allein und viel besser gehen kann . . . Ich mache sie schlecht, diese Frau, die ich so unendlich liebe. Ich beschimpfe eine liebe Heilige – aber ich kann nicht anders . . .
*
Ich bin wieder stumpf. Das wechselt so. Mir scheint, daß die Vorsehung mit allen Mitteln dem Leben und dem Glück mich erhalten möchte.
Félicie ist auch stumpf.
An einem Spätvormittage – es war Sonntag und sie eben von der Frühmesse zurückgekehrt. – Ich saß auf dem Balkon, das Buch in der Hand, das man nie liest, und sah den grauen, müden Tag über den stummen Park schleichen, auf der bleiernen, unbewegten See lasten. Eine Rivierastimmung ohne Kraft und ohne Wärme – aber auch eine häufige Rivierastimmung. Dazu von hüben und drüben die bimmelnden Glocken, deren Ton in der trägen Luft einschlief. Alles so schwermütig, ohne Hoffen – Das drückt. Félicie kam durch das Verandazimmer müden Schritts, im schwarzen Hut mit Gebetbuch und Rosenkranz. Der Duc ist noch unten im Ort, weil er demütig an Sonntagen die Equipage verschmäht. – Es ist doch der letzte Tag, und die letzte Stunde allein, und wir sollten sie froh genießen, aber wir begrüßen uns nur leise, verlegen.
»Bleibst du einen Augenblick, Félicie?«
»Ja, einen Augenblick und auch länger, bis er kommt.«
Das Gesichtchen ist müde, die Opalaugen weich . . .
»Ich muß es Ihnen doch wohl gleich sagen: Wir reisen morgen.«
»Das wußte ich. Ich habe eben kein Glück.«
»Ich habe auch kein Glück.« . . . Félicie ist stehengeblieben, sie lehnt an der Brüstung und sieht mich ängstlich an: »Werden Sie mit nach Nizza kommen?«
»Ich weiß noch nicht.«
»Nicht mal zum Abschied, mein Freund?«
Ich fühle gar keine Verzweiflung, nur das dumpfe, wehe Ziehen in den Nerven. Die Unabänderliche Thatsache trifft uns immer am wenigsten schwer. Ich wundere mich aber doch darüber, ich verstehe die feige Resignation nicht ganz.
»Nicht einmal zum Abschied?« wiederholt Félicie ein wenig bitter.
»Weil ich nicht weiß, ob ich's ertragen werde, mein Kind.«
»Auch mir zuliebe nicht?«
»Ich bin mit meinen Nerven fertig. Ich könnte da als Ritter von der traurigen Gestalt erscheinen, was uns beiden peinlich wäre. Dir sicher noch mehr als mir.«
»Ja, vielleicht ist's auch besser, Sie kommen nicht mit,« stimmt sie bei.
Ich weiß nicht, ob das nur Mitleid mit mir ist, oder ein vernünftiges Resumé.
Wieder Schweigen.
Félicie läßt den Rosenkranz nervös durch den dunkeln Handschuh gleiten. Sie schaut mich von Zeit zu Zeit ängstlich an. Ihr Herz quält etwas schwer . . . »Und was werden Sie thun, mein Freund, wenn ich weg bin?«
»Hier bleiben – oder wo anders hingehen . . . Es ist ja auch völlig einerlei.«
»Werden Sie mich nicht später einmal in meinem flandrischen Schlosse besuchen? – Es würde mich sehr freuen!«
»Nein, Félicie.«
»Warum nicht? – Es darf ja nicht bald sein – nach einem Jahr oder später, wenn Sie über die Trennung hinaus sind . . . Sie müssen mir natürlich in der Zwischenzeit schreiben – ich werde Ihnen auch antworten. Aber es darf nicht zu oft sein! . . . Das wäre uns nicht gut – mir sicher nicht . . . Aber schreiben auf alle Fälle! Damit wir wissen, ob wir noch am Leben, ob wir uns noch erinnern. Das denke ich mir so schön! . . . Aber es darf unter keinen Umständen eine gefährliche Korrespondenz werden . . . Ich glaube, wir beide werden nie den Mut finden, sie einmal ganz abzubrechen. – Aber schreiben müssen Sie mir unter allen Umständen und sofort – nicht wahr?«
»Ich weiß noch nicht, Félicie.«
Da wird sie nervös.
»Was soll das wieder heißen? Sie sagen, Sie lieben mich – und Sie wollen mich weder wiedersehen noch mir eine Nachricht geben.«
»Weil's keinen Sinn hat – weder das eine noch das andre . . .«
»Aber sprechen wir doch verständig, mein Freund! Ich will Sie ja nicht etwa quälen – ich sage nur nie ganz das, was ich fühle, aus Angst vor mir selbst. Und heute – wenn man's am schmerzlichsten fühlt, kann man es am schlechtesten ausdrücken . . . Also Sie dürfen nicht länger an der Riviera bleiben! Zu Ihrem Bruder wollen Sie nicht, obgleich das das beste wäre. Aber Sie müssen irgendwohin, wo Sie nicht mit sich allein sind. Sie sprachen von Indien, einer Seefahrt, die mit ihren neuen Eindrücken Sie auf andre Gedanken bringen würde . . . Vielleicht thut's Ihnen wirklich gut . . . Aber ich muß unter allen Umständen wissen, wo Sie sind, wo Sie ein Telegramm, ein Brief erreichen kann. Ich sorge mich so sehr um Ihre Zukunft. Ich würde eine schreckliche Gewissenspein durchmachen, wenn ich in jedem Augenblick denken müßte: ›vielleicht ist er todelend irgendwo allein – oder er ist schon tot‹ – Und ich könnte in Ihrer Todesstunde lächeln, weil ich sie nicht ahne. Wenn ich an Sie denke – und ich werde viel an Sie denken, sehr viel, mein Freund! –, will ich wissen, wo und wie ich an Sie denken darf in dem Augenblick . . . Das beste wäre doch, Sie gingen zu Ihrem Bruder. Sie sagen, er wäre ein sehr scharf denkender Mensch, und nach Ihren Erzählungen ist es mir ganz so, als ob ich ihn genau kennte. Er wird Ihnen verständig raten und auch mich verstehen. Vor allem verstehen, daß dieser Roman kein andres Ende haben konnte . . . Also wohin wollen Sie gehen?«
»Nirgendwohin, Félicie.«
»Das dürfen Sie mir nicht antworten! Es enthält die schwerste Beleidigung für mein Gefühl.«
»Aber es ist doch so egal, wohin ich gehe, Félicie!«
»Wollen Sie mich denn wieder quälen?«
»Nein –« und ich fühle wieder das schrecklichwehe Ziehen in den Nerven. – »Es ist ja so egal, wohin ich gehe, Félicie, weil es doch nicht lange und nicht weit sein wird.«
»Das heißt, Sie wollen . . .«
»Ich will gar nichts, Félicie. Das ist eben das Schlimme bei meinem Zustand.«
»Und doch weiß ich, was Sie wollen!«
»Nun gut – wissen Sie es!«
Da tritt sie mit bebenden Lippen und zusammengezogener Braue auf mich zu: »Sie sind fähig, mir das Aeußerste anzuthun?«
»Fähig vielleicht, Félicie, aber noch nicht entschlossen.«
»O ja, fähig sind Sie dazu, anstatt das Leben zu tragen, es wegzuwerfen! Aber dann wären Sie feige und rachsüchtig zugleich . . . Sie könnten mir also diese Gewissensqual aufbürden? Das habe ich nicht um Sie verdient! Ich habe Ihnen von Anfang an gesagt: den äußersten Schritt thue ich nur im äußersten Falle, und der tritt nie ein!«
»Sie träfe ja in keinem Falle eine Schuld, Félicie! Ich hätte auch sonst dasselbe wahrscheinlich einmal gethan, weil mir am Leben wirklich nichts liegt, und weil mir nichts daran liegen kann.«
Darauf sagte ihre liebe, weiche Stimme zitternd: »Sie werden es doch nicht thun, mein Freund. Ich kenne Sie besser . . . Sie wissen doch, daß ich Sie lieb habe, daß ich Ihnen das gab, was ich noch keinem Mann gab. Ist das noch nicht genug? Wollen Sie denn noch mehr? Der Selbstmord ist und bleibt Feigheit! – Ich, die ich zu einem gehaßten Mann zurückkehre, leide ja viel, viel mehr. Und wenn Sie allein sind, Ihrem Schmerz den ungehemmten Lauf lassen können, da muß ich stumm verzweifeln in seiner Gegenwart, vor seinen Augen. Ich muß leiden – und muß lächeln dazu . . . ja, lächeln dazu! . . . Mein Freund, versprechen Sie mir, daß, wenn Ihnen dieser Gedanke kommt, Sie an mich denken werden! Und wenn Sie an mich denken werden, dann werden Sie auch weiter leben, eben weil Sie mich lieb haben, und weil ich Sie lieb habe.«
Und ich antworte auf diese rührende Beschwörung nur verbissen: »Ich kann dir das nicht versprechen, Félicie. Und wenn du noch immer Herr deiner Sinne bist, so bin ich nicht immer Herr meiner Sinne . . . Und wenn ich es doch verspräche, der Tod bricht jeden Eid.«
»Mein Freund,« versucht sie es noch einmal, »ich kann Ihnen nur wiederholen: was ich sage, ist immer weniger als ich denke und viel weniger als ich fühle, aber Sie müssen doch selbst fühlen, daß ich grundehrlich bin, daß ich die Phrase hasse, und wenn ich mich sehr um Sie zu sorgen scheine, ich mich in Wahrheit noch viel mehr sorge. Also versprechen Sie mir?«
»Ich kann Ihnen nichts versprechen, ich kann nicht.«
Ich bin wieder einmal dem Zusammenbruch nahe.
Und jetzt – sieh daraus, Gert, wie schlecht ich doch diese Frau kenne, und wie sie thatsächlich immer mehr giebt, als sie zu geben scheint, – jetzt tritt sie mit zitternder Hand, aber rasch und entschlossen an die äußerste Ecke des Balkons, wo die Mauer des Sarazenenschlosses im jähen Absturz zum Meere fällt. Das Geländer ist so niedrig, der Sprung so leicht! Félicie biegt den geschmeidigen Körper ein wenig vor und sagt leise: »Da Sie mir nicht versprechen wollen, um meinetwillen weiter zu leben, so liegt Ihnen dann doch auch an meinem Leben nicht viel. Ich sagte Ihnen vorhin, ich hielte den Selbstmord für eine Todsünde. Aber ich thu's doch!« Es ist das von ihr keine müßige Drohung, es ist der plötzliche Entschluß. Die ganze Scene beanspruchte nur Sekunden.
Aber wie sie so dastand, die Opalaugen finster leuchtend, die weiche Lippe zitternd, die weiße Hand um den Metallknopf der Brüstung gekrampft, so eigensinnig entschlossen wie je – da schoß mir der Gedanke durch den Kopf: ›rühr dich nicht, sag kein Wort! – Aber in dem Moment, wo der schöne Körper im dumpfen Fall von Fels zu Fels taumelnd in der blauen Tiefe verschwindet, da springe du auch ohne Besinnen nach! Es wäre das beste. Ihr habt ja beide mit dem Leben nichts zu verlieren.‹ – Félicie ist keine Komödiantin, sie springt. – Nenne es meinetwegen Eigensinn! Es ist kein schlechter Eigensinn. Es ist die Natur dieser Frau so, die nur im Augenblicksentschluß das Beste, das Eigne giebt und im Nachdenken fremder Gedanken so schrecklich vernünftig sich selbst aufgiebt.
Aber ich soll Félicie sehenden Auges in diesen Abgrund springen lassen – ich sie? – Du lieber Gott! Dies weiche, edle Geschöpf gewissermaßen seiner eignen Marotte zu opfern? Dann soll sie doch lieber an einer That des edeln Eigensinns zu Grunde gehen, die sie nicht beschmutzt, wie die hier. Ich springe – sie springt – daraus würden ja die Leute herauslesen, was nie war. Der Duc würde auf einmal der Heilige und sie die Verbrecherin. Das will ich nicht – der Gedanke ist mir schrecklich! . . . Und dann – eigentlich lächerlich – die ästhetische Unmöglichkeit! Ich bin kein Barbar, ich bin ein Künstler. Ihr Leichnam da unten an der Klippe zerschmettert, unkenntlich, eine zuckende Masse. So viel Anmut, so viel Reiz, so viel weher Zauber in weniger als einer Sekunde zu etwas unsagbar Häßlichem entstellt! Das brächte ich nie übers Herz. Sie soll, sie darf nicht sterben. Der Gedanke an ihren Tod macht mich fast rasend. Es ist etwas in dieser Frau, was sie mir so himmelhoch über andre Frauen stellt, daß ich sie vielleicht nur wahnsinnig lieben oder wahnsinnig hassen kann. Das ist gar nicht modern – und Félicie liebt alles schön und maßvoll . . .
Trotz alledem, Gert, will ich verzichten, verzichten in der zwölften Stunde. Ich verzichte damit auf das Glück, ich verzichte auf mich selbst. Ich werde mich vielleicht einmal schrecklich wiederfinden und das verfluchen, was ich segnen sollte. Aber ist es diese schläfrig-kühle Rivieraluft heute – ich fühle, daß mir nichts andres übrig bleibt. Ich thue nur damit freiwillig, was ich sonst unfreiwillig thun müßte. Hoffentlich halten's die Nerven aus, hoffentlich auch das Herz . . . Aber Félicie tot, meinetwegen tot, das ertrage ich nicht! . . . So bin eben ich, so ist ein Narr. Kennst du in dem entarteten Weichling deinen rücksichtslosen Bruder wieder, der, was er haben wollte, sich noch immer vom Geschick erzwang – und nicht zu seinem Heil? . . . Gert, was kann sie dafür, daß sie so reizend ist, und so gut und so eigensinnig? Ich modele sie nicht um, ich gewiß nicht! . . . Sie geht zu ihrem Herzog zurück, weil ihr Pflicht scheint, was bei andern abgrundtiefe Unmoral wäre. Sie ist ein Produkt der Gesellschaft, der kleinen großen Welt, der sie mit allen Fibern doch angehört. Was sie fühlt, das fühlt sie selbst – und was sie thut, das thun andre. Sie will den ungeheuern Widerspruch in ihrem Wesen gar nicht verstehen, an dem sie krankt, an dem sie zu Grunde geht. Alles, was sie im Affekt thut, dem schönen Impuls des Augenblicks gehorchend, das ist sie selbst, das ist gut – und scheint ihr schlecht. Und alles, was sie durch langes Raisonnement erst gewonnen, das ist Fremdes, und der Eigensinn verleiht ihr da höchstens die Kraft zu einem kurzsichtigen Beharren – und ihr scheint edel, was häßlich ist. Sie ist ein Produkt der Erziehung, der Verhältnisse und geht rettungslos an der Tradition zu Grunde, der sie entfliehen sollte. Ich kenne ihr Schicksal nicht, ich weiß auch nicht, ob nicht gerade sie eines Tages, wenn sie der große Sturm packt, alles beiseite wirft und sich dem rettenden Orkan anvertraut. Wer, wie sie, schon vor dem Luftzug flüchtet in die Treibhausluft, der findet sich nie selbst – und gerade sie sollte mit gieriger Nüster auf den Orkan hoffen. Ihre Ehe ist eine Lüge, eine Unmoral, ein Verbrechen gegen sie selbst – dennoch hält sie aus. Wer eben nur tadellos angezogen, unter starker Bedeckung, unter dem Beifall der Menge fliehen will, der flieht nie. Und wer, statt das eigne, warme Herz allein zu fragen, nur die kühlen andern Herzen fragt, der siecht in der Dämmerung, wo er in der Sonne leben könnte. Sag ihr das, Gert, und sie wird unter dem Druck der Persönlichkeit antworten: ›Sie haben nicht recht, mein Freund, weil Sie mich nicht verstehen, aber Sie meinen es gut, weil Sie mich lieben.‹ Schreib ihr das, und sie wird der rauhen Wahrheit auf glattem Papier antworten: ›Sie kränken mich – aber ich will nicht mit Ihnen rechten!‹ . . . Es hat eben noch niemand sich ganz in seinem eignen Spiegel geschaut.
Bei der ganzen Scene war keine Spur von Effekthascherei, weder bei mir noch bei ihr. Den Effekt lieben wir beide nicht.
Und ich fühle jetzt wieder auch beim Schreiben die dumpfe Mattigkeit wie damals. Ich habe ihr versprochen, was sie wollte.
»Wenn du das thust, Félicie . . .«
»Aber ich thue es.«
So haben wir uns dann geeinigt.
»Sie versprechen mir also, mein Freund, nie Hand an sich selbst zu legen?«
»Ich verspreche es unter einer Bedingung.«
»Welche?«
»Ich habe das Recht, Félicie, mit mir zu thun, was ich will, von dem Moment ab, wo Sie selbst sagen: ›Ich bin wieder glücklich.‹«
Sie zögert einen Augenblick, weil sie einen Hinterhalt fürchtet. Dann reicht sie mir die Hand: »Also Sie versprechen mir das hier bei allem, was Ihnen heilig ist? . . . Haben Sie keine Angst, daß ich im Leben je glücklich werde!«
Dann kam der Herzog. Er ließ uns aber bald wieder allein. Den Rest des Tages war Félicie schwermütig und sah mich immer an mit ihren großen Opalaugen. Am Ende nehme ich's doch leichter als sie.
Der letzte Kuß? – Er brennt mir noch . . . Aber ich weiß nicht mal mehr, Gert. Es war im Musikzimmer, und ich that ihr so leid. Und ich hatte wieder eine Gemütsdepression, die sie für quälende Laune hält. Es überstürzte sich alles. Erst wollte ich gar keinen Kuß mehr – und dann wollte ich doch einen . . . Dieser letzte Kuß sollte ein langer, schöner Kuß sein, wo sie mir alles noch einmal geben wollte, was das angebetetste Weib in einem Kuß an Güte, Glut und Weh zu geben vermag. Es sollte ein sündenloser Kuß sein und wiederum so sündig! Aber es war nur ein kurzer, leidenschaftlicher Kuß, wo das Opalauge so tief glänzte, daß es fast böse aussah. Die Kammerjungfer scheuchte uns voneinander. Wir mußten wieder Gleichgültiges reden. Das ging so fort bis zum Abend. Wir mußten auch lächeln, weil nun einmal Lächeln zur heimlichen Henkersmahlzeit gehört.
Gert, ich weiß, daß ich erst vor dem Zusammenbruch stehe. Aber ich darf noch nicht zusammenbrechen, Gert, darum schreibe ich an Dich, darum schreibe ich so konfus. Ich muß es! Denn wenn ich eine Stunde allein bliebe mit meinen Gedanken, dann passierte das Aeußerste doch trotz allem Versprechen. – Ich muß etwas thun, etwas thun mit der wildesten Anspannung meiner Kraft. Und wenn es die größte Nervenfolter, der hellste Wahnsinn ist! Mensch, wenn Du ahntest, was mich diese Briefe kosten! – Was ich an Nerven hier in vier Monaten verbraucht habe, davon leben andre hundert Jahre herrlich und in Freuden . . . Beneide mich nicht um das große Gefühl! . . . Ob ich mich noch mal wiederfinde im Leben? Vielleicht als alter, abgeblaßter Kerl, wo man kein Recht mehr hat aufs Wiederfinden, und wo man sich nur herzlich bedauern müßte, weil man sich noch einmal wiederfinden konnte . . . Käme ich über das alles noch einmal ganz hinweg, empfände ich noch einmal ein ganzes Glück – dann müßte ich über den Wert aller großen Gefühle lachen . . . Was ich Dir schreibe, das ist ja nur der hundertste Teil von dem, was ich innerlich erlebte, es ist noch dazu zurechtgemachtes Zeug, weil der Rabensche Hochmut nicht einmal im Tode wahr haben möchte, daß er tot.
Ich vergaß Dir übrigens zu schreiben, daß wir abgemacht haben, daß ich den Herrschaften, die noch Besorgungen haben, in zwei Tagen nachkommen will. Ich werde Félicie das letzte Lebewohl doch noch sagen. Dann kehre ich einen Tag zurück in das verödete Schloß – und fahre nach Indien oder irgendwohin.
Ich war in Nizza. Ich war auch auf der Jacht – ich habe auch noch flüchtig die Hand geküßt. Ich sehe noch das lila Taschentuch, das mir winkt . . . Und dann sehe ich nichts mehr. Ich bete nur, daß ich die hundert Schritte bis zum nächsten Restaurant nicht zusammenbreche, denn ich muß trinken, Gert, trinken bis zur Besinnungslosigkeit.