Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

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Vierundzwanzigster Abschnitt

Anselms gelehrte Pläne. Charakter eines großmütigen Schottländers, dessen Launen und verschiedene Reisen

Anselm hatte nun ein ganzes Vierteljahr Zeit, um zu bedenken, was für ihn ferner zu tun sei. Er war aber jetzt von seinen chimärischen Plänen durch die tägliche Erfahrung zurückgekommen, und seine Gedanken gingen nicht mehr auf weit aussehende Dinge. Sein einziger und sehr billiger Wunsch war nur, sich aus der Niedrigkeit und schimpflichen Abhängigkeit, in welche er geraten war, herauszuziehen. Dies hielt er, wenngleich für schwer, dennoch bei anhaltendem Fleiße und dem Gebrauche seiner Talente gar nicht für unmöglich. Das Natürlichste würde freilich gewesen sein, seinem treuen Freunde Philipp zu schreiben oder selbst zu ihm nach Elberfeld zu reisen. Er wußte wohl, dieser werde ihn nicht hilflos lassen. Teils aber versagte ihm seine Delikatesse die Dreistigkeit, einem Freunde beschwerlich zu fallen, teils hinderte ihn auch ganz insgeheim seine Eitelkeit, eine Frau in der Nähe zu sehen, die einen andern ihm vorgezogen hatte, ob er gleich seinem Freunde Philipp den Besitz seines Glücks gönnte. Er glaubte, feiner zu denken, wenn er bloß sich selbst seine verbesserte Lage zu danken hätte. Aber wie? Die Hoffnung auf den Minister verschwand bald; denn er erhielt auf seine Neujahrsgratulation keine Antwort. Er sann also auf andere Mittel, und das bis Ostern fort, ohne etwas auszusinnen. Er wußte nun keinen andern Rat, als nach Frankfurt am Main zu gehen, in welcher volkreichen Stadt er ein Amt oder sonst etwas für sich zu finden glaubte.

Glücklicher Weise war er durch die traurige Erfahrung doch insofern vorsichtiger geworden, daß er, der sich in seinem Wohlstande niemals etwas versagte und sonst schon große Summen weggeworfen hatte, während seines Aufenthaltes im Stifte jeden Kreuzer sorgfältig zu Rate hielt, so daß er bei seinem Abschiede beinahe sein ganzes Gehalt zurückgelegt hatte. Hierdurch war er im Stande, die Reise zu machen und einige Wochen in Frankfurt auf die frugalste Art zu leben. Aber eine Aussicht für ihn wollte sich nirgend finden. Seine geschäftige Einbildungskraft zeigte ihm jedoch eine. Die Messe fiel bald nach seiner Ankunft ein. Plötzlich faßte er den Gedanken, es werde leicht sein, unter so vielen fremden Buchhändlern sein Fortkommen zu finden. Er machte sich also schnell an die Arbeit, um gegen die Messe einige Schriften zu Stande zu bringen, welche Ware für den Platz sein möchten. Er sammelte vorzüglich seine sämtlichen Gedichte, um welche, wie er glaubte, bei dem jetzigen feinern Geschmacke am Schönen, die Verleger sich reißen würden. Er schrieb eine prosaische Abhandlung über das menschliche Elend, wozu der Stoff aus seinen Vorlesungen über den berühmten Karl von Karlsberg und die Beispiele aus seinen eigenen fehlgeschlagenen Hoffnungen hergenommen waren. Ferner eine gründliche gelehrte Verteidigung der Kantischen Kritik der Vernunft, worin er, mit Rücksicht auf seinen ehemaligen Streit mit dem Herrn von Reitheim, allen Anhängern der geheimen Philosophie und sogar dem berühmten Lavater derbe Seitenhiebe versetzte. Und auf allen Fall verdolmetschte er einen neuen französischen Roman.

Zu seiner großen Betrübnis verlangte aber kein einziger von allen zwanzig Frankfurter Buchhändlern seine Manuskripte, die er ihnen schon vor der Messe anbot; und zu seinem großen Erstaunen erschienen auf dieser berühmten Reichs- und Heermesse kaum zwölf fremde Buchhändler, bei denen vollends nichts anzubringen war. Von den Gedichten sagten alle einstimmig, ohne nur das Manuskript anzusehen, es möchte niemand mehr Gedichte lesen. Als er mit der Abhandlung vom menschlichen Elende zu dem berühmten Nachdrucker Schmieder aus Karlsruh kam, sah sie dieser aufmerksam durch und legte während dem Durchblättern, als ein Kenner des Werts der Bücher, dem Verfasser und dem Buche sehr viel Lob bei. Als aber der Verfasser wegen des Drucks seines Manuskriptes unterhandeln wollte, gab es der wohlweise Schmieder lächelnd zurück mit dem Beifügen, ein so gut geschriebenes Werk werde in Frankfurt gewiß einen Verleger finden, und alsdann werde er nicht ermangeln, es als einen Anhang des Karls von Karlsberg nachzudrucken. Er machte zugleich mit seiner, wie er selbst sagte, sehr schönen und saubern Ausgabe dieses Buchs, auf eine verbindliche Weise, dem Verfasser der Abhandlung ein Geschenk, um ihn aufzumuntern, solche Bücher zu schreiben, die des Nachdruckens wert wären. Zu der philosophischen Abhandlung wollten sich auch keine Abnehmer finden. Einer der Buchhändler sagte: In seiner Gegend finde die Vernunft noch nicht Liebhaber, geschweige ihre Kritik. Ein anderer behielt das Manuskript zum Durchsehn und schrie, als ers wiedergab, in großem Zorne: Der Verfasser müsse ein niederträchtiger Bösewicht und ein wahrer Atheist sein, da er sich nicht entblödete, über den engelreinen Mann Gottes Lavater zu spotten. Von dem französischen Romane war bereits eine andere Übersetzung da und auch schon Makulatur geworden.

Unser dicker Mann war nicht bloß gedemütigt, daß niemand seine Werke verlegen wollte, sondern wirklich ganz trostlos, weil sein Geld zu Ende ging. Er hatte teils für seine Hefte eine gute Summe zu seinem jetzigen notdürftigen Unterhalte erwartet, teils hatte seine an einem jungen Schriftsteller verzeihliche Eitelkeit ihm die Hoffnung vorgespiegelt, es werde durch den Druck derselben sein Name so bekannt werden, daß mehrere Gönner sich finden würden, einem so berühmten Manne mit Ehren fortzuhelfen. Nun sah er sich in allem getäuscht und wußte nicht, was er anfangen sollte.

Als einen Versuch der Verzweiflung bot er noch seine Manuskripte einem Buchhändler aus Trier an, der bloß mit großen lateinischen Kasuisten und kleinen deutschen katholischen Gebetbüchern handelte. Zum Glücke war in eines der Manuskripte zufälliger Weise, als ein Zeichen, ein buntes Heiligenbild gelegt, welches dem Verfasser einst die verliebte Kammerjungfer, zur Zeit als sie um ihn freiete, geschenkt hatte, weil es bunt war und sie ihm gern etwas Angenehmes geben wollte. Daher hielt ihn der Buchhändler für einen Glaubensgenossen und sah ihn mit Ehrfurcht an, weil er französisch verstand. Er riet ihm, doch lieber einen schönen französischen Prediger aus der Gesellschaft Jesu zu übersetzen, weil diese besser abgingen als sündliche Romane. Anselm, ohne sich auf die Religion einzulassen, bezeigte sich geneigt dazu, wenn er nur einen solchen Prediger hätte. Diese Bereitwilligkeit gefiel dem frommen katholischen Manne so sehr, daß er ihm ein Duodezbändchen asketischer Betrachtungen über das Leben und die Taten des seligen Knechts Gottes, des Bettlers und Läusefressers Franz Labré, aus dem Lateinischen zu übersetzen gab, wovon kürzlich in Rom vier Auflagen in vier Wochen waren gemacht worden und wovon er selbst gewiß hoffte, in Trier drei oder vier deutsche Auflagen zu verkaufen, weshalb er auch dem Übersetzer die größte Eile empfahl. Diese sinnlose Arbeit ging einem so gelehrten Manne wie Anselm anfangs sauer an; aber er hatte ja nicht zu wählen. Er, dem sonst die Stunde des Vergnügens vor der nötigsten Arbeit ging, arbeitete Tag und Nacht und ward auch noch vor Ende der Messe fertig zu großer Freude und Verwunderung des Herrn aus Trier, welcher richtig bezahlte.

Aber die Dankbarkeit des über die Geschwindigkeit seines Übersetzers erfreuten Buchhändlers blieb nicht bei der Zahlung stehen. Es schien, Anselms Bereitwilligkeit, eine schlechte Übersetzung zu machen, sollte ihn weiter führen als alle seine Gelehrsamkeit; oder vielleicht wollte gar der selige Franz Labré an seinem Übersetzer ein Wunder tun. Ein durchreisender schottischer Lord suchte einen Menschen, der Französisch verstände und mit der Feder Bescheid wüßte. Der fromme Buchhändler hatte vor einigen Monaten zum Heile seiner Seele eine Wallfahrt nach Köln getan, um bei den wundertätigen Leibern der heil. drei Könige im dortigen Dome seine Andacht zu verrichten. Damals lernte er diesen Schottländer durch einige vom Hausgesinde des päpstlichen Nuntius Monsignor Pacca kennen, bei welchem der schottische Herr zuweilen aus- und einging. Daher konnte der Buchhändler unsern dicken Mann zu dieser vorteilhaften Stelle empfehlen. Dieser glückliche Vorfall setzte ihn mit einemmale aus seiner Verlegenheit. Er rief aus: »O seliger Franz Labre! Alles, was ich Kluges hätte schreiben können, würde mir nicht so weit geholfen haben als deine Lumpen und deine Läuse! Ich sehe, wenn man durch die Welt kommen will, muß man sich nicht allein die Leibjäger und Kammerjungfern, sondern auch die Bettler zu Freunden machen!«

Herr Mac-Allester – oder Mylord Mac-Allester, da jeder Engländer, der in einer Kutsche fährt, am Rheine und an der Mosel Mylord heißt – war, wie unser Anselm, ein kleiner runder Mann mit umherfahrenden feurigen Augen, dabei launig und kurz angebunden, wie solche reichen und freien Leute wohl zu sein pflegen. Er ließ unsern Anselm eine Seite französisch schreiben, um die Deutlichkeit und Flüchtigkeit seiner Handschrift zu ersehen, weil er zu diktieren pflegte; und war mit beiden zufrieden. Er ließ ihn auch etwas übersetzen; denn Mylord verstand ein wenig Deutsch und war wohl zufrieden, daß Anselm einige Worte Engländisch stammelte. Anselm war ganz entzückt von diesem großmütigen Nordbriten, der ihm gleich ein Gehalt von monatlich acht Guineen anbot, welches seine Erwartungen übertraf. Sie waren des Handels beinahe eins, als Mylord, der wohl seine Launen haben mochte, unserm dicken Manne plötzlich die Frage vorlegte: ob er auch frisieren und rasieren könne?

Anselm, höchlich verwundert, sagte mit Unwillen: Dazu könne er sich nicht geben. Er habe nicht als Domestik, sondern als Sekretär mit ihm zu reisen versprochen.

Mylord fuhr auf: »Sekretär! Sekretär! Daß Ihr Deutsche doch immer auf die Titel seht! Nun, mein anderer Domestik kann allenfalls auch frisieren und rasieren, und Ihr sollt dann also Sekretär oder Sekretarius heißen, wenn Euch das besser klingt. Aber Ihr müßt auf dem Bocke fahren; denn anderer Platz ist nicht da, und in meinem Wagen lasse ich niemand neben mir sitzen.«

Anselm erschrak nicht wenig über diesen Vorschlag. Indes, was war zu tun? Sollte er die vorteilhafte Stelle um einer solchen Kleinigkeit willen ausschlagen? Wars denn besser, wenn er auf dem Postwagen hätte sitzen müssen oder auf einem Bauerwagen, wie er schon neulich getan hatte?

Er überlegte, es würde in seiner jetzigen Lage Eigensinn sein, auf einer Nebensache zu bestehen, die doch den Umständen nach nicht anders sein konnte. Ihn reizte nicht allein das ansehnliche Gehalt, sondern auch das Ansehen eines so vornehmen Herrn; denn der Buchhändler hatte aus dem Munde des andern Bedienten viel Werks von des Lords großen Gütern im Hochlande gemacht und erzählt, daß er einer der angesehensten schottischen Pairs sei. Nun, dachte Anselm, könnte ihn dieser Herr vielleicht in Schottland zum großen Manne machen, weshalb er beschloß, sich nach diesem großmütigen, obgleich auch launischen schottischen Pair zu richten.

Unser dicker Mann bestieg also den Bock, weils nicht zu ändern stand, und sie reiseten ab. Mylord hatte seine sonderbaren Launen. Er reisete nicht auf der geraden Landstraße, sondern zuweilen unvermutet einen Nebenweg, und unterhielt sich zuweilen stundenlang mit Leuten, die wie Bauern oder sonst wie geringe Leute aussahen. Anselm erschrak nicht wenig, als der Weg ins Jülische bog und fing an zu befürchten, es möchte gar nach Aachen oder Elberfeld gehen. Er wäre vor Scham gestorben, wenn er sich in seiner jetzigen Lage da hätte müssen blicken lassen. Aber es ging ungefähr eine Meile bei beiden Orten vorbei durch Gegenden, welche unserm dicken Manne nur allzuwohl bekannt waren: Gegenden, die er oft in eigenem Wagen und auf eigenem Pferde durchstrichen hatte und die er nun auf dem Bock sitzend durchzog. Er erinnerte sich lebhaft der Reise von Vaals nach Elberfeld und welche sanguinischen Hoffnungen seine Einbildungskraft damals noch entworfen hatte, nachdem schon sein ganzes väterliches Erbgut von ihm verschwendet war. Damals dünkte ihn, es läge die Welt vor ihm offen, um sein Glück darin zu machen. Sie lag noch offen vor ihm; aber wie? Seine Empfindung war sehr bitter, da er nichts als seinen eigenen Leichtsinn anklagen konnte. Nebst Scham und Reue gingen eine Menge guter Entschlüsse durch seinen Kopf, wie sie ihm ehemals schon oft durch den Kopf gegangen waren. Hätte er sie nur jemals mit Ernste ausgeführt, so hätte er sein eigener Herr mit Ehren bleiben können und hätte nicht jetzt in einer ziemlich zweideutigen Lage nach Schottland reisen dürfen, auf Hoffnungen, die doch wenigstens nicht völlig gewiß waren.

Jetzt schien aber nicht einmal die Reise nach Schottland zu gehen. Mylord wendete seinen Weg durch Lüttich und Brabant nach der holländischen Grenze und hielt sich einige Wochen in Berg-op-Zoom auf. Hier sah unser dicker Mann, zu seinem nicht geringen Erstaunen, ganz deutlich, was er schon seit einiger Zeit zu vermuten angefangen hatte, nämlich, daß sein Patron – Mylord oder nicht – bei den damaligen Unruhen in den Vereinigten Niederlanden eigentlich das edle Handwerk eines Spions trieb. Anselm hatte fast täglich ganze Bogen voll Ziffern zu schreiben gehabt, aber aus dem, was hin und wieder en clair stand, so viel geurteilt, daß sein Herr der statthalterischen Partei diene. Jetzt aber fing er an zu merken, daß Mylord zugleich der patriotischen ähnliche Dienste leistete, und eben daher, weil er von beiden Teilen so gut bezahlt ward, auch seine Bedienten reichlich bezahlen konnte. Unserm dicken Manne war nicht wohl zu Mute; aber was sollte er machen? Es ging überdem alles so schnell, daß er nicht Zeit hatte, sich zu besinnen.

Der Weg ward nun nach der französischen Grenze genommen, um das Lager bei Givet zu besuchen, aus welchem die Patrioten Hilfe von Frankreich erwarteten. Sie fanden es ganz ordentlich abgesteckt, aber keinen einzigen französischen Soldaten darin. Sie eilten so schleunig als möglich mit dieser wichtigen Nachricht nach dem Haag. Daselbst hatte Mylord gleich in der Nacht, da er ankam, eine lange Konferenz mit ein paar ihm wohlbekannten Untersekretären. Er empfing den folgenden Tag sogleich neue Instruktion, morgen nach Amsterdam zu gehen. Mylord ging aber noch desselben Abends ganz in der Stille einen kleinen Umweg seitwärts zu seinen patriotischen Freunden nach Utrecht und Geldern. Denselben verkaufte er abermals die wichtige Nachricht, daß er selbst als Augenzeuge in Givet und in der ganzen dortigen Gegend nicht einen einzigen französischen Soldaten gesehen habe. Er erweckte dadurch dort viel Betrübnis; denn die eifrigen Patrioten hatten schon eine Armee von 35 000 Franzosen das ganze holländische Flandern einnehmen und bis ans Land von Altena vorrücken lassen. So viel Kummer nun auch die Nachricht, daß die Franzosen nicht marschierten, erwecken mußte, so ward sie doch gut bezahlt; denn die Patrioten sahen nun, sie würden sich selbst überlassen sein und verdoppelten ihren Eifer, sich zu rüsten. Mylord, der jetzt inkognito unter dem Namen eines französischen Negotianten reisete, empfing von seinen Utrechtschen Freunden sehr gute Adressen an die vornehmsten Anhänger der patriotischen Partei in Amsterdam. Von denselben hoffte er Nachrichten herauszulocken, welche der Oranischen Partei sehr wichtig sein mußten; doch nahm er sich vor, wie es auch billig war, die patriotische Partei für die guten Dukaten, die sie ihm bezahlte, nicht zu vergessen; denn die geheimen Anhänger der Oranischen Partei in Amsterdam konnten ihm im Vertrauen auch so manches sagen, was die Patrioten gern hätten wissen mögen.

Die Vereinigten Niederlande befanden sich damals in der größten Gärung. Beide Parteien waren aufs äußerste gegen einander erhitzt. Alles rüstete sich, und der bürgerliche Krieg fing an vielen Orten schon an, sich auszubreiten. Unsere Reisenden mußten also große Vorsicht anwenden, zuweilen Umwege nehmen und sich nach der Laune der an jedem Orte herrschenden Partei richten. Wenn aber, wie es oft geschah, an einem Orte beide Parteien auf den Beinen waren, so blieb es sehr schwer, ohne Kopfstöße durchzukommen. Bald steckten sie die Oranienfarbene Kokarde auf, bald mußten sie dieselbe wieder abnehmen. Dicht vor dem Haag schrie das Volk Oranje boven und sang Wilhelmus van Nassauwen, und da sangen unsere Reisenden mit. Um Utrecht war das Geschrei: Vader Hooft boven, und alles sang den Utrechtschen Marsch, welches sich ziemlich bis Amsterdam erstreckte. Dahin kamen denn unsere Reisenden wohlbehalten an, doch unter fast stündlich verändertem Schreien und Singen und unter mancher Furcht vor Messern und Knütteln.

In Amsterdam gab es viel zu tun. Der französische Negotiant ging den ganzen Tag in seinen Geschäften aus. Anselm aber hatte zu Hause alle Hände voll Arbeit, denn es waren täglich bis in den späten Abend Berichte und Briefe in Ziffern zu schreiben. Die Herren waren kaum acht Tage da, als Anselm, da Mylord eines Mittags guter Dinge schien und mit ihm schwatzte, auch sein bißchen Klugheit zeigen wollte; denn er war auf den Gedanken gekommen, es werde ihm bei seinem Herrn Gewicht geben, wenn er merken ließe, er wisse wohl, was dies oder jenes zu bedeuten habe. Mylord lächelte und sagte weiter nichts. Es war nach Tische noch ein starker Posttag. Erst nach ein Uhr nach Mitternacht ward Anselm beurlaubt, und Mylord blieb noch auf; denn er siegelte allemal die Briefe selber, machte die Adressen und gab sie auch selbst ab, wovon Anselm niemals etwas erfuhr. Anselm legte sich sehr ermüdet zu Bette und schlief daher länger als gewöhnlich. Sein Herr ließ ihn aber wecken, und er mußte unverzüglich in einer Mietskutsche nach einer entfernten Gegend der Stadt fahren, um ein Billett an jemand abzugeben, dessen Wohnung genau bezeichnet darauf stand. Dieser Mann war aber in der Gegend nicht auszufinden, und Anselm kam nach drei Stunden mit dem Billette zurück. Er war nicht wenig erstaunt zu vernehmen, Mylord habe im Hause alles bezahlt und sei fortgereiset. Da fiel ihm schwer auf, in seiner Klugheit gezeigt zu haben, daß er mehr wisse, als Mylord wollte wissen lassen. Es scheint aber, die in Amsterdam herrschende patriotische Partei hatte von dem Gewerbe des französischen Negotianten Nachricht erhalten oder doch starken Verdacht geschöpft, und Mylord hatte dieses vermutet; denn kaum konnte sich Anselm besinnen, als Papagoy, der Onder-Schout mit seinen Dienern ankam, sich nach dem fremden Negotianten etwas näher zu erkundigen. Da dieser nicht mehr zugegen war, nahm er unsern dicken Mann in Verhaft und bemächtigte sich seiner Papiere. Diese bestanden aber in nichts, als in seinen Gedichten, philosophischen Abhandlungen und Übersetzungen und schienen also selber von seiner Unschuld an politischen Angelegenheiten zu zeugen. Das Billett enthielt nichts als ein weißes Blatt. Dies schien zu verraten, sein Herr habe ihm selbst nicht getraut, da er ihn sich auf diese Art vom Halse geschafft hatte. Da er nun so klug war, mit einer unkategorischen Notlüge zu sagen, er habe bloß die Privatgeschäfte seines Herren zu verrichten gehabt, und weiter nichts auf ihn zu bringen stand, so ward er nach ein paar Tagen entlassen.

So fand sich denn unser dicker Mann ganz vereinzelt in einer großen Stadt, wo er niemand kannte und nicht einmal die Landessprache recht verstand. Nach erhaltener Freiheit ging er ganz mechanisch die Gassen auf und nieder, ohne zu wissen, was er anfangen sollte. Er hatte freilich noch ein paar Guineen und Dukaten in der Tasche; aber wie lange konnten diese ausreichen, ihn zu unterhalten? Ganz trostlos wanderte er über Kolveniers Burgwall und die hohe Straße und blieb vor dem Rathause aus Neugierde stehen, wo ein großes Gedränge war und eine Menge Volks durcheinanderschrie. Es kam ein ehrwürdiger alter Mann, schwarz gekleidet, im hangenden Mantel, untersetzter Statur, mit einem Gesichte, worauf die Furchen des Alters und des Nachdenkens gegraben waren. Alles schrie: Hoeden af! (Hüte ab!) und schwenkte die Hüte. Unser dicker Mann war nur neugierig zu sehen, was vorging, richtete sich auf die Zehen und dachte nicht an den Hut. Mit einemmale bekam er einen Kopfstoß, daß er den Hut kaum wieder ergreifen konnte, und ein Matrose setzte ihm noch einmal die Faust ins Gesicht und schrie ihn an: »Ihr verdammter Oranien-Klant! wollt ihr wohl vor Vader Hooft den Deckel abnehmen?« Er entschuldigte sich, so gut er im gebrochnen Holländischen konnte, und hätte sich gern fortgemacht, aber das Gedränge war zu stark, als daß er seine Stelle verlassen konnte. Er währte nicht lange, so drängte sich wieder eine Menge Menschen vom Rathause her, und es entstand ein ziemliches Gemurmel unter den Umstehenden. Der Haufen wich nicht voneinander; aber die Justizdiener machten Platz. Ein andrer Mann von untersetzter Statur, gleichfalls in schwarzer Ratsherrntracht, mit rundem glattem Gesichte, gebogener Nase und feurigem Blicke, ging vom Rathause herab. Anselm stand in der Nähe, so daß er ihn gut sehen konnte, und fragte einen beistehenden: Wer der Herr wäre? Dieser antwortete: »Kennt ihr nicht den Bürgermeister Dedel?« Unser dicker Mann war nun unterrichtet und zog ehrerbietig seinen Hut vor dem Herrn ab. Sogleich schlugen drei oder vier Kerle ganz unbarmherzig auf ihn los und schrien: »Gy Oranje-Blixem, den Hoed op!« (Ihr Blitz-Oranischer den Hut auf!) Sie stießen allenthalben auf ihn los, und er entkam mit blutigem Gesichte kaum ihren Klauen.

Anselm konnte wegen seiner empfangenen Wunden einige Tage nicht ausgehen. Nachdem er geheilt war, hatte die Gärung unter dem Volke noch mehr zugenommen. Er wollte ihr entfliehen, nur um nach Deutschland an einen ruhigem Ort zu kommen, ob er gleich nicht wußte, wohin er gehen und was er dort eigentlich anfangen sollte. Es war mit Gelde nicht sehr versehen, und da ihn die Not wirtschaftlich machte, hielt ers fürs Beste, seinen Koffer und übrigen Habseligkeiten an das Grenzpostamt zu Emmerich zu senden und zu Fuße dahin nachzuwandern, um sie dort abzufordern. Er ging fort. Aber außerhalb Amsterdam war auf dem platten Lande und in den kleinen Städten die Volksgährung noch viel ärger. Der bürgerliche Krieg fing an, mit größter Wut zu rasen. Die Patrioten waren wegen des annahenden Eindringens der Preußen in Alarm, welchen die Hoffnung auf die Franzosen, die immer schwächer ward, nicht dämpfen konnte. Beide Parteien waren dabei aufeinander äußerst erbittert. Wer kann die Faustschläge und Rippenstöße zählen, die unser armer dicker Mann, so vorsichtig er sich auch gern nehmen wollte, auszustehen hatte? Es war ihm unmöglich, der einen Partei nicht zu mißfallen, und immer recht zu wissen, von welcher Partei der war, mit welchem er redete. Er wußte fast nicht mehr, von welcher Seite er sich wenden sollte.

Die Annäherung der Preußen setzte in den Provinzen Geldern und Utrecht alles in die größte Bewegung. Die Patrioten bewaffneten sich, um sie zu vertreiben. Es war eine bunte Masse von ungleichartigen Menschen und Waffen, die sich täglich vermehrte und die herzhaft schwor, alle Preußen zu vertilgen. Unser dicker Mann konnte nicht weiter; er ward in dem Städtchen Wyk de Duurstede gezwungen, sich als patriotischer Soldat anwerben zu lassen. Täglich ward exerziert; und der Mut wuchs täglich. Man malte Bildnisse von preußischen Husaren auf ein Brett, wonach die Rekruten schießen lernten. Das Feuern währte etwa vierzehn Tage, in welchen Anselm alle Beschwerlichkeiten des Kriegsstandes erduldete. Wenn er den Tag über exerziert hatte, mußte er in der Nacht Schildwache stehen. Da hatte er in den heitern Sommernächten Muße genug, seinem Elende nachzudenken. Bald kam ihm eine Portion spekulativer Philosophie ein, bald irgendein chimärischer Plan, sich in einen bessern Zustand zu versetzen. Von beiden schlecht getröstet, wollte er beinahe verzweifeln. Aber was halfen ihm alle Verwünschungen seines Leichtsinns! Da er hier so von aller Welt verlassen stand, fiel ihm seines Vaters Prophezeiung ein: es werde, wenn er glaube, gegen andere keine Pflichten zu haben, eine Zeit kommen, wo sich niemand um ihn bekümmere; und jetzt sah er dies in Erfüllung gehen.

Doch ward er bald erlöset. Die Preußen kamen näher. An einem Morgen vor Sonnenaufgange standen sie vor den Toren. Anselm hatte kaum Zeit, Gewehr und Patronentasche wegzuwerfen, so waren sie schon eingedrungen. Aber da unser dicker Mann, so wie die meisten patriotischen Soldaten, nicht in Uniform ging; so war er gleich in seinen Zivilstand restituiert. Man bemerkte ihn nicht, und als ein Deutscher war er noch weniger verdächtig. Er ging, um dem Getümmel zu entkommen, zum Tore hinaus; aber bald geriet er in neue Gefahr. Ein kleiner Trupp Patrioten, der in einem benachbarten Gehölze versteckt gelegen hatte, fiel nach Nachtrab der Preußen an. Unser guter dicker Mann wäre beinahe mitten ins Scharmützel gekommen und konnte sich kaum hinter einer geschnittenen Hecke verbergen. Als gegen Mittag alles ruhig ward, kroch er hervor und ging weiter. Er fand am Wege einen in der Schulter verwundeten preußischen Soldaten liegen, der sich ziemlich verblutet hatte und in der Hitze schmachtete. Unser gutmütiger dicker Mann brauchte sein bißchen chirurgische Wissenschaft; er wusch die Wunden mit Branntwein, den der Soldat bei sich hatte, verband sie, so gut er konnte, und fand endlich Mittel, ihn nach dem nächsten Dorfe tragen zu helfen, wo noch ein paar Soldaten lagen, denen er gleiche Hilfe leistete. Endlich kam ein Regimentschirurgus hinzu, der seinen menschenfreundlichen Eifer lobte; und da eben einige Wagen nach Kranenberg zurückgeschickt wurden, um Bedürfnisse für die Armee nachzuholen, so veranstaltete der Chirurgus, daß unser dicker Mann mit diesem Transporte bis dahin fahren konnte.


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