Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

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Fünfter Abschnitt

Ein neuangelegtes Philanthropin. Notwendige Ehrenrettung Herrn Rehbergs in Hannover, des Philosophen

Kurz vor der Zeit, als in Vaals das oben beschriebene Examen unsers Anselmino und die dadurch veranlaßte Unterredung vorfiel, war in ganz Deutschland die erste Periode einer weltbekannten pädagogischen Reform angegangen. Basedow hatte den Plan gemacht – oder, um bestimmter zu reden, eigentlich nicht einen Plan gemacht, sondern nur sich eingebildet – vermittels einer kleinen Erziehungsanstalt allenthalben die ganze Erziehungsart und, vermittels derselben, das gesamte Menschengeschlecht auf bessern Fuß zu setzen. Er verlangte dreißigtausend Taler, um diese allgemeine Umformung zu Stande zu bringen. Er ließ gedruckte Aufforderungen an dreihundert große und kleine Potentaten ergehen; und als von diesen doch die dreißigtausend Taler nicht einkamen, so tat er Notschüsse über Notschüsse, damit das Wohl des menschlichen Geschlechts gerettet werde. Seine Einbildungen und seine Notschüsse sind vergessen, sowie seine andern Schwachheiten und Seltsamkeiten; aber die späteste Nachwelt wird dankbar erkennen, daß er sein Elementarwerk zu Stande brachte und den Nutzen desselben nicht in Träumen, sondern praktisch zeigte. Dies ist ein Unternehmen, welches den heilsamsten Einfluß auf die Verbesserung der Erziehung hatte und welches die armen Kinder von dem unseligen Wörterkrame und von der zwecklosen harten Schuldisziplin zu erlösen anfing. Beides erweckte in den Köpfen der von seelenloser Schulpedanterei niedergedrückten Lehrer (auch derer, welche Basedows Methode tadelten) eine Menge wohltätiger Ideen zum Besten der Jugend; und beidem können Mißbräuche in der Anwendung so wenig den verdienten Ruhm entziehen, als irgendeiner andern kühn unternommenen, aber im Anfange unvollkommen ausgeführten Reformation.

Es gab aber damals Pädagogen, und gibt vielleicht noch jetzt dergleichen, welche weder Basedows Einsicht noch Mut besaßen. Ihnen wurden bloß durch ihre Habsucht die zu erwartenden dreißigtausend Taler und durch ihre Präsumtion die Lust, eine ganze Welt umzuformen, vorgespiegelt, und bloß dadurch bekamen sie Neigung und Beruf zur Erziehung. Ein solcher war der wohlehrwürdige Herr Erasmus Quincunx, ein reformierter Prediger im Herzogtume Jülich: ein schöner Geist und ein großer Liebhaber der Entenjagd, der öfter, wenn er seiner Gemeinde predigen oder ein Kind taufen sollte, im Walde oder im schilfichten Sumpfe aufgesucht werden mußte, wo er entweder den Reimen oder den wilden Enten nachstellte. Nun hielt die ehrwürdige Provinzialsynode des Herzogtums Jülich eben nichts von Predigern, welche Verse machen, und noch weniger von denen, welche wilde Enten schießen. Es erfolgten also Vermahnungen, welchen Pastor Erasmus Quincunx, der nicht sonderlich geneigt war, sich vermahnen zu lassen, dadurch auswich, daß er sein Amt schnell niederlegte; zumal da jene Reskripte gerade zwischen Johannis und Jakobi ankamen, der besten Zeit zur wilden Entenjagd mit Stecknetzen, welche er nicht mit Schreiben verderben mochte.

Er war mehr des freien Lebens als des Sitzens gewohnt und dachte als Jäger, irgendwo sein Unterkommen zu finden. Zu dem Behufe ging er nach Dessau, wo die Jagd bekanntlich in großem Flore steht. Er fand aber dort die wilde Entenjagd nicht nach seinem Sinne; dagegen lernte er Basedows Philanthropin kennen, dessen Ruf noch nicht bis in die Gegend zwischen der Maas und Roer gedrungen war. Da er überhaupt in Dessau als Jäger nicht, wie er glaubte, sein Fortkommen fand, entschloß er sich, lieber ein Lehrer der Jugend zu werden. Die Pädagogen und die, welche es werden wollten, wallfahrteten damals in großer Anzahl nach Dessau. Unter ihnen erschien auch der Expastor Erasmus Quincunx vor Basedow mit dem Begehren, bei der Anstalt Lehrer zu werden. Es ging dies schon deshalb nicht an, weil Basedow, wie bekannt, in seinem Philanthropine lateinisch reden ließ, wozu dieser Mann nicht eingerichtet war. Er ward daher abgewiesen, blieb aber noch einige Wochen in Dessau, besah das Äußerliche der Lehrart, die Uniformen, die Trommel, mit der zum Essen gerufen ward, und andere solche wichtigen Sachen, wobei er den Entschluß faßte, in Verbindung mit einigen pädagogischen Pilgern, die ebenso wie er von Basedow abgewiesen waren, in der Gegend der Maas eine ähnliche Anstalt anzulegen, welche er für sich sehr einträglich zu machen dachte. Er kehrte zurück; und weil er aus guten Ursachen sich im Herzogtume Jülich nicht zu setzen wagte, so begab er sich in das Reich von Aachen (wie das Gebiet dieser Reichsstadt feierlichst benennet wird) und legte daselbst unverzüglich in dem Dorfe Horbock mit seinen Gehilfen ein Philanthropinchen an. Er hatte die Kunst gelernt, etwas Aufsehen zu erregen, kleine Vorteile geltend zu machen, sich Empfehlungen zu verschaffen und, wenns nicht anders gehen wollte, Notschüsse zu tun; kurz, die Kunst der Jagd auf Zöglinge, welche wohl so viel Schlauigkeiten erfordert, als die Jagd der wilden Enten, und ebenso wie diese oft in tiefen Sumpf führet. Seine Schule ward dadurch in den benachbarten Gegenden bekannt, bekam bald einigen Zulauf und hat ihn vielleicht noch.

Die Grenzen des kleinen Reichs von Aachen sind, wie die Grenzen des großen Reichs China, durch einen Wall eingeschlossen. Daher mag es wohl kommen, daß wir von dem, was in beiden vorgeht, nur sehr unvollkommene Nachrichten haben. So viel uns bewußt, ist bisher die Existenz des Philanthropins zur Horbock im übrigen Deutschlande nicht bekannt gewesen. Im Verfolge dieser Geschichte mußte notwendig davon geredet werden, und diese Entdeckung erhält eine zufällige Wichtigkeit in der gelehrten Geschichte. Herr Rehberg in Hannover gab im Jahre 1792 ein sehr gelehrtes Büchlein heraus unter dem Titel: Prüfung der Erziehungskunst, worin er dieser Kunst so viel Böses nachsagt, daß es scheinen möchte, er halte sie ganz und gar für »die falschberühmte Kunst, welche etliche fürgeben und fehlen des Glaubens«. Nun sollte man aber fast denken, es müsse doch auch eine wahre und echte Kunst der Erziehung geben; denn es gibt ja eine echte Kunst, Hunde abzurichten, wodurch in diesen Tieren Kräfte entwickelt werden, von denen man nicht geglaubt hätte, daß sie in ihnen liegen könnten. Wie? Sollte nicht etwa vorher an mehrern Orten die Erziehung der zarten menschlichen Jugend viel Ähnliches gehabt haben mit dem Abrichten der Hunde, so daß man bloß auf ihr Gedächtnis wirkte und bloß Peitschen, Hunger und andere strenge Mittel anwendete, wie bei unvernünftigen Tieren, die sich nicht anders ziehen lassen? Man hat aber in neuern Zeiten überlegt, daß Menschen Seelenkräfte vor den Tieren voraushaben, daß man dieselben auch vorzüglich bei Kindern zu entwickeln suchen und zu deren besserer Erziehung brauchen müsse. Man hat ferner überlegt, daß ein besserer Weg hierzu vorhanden sein werde als Peitschen und andere strenge Mittel, welche nur für Tiere nötig sind und für Menschen, die unvernünftig wie Tiere handeln. Die schickliche Anwendung dieser Mittel zu dem großen Zwecke, vernünftigere und bessere Menschen zu bilden, scheint die echte Erziehungskunst zu sein; und es gibt Männer, begabt mit Einsicht und Wohlwollen, welche diese Kunst zu verbessern vorzüglich bemüht sind. Herr Rehberg spricht aber, ohne dieser zu erwähnen, nur von solchen Erziehungskünstlern, welche er als Toren, als Marktschreier, ja als die sinnlosesten Sterblichen schildert. Er nennt namentlich nirgend die verächtlichen Menschen, wider welche er streitet, gedenkt aber auch gar nicht der Männer, welche zur Verbesserung dieser Kunst der Erziehung nach ihren Einsichten das Mögliche beitrugen, und der von ihnen bewirkten Verbesserungen. Daher ist die lieblose Voraussetzung entstanden, Herr Rehberg meine die letztern selbst und wolle wirklich die edlern Bemühungen zur Verbesserung der Erziehungskunst, welche wir einem von Rochow, Resewitz, Campe, Trapp, Feder, Gedike, Pfeffel, Lieberkühn, Stuve, Salzmann u.a. zu danken haben, durch sein Buch heruntersetzen. Allerdings haben einige Stellen desselben den Gedanken veranlassen können, als wolle er bloß wider diese würdigen Männer streiten. Aber dies ist doch eine ganz unstatthafte Voraussetzung. Denn wie könnte man ihm zutrauen, so unphilosophisch und unbillig zu handeln? Gesetzt, er glaubte, Irrtümer in der neuern Erziehungskunst oder Mißbräuche in ihrer Ausführung rügen zu müssen; würde es wohl einem Philosophen anständig sein, über lobenswürdige Bemühungen wegwerfend abzusprechen, als ob sie weiter nichts als Irrtümer und Mißbräuche wären? Würde es nicht vielmehr einem Philosophen gebühren, den Nutzen neuer Lehrmethoden und das, was sie etwa Nachteiliges haben könnten, unparteiisch und gründlich zu würdigen? Selbst wenn man voraussetzen wollte, die Prätensionen oder hohen Einbildungen, welche bei irgend einigen neuern Pädagogen vorhanden gewesen sein möchten, hätten unsern Philosophen so indigniert, daß er die ganze neuere Pädagogik so bitter zu verdammen veranlaßt wäre, so würde doch ein solches Verfahren nicht nur nicht billig, sondern nicht einmal politisch sein. Denn auch Philosophen – die spekulativen nicht ausgenommen – sind sehr oft voll Prätension und Einbildung; und die leidige Erfahrung zeigt, daß selbst der kategorische Imperativ und die neuesten formalen Prinzipien, welche sonst doch bekanntlich Universalarzeneien sind, einige philosophische Herren vor kindischem Dünkel nicht haben schützen können. Wer würde es aber wohl billig nennen, deshalb alle Philosophie für Geschwätz und alle Philosophen, selbst auch die, welche ziemlich laut schreien, für Marktschreier auszugeben?

Alle diese scheinbaren Widersprüche glauben wir nun, durch die Voraussetzung heben zu können: Herr Rehberg habe die obigen verdienten Männer und ihre wohltätigen Anstalten gar nicht gemeint, sondern nur die tölpischen Nachahmer derselben und besonders das Philanthropinchen zu Horbock im Reiche von Aachen. Dies war freilich ein buntscheckiges Ding, und es sind davon, wie wir vernehmen, noch andere Filialphilanthropinchen in die Gebirge des Deisters und Süntels verpflanzt, wodurch vielleicht in dem guten Fürstentume Kalenberg mehr Unfug mag verursacht worden sein, als wir anderen wissen, welcher denn freilich Herrn Rehberg als einem patriotischen Kalenberger näher zu Herzen gehen mußte. Wir unterwinden uns hierbei, den unmaßgeblichen Vorschlag zu tun, ob nicht der Name des Dörfchens Horbock im Reiche von Aachen künftig gebraucht werden möchte wie bisher der Name der ehrbaren Städte Schilda und Schöppenstädt. Diese müssen alles Gauchtum des H. Römischen Reichs deutscher Nation auf sich nehmen, selbst das Gauchtum derjenigen Gäuche, welche diese unschuldigen Städte des Gauchtums beschuldigen. Man könnte festsetzen, daß Horbock und dessen Philanthropin alles auf sich nehmen müßte, was irgend ein mißmutiger theoretischer Philosoph, der nie Kinder hatte, in der Fülle seiner Weisheit an den Pädagogen zu tadeln fände, welche die theoretische Erziehungskunst eines Philosophen, der seine eigenen Kinder nicht erziehen mochte, in der besten Meinung praktisch, das heißt wirklich nützlich zu machen suchen.


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