Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

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Einleitung

Man beurteilt immer das Unbekannte nach dem Bekannten. Dies ist sogar eine Regel der Gelehrten; und so wette ich, der gelehrte Leser wird bei Erblickung des Titels sogleich alle dicken Leute alter und neuerer Zeiten durch sein Gedächtnis laufen lassen, um unsern dicken Mann damit zu vergleichen. Ich wette aber auch, es wird dem gelehrten Leser ergehen wie gelehrten Leuten sehr oft. Sie schließen und folgern, aus der ihnen beiwohnenden gelehrten Weisheit, über Menschen und menschliche Angelegenheiten so streng, so kritisch, so weise, so bündig, so unwidersprechlich, daß jedermann von der Richtigkeit ihrer Sätze notwendig überzeugt sein muß; es wäre denn, daß er sie etwa nicht verstände, worüber sie immer zu klagen pflegen. Gleichwohl ereignet es sich nicht selten, daß kein einziger ihrer Schlüsse und Folgerungen trifft und paßt, sobald diese gelehrten Männer heraussteigen aus ihren Studierstuben, Gymnasien, Lyzeen, Universitäten, Akademien der Wissenschaften und der freien Künste und wie sonst die gelehrten Treibhäuser heißen, in welchen vermittels vielen gelehrten Düngers und nicht weniger gelehrten Dampfes alles menschliche Wissen und Verstehen viel früher zur Reife gebracht wird als bei den unwissenden, elenden Menschenkindern, die ihren unsterblichen Geist weder durch Belesenheit noch durch Spekulation düngen und deren beklagenswürdiges Schicksal bloß ist, zu wirken und zu handeln.

So viel sich die gelehrten Freunde des Verfassers erinnern, gibt es vorzüglich – ungerechnet drei bekannte dicke Könige und dicke Prälaten ohne Zahl – nur noch sieben recht berühmte kurze und dicke Leute: Einen im Altertume und sechs in neuern Zeiten. Wofern nun der gelehrte Leser etwa meinen sollte, unser dicker Mann gleiche einem von den zehnen oder von den sieben oder auch nur irgend einem andern dicken Manne, der ihm sonst einfallen könnte: so ist abermal zehn gegen eins zu wetten, der gelehrte Leser wird sich irren.

Überhaupt, günstiger, gelehrter oder nicht gelehrter Leser! liebst Du das Erhabene, bist Du etwa gewohnt, nur die Leben zu lesen von Königen, Prinzen, Prälaten, Feldherren, Heiligen, Wundertätern, Professoren, die sich durch sterbliche Systeme unsterblich machen, und sonst von andern weltberühmten Leuten – mager oder dick von Gestalt –, so wollen wir Dich hier dienstfreundlich ersuchen, dies Buch zuzuschlagen und nicht weiter fortzufahren. Wir weisen Dich hier gleich dahin, wo Du Deine Befriedigung finden wirst: zu den neuern deutschen Schriftstellern, welche sich auf das Erhabene legen, im eigentlichen Verstände legen, um es mit der Schwere ihres Geistes zusammenzudrücken. Wir gestehen Dir ungefragt, hier ist kein vornehmer oder hochberühmter Mann zu beschreiben. Wagst Du es, unsrer Warnung ungeachtet, weiterzulesen: so tue Verzicht aufs Erhabene und Große. Du wirst nur in die Familie eines gemeinen Handwerksmannes eingeführt; und unser Held selbst war so klein und so dick, daß ihn sogar der berühmte Doktor Knüppeln, welcher Friedrich den Großen so klein beschrieb, nicht noch kleiner hätte machen, noch der berühmte Magister Geisler der Jüngere, welcher unbedeutende Geschichten so dick aufblasen kann, noch dicker hätte aufblasen können.

Ganz besonders wirst Du gebeten, günstiger Leser, unsern dicken Mann mit keinem Könige, der etwa könnte kurz oder dick gewesen sein, in Gedanken zusammenzustellen. Wir reden gar nicht von Königen. Dies überlassen wir dem weltberühmten Professor Aloysius Hoffmann, der, als seine früh verblichene Wiener Zeitschrift noch lebte, gegen alle adeligen und bürgerlichen Aufklärer die Rechte der Könige so mutig verteidigte, da sie sonst, wie er selbst sehr deutlich zu verstehen gab, leicht in Nichts hätten zerfallen können, wären sie nicht emporgehalten worden von ihm und seinen würdigen Mitstreitern, dem Ritter Johann Georg von Zimmermann, dem Paten Professor Anton Hofstätter und andern, die sich den philosophischen Volksverführern, die jetzt gräßlich herumhausen, so tapfer widersetzten.

Also hier weiter kein Wort, weder von Karl dem Dicken, Könige von Deutschland und Frankreich, der seiner Frau zumutete, nach zehnjähriger Ehe ihre fortdaurende Jungfrauschaft durch Berührung eines glühenden Eisens zu beweisen, noch von Ludwig dem Dicken, Könige von halb Frankreich, der, um sicherer in den Himmel zu kommen, auf einem von Asche gestreueten Kreuze starb, noch von Heinrich dem Achten, dem kurzen und dicken Könige von England, der drei Käthen, zwei Annen und eine Hanne heiratete, noch von allen andern kurzen und dicken Königen in der Welt: selbst wenn im Königreiche Yvetot oder im Königreich Sylva noch irgend ein kurzer und dicker König menschlichen oder tierischen Geschlechts vorhanden gewesen sein sollte. Unser dicker Mann ist nicht einem davon ähnlich.

Auch bitten wir Euch, sagt kein Wort weiter von Professoren und Rittern, welche ungebeten die Könige mit ihren Gänsekielen verteidigen wollen. Begegnet Euch aber auf Eurer Reise durch die Welt ein Ritter, der für seinen König mit dem Schwerte ficht, so wie Ritter Möllendorf oder Ritter Kalkreuth oder andre biedre Ritter der Art, dem mögt Ihr die Hand bieten; wir bieten sie ihm auch.

Die merkwürdigen sieben dicken Männer, mit welchen man unsern Helden etwa möchte vergleichen wollen, wären: Thersites im Altertume und in neuern Zeiten Sancho Pansa, Falstaff, der Kanonikus Gil Perez, Oheim des berühmten Gil Blas de Santillana, der dicke Mann auf Otaheiti, der so vornehm war, daß er sich mit gehöriger Gravität täglich von seinen Weibern das Essen in den Mund stopfen ließ, und zwei dicke kurze Personen im Tristram Shandy, nämlich Doktor Slop, der Geburtshelfer, und der kleine Trommelschläger mit säbelförmigen Beinen, der am Tore zu Straßburg auf der Wache war, als ein Fremder hereinritt, kommend vom Vorgebirge der Nasen, mit der größten Nase, von welcher Welt und Nachwelt keinen Begriff haben würden, wenn der berühmte Hafen Slawkenbergius nicht Sorge getragen hätte, sie ganz genau zu beschreiben.

Diesem Trommelschläger gleicht unser Held nun auf gar keine Weise; denn er hat keinesweges säbelförmige, sondern gesunde ganz gerade Beine, mit netten Waden, wohlgeformt gleich den Waden des Apoll von Belvedere. Weder wurstförmige Waden, welche zufolge der Bemerkung des Physiognomisten Johannes Baptista Porta eine Eigenschaft der hagedornschen Schnarcher voller Schulgeschwätze sind, die jedem Naemanns Krätze gönnen, der von ihrem Systeme abweicht, noch schlotterige, gleich den Waden weiland Johann Kaspar Kubachs, des Gebethelden, der mit seinem Gebete nie Wunder getan hat.

Dem Doktor Slop, mögt Ihr ihn Euch auch denken wie Ihr wollt, ist unser Held gleichfalls nicht im mindesten ähnlich. Seht den Doktor nur an, es sei wie ihn Hogarthwie ihn Hogarth schlafen läßt, oder wie ihn Chodowiecki vom Pferde wirft – S. die Titelkupfer des 1sten Teils der deutschen Übersetzung des Tristram Shandy und die Chodowieckischen Kupferstiche dazu (Anm. Nicolais). schlafen läßt, oder wie ihn Chodowiecki vom Pferde wirft; und Ihr müßt gleich merken, Anselm Redlich müsse ein ganz anderes Kerlchen sein. Ihr werdet weiter unten finden, er ist rundlich, niedlich, witzig, gelehrt, galant, dem Frauenzimmer ergeben und nebenher zuweilen ein wenig ein Hasenfuß, unbeschadet seiner Sittsamkeit, Gelehrsamkeit und besonders seiner Klugheit, auf die er wohl, wie auch weiter unter erhellen wird, selbst einigen Wert setzen mag. Ein solches Männchen schläft ganz anders und fällt ganz anders vom Pferde als eine so plumpe Masse wie Doktor Slop.

Daß unser Anselm dem dicken Manne auf Otaheiti so wenig gleicht als dem Manne im Monde, kann der günstige Leser leicht einsehen, weil er eben ist belehrt worden, Anselm sei nicht vornehm; und weiter unten, wenn der günstige Leser geduldig genug ist, bis dahin zu lesen, wird belehrt werden, Anselm, so viel er auch dem Wohlwollen des schönen Geschlechts zu danken hat, müsse viel zu galant sein, um dem Frauenzimmer Mühe mit sich zu machen.

Mit dem Kanonikus Gil Perez, der nur drei und einen halben Fuß hoch war und dessen Kopf zwischen den Achseln steckte, ist auch kein Vergleich anzustellen. Anselm ist von gehöriger Leibesgröße und trägt seinen Kopf erhaben, ist auch nicht unwissend wie der ehrwürdige Gil Perez, sondern gelehrt und klug, beides im Übermaße, wie aus der folgenden Geschichte vermutlich sich noch weiter ergeben wird.

Dem Verfasser dieser wahren Geschichte würde es wohl behagen, wenn Anselm Redlich dem Sancho Pansa gleichen möchte; denn so würde er sehr unterhaltend sein, indem der gute Sancho immer gleich die Blicke der Leser erheitert, sobald er auftritt. Sonst aber muß man hier der Wahrheit zur Steuer anzeigen, daß unser Held ebenso wenig von Sancho Pansa hat als von zwei in der Geschichte des Don Quixote vorkommenden, hier beiläufig anzuführenden dicken Wettläufern, deren einer elf Viertel-Zentner, der andere aber fünf Viertel-Zentner wog und über deren Wettlauf der weise Sancho ein so weises Urteil fällte. Wiegt einer unter den deutschen Schriftstellern so viel: der trete hervor, um sich gegen diese wägen zu lassen, wenn er will. Wir sind wohl zufrieden, daß er auch sogar seine Werke mit auf die Waage lege.

Seit Falstaffs Zeiten ist man fast der Meinung geworden, dicke Leute wären aufs höchste witzig und weiter nichts. Dies ist aber eine höchst irrige Meinung, wenn man auch Zachariä, den Dichter, zum Beweise anführen wollte; denn dicke Leute können auch gelehrt sein. Davon soll Euch ein Beweis sein zwei Männer berühmt durch Genealogie und Geogonie: der Hofrat Krebel, der gelehrte Verfasser eines genealogischen Handbuchs, noch genauer als seine europäischen Reisen, die er sitzend auf seinem Lehnstuhle so oft wiederholte; und der Oberkonsistorialrat Silberschlag, Verfasser eines gelehrten Systems der Geogonie, welches so fest stehet wie die von ihm gebauten Wassergebäude. Insbesondre soll es Euch das Beispiel unsers Anselms selbst beweisen. In Absicht auf Gelehrsamkeit ist er den beiden genannten wohlbeleibten Gelehrten allenfalls einigermaßen ähnlich, sonst gleicht er weder diesen noch andern deutschen Schriftstellern und Übersetzern, von denen einige nicht weniger witzig und gelehrt als dick sind.

Wie könnte nun nach allem dem, was wir schon beiläufig von unserm Helden gesagt haben, ein so feiner und, obgleich runder, doch gerader Mann wie Anselm, in irgend einem Stücke mit dem Thersites verglichen werden, der, wie jeder Leser Homers weiß, schielte, hinkte, bucklicht, spitzköpfig und ein Kahlkopf war? Der günstige Leser soll aber wenigstens bei dieser Gelegenheit erfahren, daß unser Anselm einen runden erhabenen Scheitel und schöne kastanienbraune Haare hat; und hätte er ja irgend einmal zu schielen geschienen, so könnte es nur gewesen sein, als er ein Frauenzimmer verliebt ansah. Daß unser Held aber von der schönsten Hälfte des menschlichen Geschlechts die Augen nicht abzuwenden pflegte, kann nebst vielen andern Dingen der geneigte Leser erfahren, wenn er nur weiter lesen will.

 

Dies wären nun die antiken und modernen dicken Leute alle, deren Existenz den belesenen Freunden des Verfassers jetzt beigefallen ist. Denn Foote's Major Sturgeon, dessen Tapferkeit nach dem Gewicht zu berechnen war, ist nicht allgemein genug bekannt; und Selim der Glückliche, dessen Geschichte der Verfasser des Siegfried von Lindenberg aus dem Guzuratischen verdeutschte, war nur, als er geboren ward, ein dickes Bübchen, aber nachher ward er ein schlanker Bursche, wie der Leser selbst erkennen kann, wenn er die Vorstellung seiner Figur in ganzer Leibeslänge ansehen will, welche der gedachten Geschichte einigemal beigefügt ist.

Unser Held hingegen blieb dick bis in sein männliches Alter, und so wird er auch gleich auf dem Titel dieser wahren Geschichte nach dieser Eigenschaft benannt. Er hätte auch können der kluge Mann heißen; denn es fehlt ihm nicht an Klugheit. Man will aber überhaupt bemerkt haben, daß die körperlichen Eigenschaften der Magerkeit und Dicke permanenter zu sein pflegen als die geistige Eigenschaft der Klugheit. Ob jemand beständig so klug geblieben sei, als er sich gleich in seinen Jünglingsjahren zeigte, kann man erst am Ende seines Lebens wissen; besonders, ob unser Held ebenso unverändert klug als dick gewesen, kann nur am Ende dieser Geschichte recht deutlich werden; und wir trauen uns jetzt noch nicht, etwas Gewisses darüber im voraus zu sagen. Aber daß er als Kind, als Jüngling und als Mann beständig dick geblieben, zeigt sein dreifaches, von einem berühmten Künstler nach dem Leben gezeichnetes Bildnis, das wir dieser Einleitung, nebst den Bildnissen der sieben vorher benannten dicken Männer, als ein beweisendes Dokument, wie ungleich er jedem war, haben beifügen lassen.

Das Ende des menschlichen Lebens an sich ist der Tod; aber das Ende jeder Geschichte von der Art der gegenwärtigen ist bekanntlich eine Heirat. Ob nun, zufolge des Titels, sich diese Geschichte etwa gar dreimal endige, ja ob überhaupt die auf dem Titel angegebene Anzahl der Heiraten richtig sei, kann der Verfasser dieser Einleitung noch nicht ganz gewiß sagen, und der geneigte Leser oder Leserin kann es nicht gewiß wissen, bis sie diese wahre Geschichte ganz werden zu Ende gelesen haben, worum wir ihn und sie hiermit pflichtschuldigst bitten. Aber selbst alsdann versprechen wir nicht, er oder sie möchte ganz gewiß erfahren, ob die auf dem Titel versprochne Anzahl der Körbe richtig sei. Es ist der Ungewißheit so viel unter dem Monde wie des Leidens. Obgleich der Verfasser alle Bücher, die von der deutschen Sprache handeln, sorgfältig nachgeschlagen und viele Gelehrte – dicke und magere – befragt hat: so war doch nicht völlig gewiß zu erfahren, ob es ein Korb zu benennen sei, wenn eine Mannsperson die Hand einer Frau ausschlägt. Wofern nicht die deutsche Deputation der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin etwas hierüber entscheiden sollte, möchten wir schwerlich hierin zur Gewißheit kommen. Denn auch die berühmte deutsche Gesellschaft in Mannheim, deren Entscheidungen Deutschland von Osten bis Westen sich so gehorsam unterwirft, hat in die vielen Bänden ihrer Schriften, die, wenn auch nicht an andern Eigenschaften, dennoch an Dicke und Klugheit, unserm Helden wohl am nächsten möchten zu vergleichen sein, hierüber noch nichts festgesetzt.

Sonst wagen wir noch, jede unserer günstigen Leserinnen zu bitten, sie wolle auf unsern Helden nicht etwa schon im voraus einen Unwillen werfen in der Meinung, er möchte die Hand eines Frauenzimmers verschmähet haben. Noch wissen wir dies nicht gewiß. Sollte er aber ja auch dieser Tat schuldig befunden werden: so bitten wir unsre schönen Leserinnen, ihn nicht ungehört zu verdammen; denn wir vermuten fast, er werde etwas zu seiner Verteidigung anzuführen haben.


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