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Das letzte Zeichen des gnädigen Wohlwollens, das der ehemalige philosophische Freund unserm dicken Manne aus seiner Birutsche zunickte, machte diesen eben nicht glücklicher. Sein Herz ward ihm leichter, als er das Schloß des Herrn von Reitheim nicht mehr sah. Die Erniedrigungen, die er daselbst hatte dulden müssen, drückten schwer auf seine Einbildungskraft. Desto mehr freute er sich, nun eine ehrenvollere Lage vor sich zu sehen.
Er reisete Tag und Nacht; denn sonst hätte er nicht zur bestimmten Zeit ankommen können. Aber in einem Städtchen, etwa drei Meilen von dem Gute des Ministers, hielt er Nachtlager, um nicht daselbst ganz in der Frühe einzutreffen. Da er zum Mittage bestellt war: so ersah er daraus, daß er zur Tafel kommen sollte, und schloß aus dieser Attention eines so großen Mannes gegen ihn schon einigermaßen auf dessen günstige Gesinnungen. Um nun anständig zu erscheinen, stand er sehr früh auf, ließ sich frisieren, zog sein bestes Kleid an und fuhr alsbald fort, damit der Minister, der ihm vermutlich über mancherlei würde Befehle zu erteilen haben, noch vor der Tafel mit ihm darüber sprechen könne. Sollte derselbe aber etwa auf seinem Gute (wohin er vermutlich, um von seinen Staatsgeschäften auszuruhen, sich mochte begeben haben) bloß auf der Serviette speisen, so war es auch möglich, daß er ihn bei der Tafel von den Gegenständen unterrichtete, wobei er ihn zu gebrauchen dächte. Genug, unser dicker Mann wollte sich nicht vorwerfen lassen, daß er allzuspät käme. Übrigens tat sich sein Herz auf bei dem schönen Morgen und bei der vorteilhaften Ansicht, weil er nicht zweifelte, durch einen Minister, von dem er wußte, er habe das Herz des Fürsten in Händen, und an den er von seinem Neffen so stark empfohlen war, in eine Lage versetzt zu werden, wo er einen ausgedehnten Wirkungskreis, für Viele Gutes zu tun, erhalten werde: eine Idee, die immer noch seine Einbildungskraft mit Macht anfeuerte. Er sah freilich wohl ein, es könne ihm von mißgünstigen Leuten manches in den Weg gelegt werden; dagegen aber fühlte er wieder, in dem Hause des Herrn von Reitheim, so klein auch der Zirkel gewesen war, dennoch große Fortschritte in der Menschenkenntnis gemacht zu haben.
Bei dieser Gelegenheit fing unser dicker Mann zuerst an, ganz unphilosophischer Weise einige Zweifel zu fassen, ob wohl die theoretische Philosophie, auf die er bisher einen so großen Wert gesetzt hatte, auch im Laufe der Welt anwendbar sei? Er hatte hierin Unrecht: denn die kritische Philosophie hat ja deutlich bewiesen: die Theorie, wenn nur ganz vollständig, sei allemal auch praktisch anwendbar. Wir möchten uns zwar beinahe unterwinden, von dieser an sich unumstößlichen Regel das Heiraten und das Bierbrauen auszunehmen, wobei man mit der Theorie nicht ganz auslangen dürfte. Sonst ists freilich gewiß, daß bei den wichtigsten Gegenständen im Handlungs- und Finanzwesen, in der Politik und der Regierung der Staaten, besonders aber in der Arzneikunde (obgleich derselben Theorie nicht auf den Pflichtsbegriff gegründet zu sein scheint, so wie jene) nur allein durch eine vollständige Theorie die glücklichste Praxis an die Hand gegeben wird. Ein Beispiel ist der berühmte Mirabeau, welcher in dem einzigen Jahre, da er sein unsterbliches Werk über die Preußische Monarchie schrieb, derselben ein viel größeres Glück aus bloßer vollständiger physiokratischer Theorie zugewendet hat, als Friedrich der Große derselben in sechsundvierzig Jahren einer bloß praktischen Regierung hat verschaffen können. Ebenso sieht der berühmte Herr Etatsrat von Schirach immer sehr genau voraus, was in der politischen Welt vorgehen wird, nicht etwa, wie einige Verleumder aussprengen, durch Zauberei und Verständnis mit dem Fürsten der Finsternis, sondern aus einer vollständigen Theorie, in welcher auch die allerkleinste Friktion der politischen Maschine theoretisch berechnet ist. Ein noch auffallenderer Beweis der Richtigkeit des obigen philosophischen Satzes ist der berühmte Herr Doktor und Geheime-Hofrat Girtanner. Derselbe hat eine gewisse leidige Seuche, auf eine ganz neue Art, aus dem Grunde kurieren gelehrt, und zwar durch bloße Theorie, indem seine wichtigen Bemühungen um die neueste europäische Politik ihm noch nicht erlaubt haben, sich eigentlich der medizinischen Praxis zu widmen.
Die Zweifel unsers dicken Mannes an Ansehung der theoretischen Philosophie kamen daher, weil er vermutete, er werde jetzt mit Staatssachen, die ihm noch neu wären, sich beschäftigen sollen. Er sah ein, daß er dabei hin und wieder mit gewandten Weltleuten werde zu tun haben, welche gewöhnlich die philosophische Kritik nicht anzuwenden wissen; und daher meinte er, etwas zu furchtsam, es könne doch vielleicht die Theorie, durch welche er bisher hatte alles im Voraus durch Schlüsse erforschen und sich danach richten wollen, unter diesen Umständen nicht ganz hinlänglich sein. Er nahm sich also vor, mit Bedacht zu Werke zu gehen, die Erfahrung zu Rate zu ziehen und kein schickliches Mittel ungebraucht zu lassen, um die wohltätigen Zwecke zum Besten des Landes, wozu er gebraucht zu werden hoffte, zur Wirklichkeit zu bringen. Die Erfahrung, für die er jetzt anfing einige Hochachtung zu hegen, hatte ihn gelehrt, daß man nicht allemal geradezu wirken könne, sondern oft durch indirekte Wege zum Ziele gelangen müsse. Jetzt schien ihm selbst, er habe den Charakter des Herrn von Reitheim vorher ganz unrichtig beurteilt; und er erinnerte sich, daß der Leibjäger, den er so gering geschätzt hatte, ihm am Ende allein zu einer für ihn wichtigen Forderung helfen konnte. Er nahm sich also vor, niemand gering zu schätzen, weil er nicht wisse, wo er ihn möchte nötig haben, besonders aber den Charakter des Ministers zu studieren, um nach dessen Beschaffenheit seine Maßregeln zu nehmen.
Aber hier fiel ihm plötzlich ein, es wäre doch möglich, daß der Minister auch seine schwache Seite habe und sich so wie sein Neffe von irgend einem Jäger oder Kammerdiener regieren lasse. Da warf nun unser dicker Mann die theoretische Gewissensfrage auf: ob es sich für einen Mann, wie er jetzt eben werden sollte, schicken würde, mit solchen Leute eine Art von Freundschaft zu halten und sich ihrer zur Erlangung seiner Zwecke zu bedienen? Er war anfänglich etwas unschlüssig, zumal da die neueste Moralphilosophie nichts von Kollisionsfällen und von dem, was man sonst Notrecht nannte, wissen will, sondern bloß auf unbedingte Pflichten dringt; indes half ihm doch sein kritisch-moralisches Prinzip, vereinigt mit seiner geprüften Erfahrung, glücklich aus dem Handel. Er fand, es sei einigermaßen für einen Mann wie ihn erniedrigend, doch aber auch notwendig, mit Klugheit in der Welt zu Werke zu gehen und niemand, der zu brauchen stehe, gering zu achten. Er setzte also bei sich fest: daß, da man die Menschen nehmen müsse, wie man sie haben könne, man auch dergleichen geringe Personen brauchen dürfe, um durch sie bei höhern gute Zwecke zu betreiben. Doch da er fest entschlossen war, die Maximen aller seiner künftigen Handlungen sollten allgemeine Gesetze werden können, nahm er sich fest vor, wenn dergleichen Leute schlecht handelten, ihre schlechte Seite nicht zu guten Zwecken anwenden zu wollen und also auf alle Weise in der vermutlichen wichtigen Laufbahn, die sich jetzt für ihn eröffnete, jederzeit die Klugheit einer Schlange mit der Falschlosigkeit einer Taube zu verbinden.
Indem er diesen trefflichen moralischen Entschluß faßte, rückte er sich in seinem engländischen Reisewagen recht zusammen; und in dem Augenblicke stieß das linke Hinterrad gegen einen großen Stein. Die eiserne Achse zersprang, und der Wagen lag mitten im Felde. Es war nicht gar weit bis zu einem Dorfe, wohin der Wagen, nachdem der Fuhrmann endlich die Achse mühsam zusammengebunden hatte, geschleppt wurde; Anselm und der Fuhrmann gingen zu Fuße nebenher. Aber der Schmied im Dorfe erklärte es für unmöglich, die Achse unter sechs bis acht Stunden herzustellen. So lange konnte unser dicker Mann nicht warten; denn er hatte keine Zeit zu verlieren, um nicht zu spät bei der Tafel des Ministers zu erscheinen. Es blieb also nichts übrig, als einen Bauerwagen zu mieten, auf den alles Gepäck vom Reisewagen gelegt ward, wo sich dann Anselm obendrauf setzte. Etwas kostete es freilich seiner Eitelkeit, auf diesem Fuhrwerke in das Schloß des Ministers einzuziehen, der bei seiner Ankunft leicht am Fenster stehen konnte. Auch ward seine Frisur vom Winde ein wenig zerstört, indem das Dorf beinahe noch zwei Meilen entlegen war. Indes tröstete er sich damit, daß solche kleinen Unfälle jedem Reisenden leicht begegnen können und daß sein schöner Wagen, wenn er den andern Morgen nachkäme, schon in die Augen fallen und die Vermutung erregen werde, er sei kein gemeiner Sekretär.
Der Aufenthalt und das Umpacken hatte doch einige Zeit weggenommen, so daß er eben um zwölf Uhr ankam. Er sagte gleich, wer er sei, und verlangte Se. Exzellenz zu sprechen. Der Schweizer wies ihn nach dem Zimmer des ersten Kammerdieners, der ihn sehr höflich empfing. Anselm hatte aber kaum Zeit, seine Unfälle mit dem Wagen kurz zu erzählen, den Brief, welchen Herr von Reitheim ihm mitgegeben hatte, vorzuzeigen und das Verlangen zu wiederholen, Sr. Exzellenz Dero Befehle gemäß gleich aufzuwarten, als der Kammerdiener schon erwiderte: Se. Exzellenz und die übrigen Herrschaften säßen jetzt beim Spiele und würden nachher gleich zur Tafel gehen; daher könne er jetzt nicht vorkommen. Nach Tische aber würden die Herrschaften im Garten spazieren gehen, da wollten dann Se. Exzellenz ihm Audienz geben. Indes sei Befehl da, daß er am Kammertische mitspeisen solle.
Der premier homme de chambre bot ihm zugleich verbindlich die Hand, um ihn hinzuführen; denn die Kammerjungfern und Kammerdiener der gnädigen Herrschaft und der gnädigen Gäste waren eben im Begriffe, sich zu Tische zu setzen, um hernach bei der Tafel und beim Kaffee ihre Aufwartung wahrzunehmen. Diese Einladung stach sehr ab gegen die Vorstellung, die sich Anselm von seinem Empfange beim Minister versprochen hatte. Er war in der ersten Aufwallung seines Unwillens im Begriffe, alles im Stiche zu lassen und ungegessen wegzugehen. Teils sah er aber wohl ein, er würde dadurch die ganze Aussicht zu einer, ansehnlichen Beförderung verlieren, teils war er wirklich hungrig; und hätte er dennoch zurückreisen wollen, so konnte er nicht, weil seine Pferde in der Schenke in den Stall gezogen waren, um gefüttert zu werden. Er ging also geduldig hin, um sich gleich seinen Pferden füttern zu lassen. Aber er war wie betäubt; denn er befand sich in einer ganz neuen Welt. Die mit zierlicher Höflichkeit gemischte gemeine Vertraulichkeit seiner Tischgenossen mußte einem Manne unerträglich fallen, der so viel in guter Gesellschaft gelebt hatte; und er verwünschte bei jedem Bissen den Leichtsinn und die Verschwendung seiner Jugend, wodurch er nach und nach bis in diese Lage war gebracht worden. Nach Tische hatte er über eine Stunde lang die Höflichkeit der Kammerjungfern auszuhalten, welche seine Frisur, trotz der vom Winde darin gemachten Verwüstungen, nebst seinen weißen seidenen Strümpfen mit ihrem Beifalle beehrten.
Nachdem die Herrschaften die Tafel verlassen hatten, ward er im Garten in einen Gang gestellt, wo sie vorbeigehen sollten. Er sah da eine ganze Prozession von Herren mit Knotenperücken und von ernsthaften alten Damen in steifen Andriennen, die ihn kaum bemerkten. Endlich erschien der Minister, redete ihn zuerst an, zwar etwas zurückhaltend, aber doch überaus höflich und mit einer zuvorkommenden Gnade, die bald unsers armen dicken Mannes Herz gewann. Er ward von Sr. Exzellenz über verschiedene Gegenstände examiniert und hatte das Glück, hohen Beifall zu erhalten. Dies machte ihm Herz zu sagen: Er hoffe in jeden Wirkungskreis, welchen Se. Exzellenz ihm anzuweisen geruhen würden, sich zu schicken und zu jedem Geschäfte, das ihm, es sei auch in welchen Landessachen es sei, von Sr. Exzellenz aufgetragen werden möchte, durch Fleiß und Tätigkeit sich hineinzuarbeiten.
Er war ein wenig betroffen, als Se. Exzellenz erwiderten: »Ich verlange Sie nicht für mich, sondern für meine Schwester, die Äbtissin des freien weltlichen Fräuleinstifts zu ..., welche einen Sekretär und Geschäftsführer bedarf. Das Stift ist mit mancherlei Prozessen beladen. Besser würde es daher freilich sein, wenn Sie ein Jurist wären. Indes, da Sie guten Willen haben, sich in die Geschäfte hineinzuarbeiten und Sie nur hauptsächlich mit den Advokaten und Prokuratoren zu korrespondieren und die Akten in Ordnung zu halten haben, so werden Sie sich wohl darein finden.« Anselm erwiderte stammelnd: Er hätte gehofft, in Sr. Exzellenz eigene Dienste zu treten und wolle auch jetzt noch untertänigst darum ansuchen.
Der Minister aber erwiderte: Dies könne vielleicht einmal geschehen, wenn er sich einige Jahre lang bei der Äbtissin werde gut aufgeführt haben. Jetzt aber wäre keine Vakanz, und es wäre ihm ohnedies nur auf besondere Empfehlung des Herrn von Reitheim diese Stelle konferiert worden, ob er gleich kein Jurist wäre.
Wahr ists, der Herr von Reitheim hatte ihn auf eine Art empfohlen, welche die Beförderung sehr erleichterte; denn er hatte in dem letzten Schreiben gemeldet, Anselm sei jetzt in solcher Lage, daß er auch mit dem geringsten Gehalte werde zufrieden sein müssen.
Der Minister führte ihn nun ungesäumt zu seiner Schwester, der Äbtissin. Dies war eine Dame zwischen siebzig und achtzig Jahren, etwas untersetzt und von breiten Kinnbacken. Sie hielt den Oberteil ihres Körpers ungefähr in einem Winkel, dessen Grade, gegen die Fläche des Erdbodens gemessen, der Anzahl ihrer Lebensjahre gleich kam, und war etwas taub. Daher konnte sie nicht wohl verstehen, was man sagte; hingegen waren auch ihre Antworten eben nicht leicht zu vernehmen, indem Ihro Hochwürden und Gnaden aus Mangel der Zähne die Worte ziemlich mummelten. So viel war indes aus ihrer Anrede an unsern ganz erstaunten dicken Mann herauszubringen: daß er ein ganz guter Mensch zu sein schiene, daß sie ihn ermahne, sich gut aufzuführen, und ihn ihrer Gnade versichere.
Die Figur der Frau Äbtissin mochte eben nichts beitragen, unsern dicken Mann von dem Mißvergnügen über seine ganz verfehlte Aussicht zu heilen, da er anstatt in die Dienste eines vielgeltenden Ministers in die Dienste einer alten Frau treten sollte. Er hatte ein paarmal auf der Zunge, sich für ihre Gnade zu bedanken und dieselbe zu verbitten. Aber so sehr er außer Fassung war, bedachte er doch noch, daß ihm jetzt keine andere Wahl freistehe, zumal da er, außer sehr wenigen Gulden in der Tasche, nichts im Vermögen hatte als einen schönen engländischen Reisewagen mit zerbrochener Hinterachse, der zwei Meilen entfernt lag.
Er mußte sich also schon seiner Äbtissin auf Gnade und Ungnade ergeben. Nach einem Aufenthalte von etwa acht Tagen auf diesem Gute, welchen die Kammerjungfern unserm dicken Mann möglichst angenehm zu machen sich bemühten, war der Besuch der Hochwürdigen in Gott andächtigen Frau bei ihrem Herrn Bruder geendigt; und nun ging ihre Rückreise in Gesellschaft ihres neuen Sekretärs wieder die Ufer des Rheins hinab und weiter nach dem ein paar Tagereisen davon entlegenen Stifte. Der Herr Sekretär verkaufte vorher seinen eleganten Reisewagen, das letzte Überbleibsel des großen Vermögens, das er von seinem Vater geerbt, und des kleinen, das er mit seiner Praxis erworben hatte; das letzte Überbleibsel von allen schönen Möbeln und Nippes, die ihm in Vaals und in Elberfeld so manches Vergnügen gemacht hatten.
Außerdem, daß er die kleine Summe, die ihm dieser Wagen einbrachte, jetzt zu mancherlei notwendigen Bedürfnissen nicht wohl entbehren konnte, hatte er nun auch keinen Reisewagen nötig, indem er die Gnade genoß, einen Rücksitz in dem Wagen der Frau Äbtissin einzunehmen. Er war da recht wohl verwahrt, ob ihn gleich, bei der damals etwas starken Hitze im Julius, zuweilen einige Ängstlichkeit anwandelte, weil wegen verschiedener Flüsse und Gichtknoten der Hochwürdigen Frau die hölzernen Fenster nie geöffnet werden durften. Dieses und seine Gedanken, welchen er nachzuhängen alle Muße hatte, machte seine Reise nach dem Stifte nicht so angenehm als seine Reise nach dem Gute des Ministers. Seine Einbildungskraft stellte sich lebhaft vor, was er gewesen und was er jetzt war. Er verwünschte abermals in Gedanken seinen Leichtsinn, seinen Müßiggang, seine Verschwendung und seine eingebildete Klugheit, welche ihn aus dem besten Wohlstande in die jetzige unangenehme Lage, aus der glücklichsten Unabhängigkeit in eine beklemmende Abhängigkeit gebracht hatte. Er dachte mehrmal: »O Philipp! war ich gewesen wie du! Ohne eingebildete Pläne auf die Zukunft, arbeitsam, wirtlich, bescheiden und zufrieden mit meinem Stande!«
Wenigstens hatte er den guten Entschluß, sich seinen Freund Philipp zum Muster zu nehmen und sich geduldig in seine Lage zu schicken. Auch fehlte es ihm nicht an Gelegenheit, die Tugenden der Arbeitsamkeit und der Geduld auszuüben. Er fand sich unter einer Menge verwirrter Akten und verwirrter Korrespondenzen. Er mußte sich, so sauer es ihm ankam, einen Begriff davon machen und die Prozesse in Ordnung und in Bewegung bringen. Es blieb ihm, um hiermit zu Stande zu kommen, anfänglich den ganzen Tag durch nicht eine Stunde zur Erholung übrig. Zudem waren alle Gegenstände, mit welchen er umgeben war, eben nicht unterhaltend. Die im Stifte befindlichen Fräulein waren zwar sehr neugierig, den fremden Ankömmling kennenzulernen; aber sie wollten unserm dicken Manne nicht behagen. Sie waren teils etwas ältlich, teils ziemlich verwachsen, teils ein wenig kränklich; alle aber zufälliger Weise, welches sich in Fräuleinstiftern sonst gar nicht finden soll, etwas zänkisch über Kleinigkeiten. Wenn sie daher des Abends in Prozession kamen, um vor dem Schlafengehen der Frau Äbtissin nach Stiftsgebrauche knieend die Hand zu küssen: so wurden gewöhnlich auch Klagen vorgebracht oder es entstanden sonst etwas laute Wortwechsel, wobei der Herr Sekretär zuweilen auf Befehl der Frau Äbtissin etwas zu schlichten hatte. Denn er speisete hier nicht am Kammertische, sondern hatte gewöhnlich die Gnade, zur Tafel der Frau Äbtissin gezogen zu werden. An der Unterhaltung gewann er hierbei eben nichts; denn die gnädigen Befehle, die etwas unvernehmlich herausgemummelt wurden, waren ziemlich schwer zu verstehen, und die Ehrfurcht erlaubte nicht, ein Gespräch selbst anzufangen, wozu sich auch eben nicht viel Gelegenheit zeigte.
Indes war man mit unserm dicken Manne zufrieden. Die Not machte ihn tätig. Er lernte sich endlich in seine Geschäfte schicken, und, wie es brauchbaren Leuten geht, denen man, je mehr man sie kennenlernt, mehr aufträgt, so fingen auch seine Geschäfte an, unvermerkt mannigfaltiger zu werden.
Die Frau Äbtissin bekümmerte sich sehr wenig um alle ihre Stiftsfräulein, die sie bloß ihre Oberherrschaft, sehr selten aber etwas von ihrer Gnade fühlen ließ, ein einziges Stiftsfräulein ausgenommen, welches mit der ersten Kammerjungfer die Gunst der Hochwürdigen Frau teilte. Diese beiden Günstlinge machten wieder den Herrn Sekretär zu ihrem Günstlinge. Das Fräulein war ungefähr dreiunddreißig Jahre alt, grau von Augen, lang und hager, auch etwas gespannt um die Gegend der Lippen, die, wenn sie lachte, ihre schönen Zähne sehen ließen, wovon nur ein paar zur Seite das Ansehen abgeschossener Bollwerke hatten. Nicht in die Zähne, sondern in das Herz dieses schönen Fräuleins hatte ein in einer benachbarten Stadt auf Werbung stehender Offizier geschossen, mit welchem sie in einem verliebten Briefwechsel stand. Weil nun Leute vom Stande, selbst in Angelegenheiten des Herzens, nicht anders als französisch korrespondieren können, das Fräulein aber ihre seelenschmelzenden Empfindungen in dieser Sprache nicht innig genug auszudrücken wußte, so ersuchte sie den Herrn Sekretär, als einen gelehrten Mann, ihre französischen Liebesbriefe in Form zu bringen. Dies vollführte er, obzwar ungern, doch so zu ihrem Wohlgefallen, daß es ungewiß ist, wenn der Offizier nicht ein Offizier, dabei fünf Fuß neun Zoll hoch gewesen und zweiunddreißig Ahnen gehabt hätte, ob nicht etwa unser kleiner dicker Mann ihm ein gefährlicher Rival hätte werden können.
Das Kammerjüngferlein hingegen war freundlich und einnehmend, aber doch eigentlich nicht verliebt. Nichts weniger. Sie war eine Gönnerin der Gelehrsamkeit, besonders der ernsthaften, als dahin gehören moralische Betrachtungen, worin eingeschärft wird, was jedermann ohnedies tut, gelehrte Beweise solcher Dinge, an denen niemand zweifelt, oder solcher, die bei allen strengen Beweisen niemand glauben will, z.B. daß die ägyptischen Pyramiden aus Basalt von selbst hervorgewachsen wären oder daß die Schöpfung der Erde den 18ten September Anno Null vor sich gegangen sei und ähnliche gelehrte Untersuchungen. Dieses schöne Kind unterhielt unsern dicken Mann mit Gelehrsamkeit; denn sie hatte sich in die Lesegesellschaft eines benachbarten Städtchens eingekauft, woher sie nicht etwa Romane und andere solche eitlen Scharteken, sondern gründliche Schriften erhielt. Da nun die Gelehrten hin und wieder Stellen in lateinischer oder andern Sprache anzuführen pflegen: so bat sie öfter den Herrn Sekretär, ihr diese Stellen zu verdeutschen, und beschäftigte damit mehr von seinen wenigen Nebenstunden als ihm lieb war, doch durfte ers nicht abschlagen, weil ihm der Leibjäger des Herrn von Reitheim einfiel, den er zuletzt nicht hatte entbehren können.
Auf diese Weise stand unser dicker Mann bei beiden Favoritinnen der Frau Äbtissin in Gunst und kam folglich durch doppelte Empfehlung auch bei ihr selbst immer mehr in Gnaden. Sie ließ wöchentlich dreimal des Abends Betstunde halten, welcher ihr ganzes Haus und so auch der Sekretär beiwohnen mußte. Als nun einmal der Kapellan krank war, mußte Anselm auf ihren Befehl versuchen, aus Goezens Predigten vom jüngsten Gerichte, die eben damals in der Betstunde im Gange waren, eine Predigt vorzulesen. Seine vernehmliche Stimme, die gleich der letzten Posaune in ihre tauben Ohren tönte, gereichte ihr so sehr zum gnädigen Wohlgefallen, daß sie ihm nun das Amt eines geistlichen Vorlesers ganz auftrug. Er erschrak darüber und glaubte, selbst vor dem jüngsten Gerichte zu stehen, wenn er die welken und breiten Gesichter vor sich sah. Die Sünden seiner Jugend fielen ihm allemal schwer aufs Herz, wenn er das Buch in die Hand nahm; aber die ihm dadurch erzeigte Gnade war nicht auszuschlagen. Der Beifall seiner Patronin belohnte ihn auch; denn sie faßte noch ein größeres Vertrauen zu ihm. Da es anfing zu verlauten, er sei ein Arzt, und sie im Herbste, wie gewöhnlich, ein Vorbauungsmittel zu nehmen hatte, ließ sie sich dazu von ihm ein Rezept verschreiben. Die ganz treffliche Wirkung desselben setzte ihn noch viel fester in ihrer Gnade, die ihm zwar von manchem im Stifte beneidet ward, aber dennoch nicht machte, daß sein Herz sich im Übermute erhob, so bescheiden war er geworden!
Er war nun der Hochwürdigen Frau in den drei obern Fakultäten, der theologischen, juristischen und medizinischen bedient. Nun wollte sein günstiges Schicksal, daß er auch in der vierten, in der philosophischen, ihr Dienste leisten sollte. Sie hatte eben damals eine Lieblingslektur an dem berühmten Werke: Karl von Karlsberg oder über das menschliche Elend. Aus diesem Buche las sie, nachdem die Abende anfingen, lang zu werden, mit der Brille auf der Nase täglich eine Stunde lang, mit innigem Vergnügen; denn sie fand darin ausführliche Nachrichten, wie elend es in der Welt geworden sei, seitdem sie jung war. Sie teilte dieses Vergnügen nicht nur mit ihrer Favoritin, der Stiftsdame, sondern auch mit ihrem Sekretär. Da in diesem gelehrten Werke hin und wieder wissenschaftliche Ausdrücke und Anspielungen vorkommen: so mußte er ihr dieselben erklären. Vermöge seiner redseligen Natur wurden daraus nach und nach kleine Vorlesungen über das scharfsinnige Werk, welche der doppelt alten Frau und der halb jungen Stiftsdame mit den schönen Zähnen unbeschreibliches Vergnügen machten. Ihm selbst freilich nicht soviel; doch gereichten ihm diese philosophischen Erläuterungen unter seinen übrigen Beschäftigungen noch zum mindesten Mißvergnügen, weil er darin wenigstens doch seine eignen Ideen ausspinnen konnte.
Indem dies geschah, schien ihm unter allen vier Fakultäten, die er jetzt so rühmlich bearbeitete, seine Hauptfakultät, die medizinische, eine ganz unvermutete Aussicht zu seinem künftigen Glücke zu eröffnen.
Die Kammerjungfer, wie schon bemerkt, eine verständige Person, baute auf die vorteilhafte Wirkung, welche unsers dicken Mannes Arznei zur Reinigung des Leichnams der Hochwürdigen Frau gehabt hatte, einen Plan, von welchem sie sich sehr viel versprach. Nachdem sie ein paar Wochen lang dem Herrn Sekretär freundlicher als jemals begegnet und mit ihm sogar, so wenig sie sonst eine Freundin von Gedichten war, zuweilen verliebte Lieder aus den Schwickertschen Musenalmanachen gelesen hatte, machte sie ihn mit ihrem Plane bekannt. Er sollte sie heiraten. Zur Mitgabe wollte sie ihm eine Bestallung als Leibarzt bei der Hochwürdigen Frau auswirken. Sie rechnete ihm vor, daß diese nur noch wenige Jahre vor sich habe und daß sie schon sorgen wolle, daß ihnen beiden im Testamente eine lebenswierige Pension vermacht würde, womit sie dann sich ganz bequem als ein Paar Turteltäubchen einrichten könnten.
Dies war ein Vorschlag, welcher unserm dicken Manne billig hätte annehmlich sein sollen. Wir kennen ihn als schönen Mädchen sehr ergeben. Nun war die Kammerjungfer weiß und rot, hatte blitzende Augen und, abgerechnet, daß das linke etwas seitwärts sah, als wollte es nach der rechten Schulter blicken, die um ein ganz Kleines wenig höher schien als die linke, ließ sich an ihrer Person nichts aussetzen. Sie zählte noch nicht völlig neunundzwanzig Jahre, war klug und noch gelehrt dazu. Dennoch fand sie bei unserm dicken Manne nicht Beifall. Wir müssen es nur zu seiner Schande gestehen: Er hatte durch die Philosophie noch so wenig der groben Vorurteile bei sich unterdrücken können, daß es ihn schimpflich dünkte, ein Mann wie er solle eine Kammerjungfer heiraten, um sein Glück zu machen, und noch dazu eine mit einer hohen Schulter. Er glaubte wohl, noch ganz andere Aussichten zu haben. Ihm waren die Worte des Ministers unvergessen, daß er in dessen Dienste kommen solle, wenn er erst eine Zeitlang zu der Äbtissin Zufriedenheit gedient hätte. Nun war man mit ihm zufrieden, und er hatte eben bei sich überlegt, wie er den Minister bei Gelegenheit des neuen Jahres, das nur wenige Wochen entfernt war, an sein Versprechen erinnern wollte.
Er sagte also der schönen Kammerjungfer mit aller Höflichkeit, er sei noch nicht willens, sich zu verheiraten. Aber so höflich man auch eine solche abschlägige Antwort geben mag, wird sie doch selten wohl aufgenommen. Das schöne Kind geriet darüber in einen Grimm, den man einer solchen Taube nicht hätte zutrauen sollen, und fing von dem Augenblicke an, so sehr seine Feindin zu werden, als sie vorher seine Freundin gewesen war. Nunmehr ward durch den widrigen Einfluß dieser erzürnten Schönen das Betragen der Äbtissin und aller Personen, die um sie waren, ganz anders gegen unsern armen dicken Mann. Die Umstände trafen sich ohnedies ungünstiger gegen ihn, als er selbst einsah. Das zärtliche Stiftsfräulein war von dem Werbeoffizier böslich verlassen worden, der eine reiche Erbin bürgerlichen Standes geheiratet hatte; daher führte sie jetzt gar keine französische Korrespondenz. Zwei der verwirrtesten Prozesse standen, durch einen glücklichen Einfall eines Prokurators in Wetzlar, auf dem Punkte, verglichen zu werden. Und da die gelehrte Kammerjungfer so schlau war, der Äbtissin über Stellen aus dem schönen Buche vom menschlichen Elende selbst täglich einige Auslegungen zu machen: so verschwand nun auch das Letzte, wodurch sich unser dicker Mann noch hätte notwendig machen können. Es fiel also der rachsüchtigen Kammerjungfer nicht schwer, es dahin zu bringen, daß ihm, etwa vierzehn Tage nach der unbedachtsamen abschlägigen Antwort, die Frau Äbtissin höchstselbst in ganz gnädigen Ausdrücken bedeutete: Er möchte sich gegen künftige Ostern um ein anderes Unterkommen umtun, weil sie alsdann seine Stelle ihrem Kammerdiener zugedacht habe. Dieser schrieb wirklich eine leidliche Hand, rechnete auch etwas, indem er im siebenjährigen Krieg Frisör bei einem Kriegskommissar gewesen war. Er hatte, um die wichtige Stelle eines Sekretärs zu erhalten, gar keine Schwierigkeit gemacht, sich den Tag vorher mit der Kammerjungfer zu versprechen, welches die Hochwürdige Frau unserm dicken Manne beiläufig kundtat.