Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

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Sechsundzwanzigster Abschnitt

Angenehme Wasserreise. Aussicht zu ländlichem Leben in ruhiger Genügsamkeit

Anselm schöpfte Luft, nachdem ihm das Joch seines zweiten Ehestandes abgenommen war; aber das Joch der Armut lag schwer auf ihm. Der Ehescheidungsprozeß kostete beinahe die Hälfte seiner kleinen Barschaft, und die andere Hälfte war verzehrt, ehe er sich entschließen konnte, was nun anzufangen sei. Nach vielen vergeblichen Betrachtungen ward er endlich mit sich einig, bei seinem Freunde Philipp Hilfe zu suchen. Es kostete seinem Stolze nicht wenig, dies über sich zu gewinnen; das Elend ist aber ein sehr wirksamer Lehrer.

Er sah bei einem Spaziergange am Ufer des Rheins ein Schiff anlegen, mit Waren aus Holland nach Köln befrachtet. Er dung sich sogleich auf dasselbe für ein Weniges ein. Den folgenden Tag fuhr er fröhlich ab. Der Himmel war heiter. Die herrlichen Rheinufer erfüllten seinen Geist mit frohen Bildern. Seine Hoffnung lebte wieder auf.

Die Wasserreise schien ihm eine angenehme Lustfahrt; am Ende derselben sah er die fruchtbaren Gegenden des Wippertals schon in Gedanken vor sich, wo er in die Arme seines treuen Freundes Philipp eilen wollte; und nun lebten die jovialischen Hoffnungen auf die Zukunft wieder in seiner Seele auf.

Es gewannen jedoch die Sachen schon den folgenden Tag ein anderes Ansehen und die folgenden noch mehr. Das Schiff war klein und voll. Einen Platz im Roef konnte er nicht bezahlen. Unter dem Verdecke war bei dem engen Raume und der Anzahl von Menschen kaum auszuhalten. Er brachte also die Nächte, welche schon sehr kalt waren, auf dem Verdecke unter freiem Himmel zu. Am Tage mußte er sich unter dem rohen Schiffsvolke herumtreiben. Bei Stürmen und widrigen Winden, welche anfingen, sich zu zeigen, mutete man ihm zu, mit Hand anzulegen, zur Regierung des Schiffes. Fast täglich ward bei den vielen Zollstätten Zeit versäumt. Die Reise zog sich in die Länge; und Anselm fing an, derselben und beinahe seines Lebens überdrüssig zu werden, weil jeder unangenehme sinnliche Eindruck, dergleich er nie hatte wollen ertragen lernen, sofort alle seine Hoffnungen austilgte. Die Schiffer haben immer allerhand Ursachen, unterwegs anzuhalten, welche sich auf das edle Geschäft der Konterbande beziehen. Durch die hohen Rheinzölle ist dies Geschäft einträglich geworden und sehr empor gebracht; denn nun ist es der Mühe wert, etwas zu verheimlichen. Dieses Geschäfts wegen machte auch der Schiffer auf zwölf Stunden Rasttag an einem Orte im Herzogtume Berg zwischen Düsseldorf und Köln, wo das mit Sträuchern bewachsene hohe Ufer seinen Absichten bequem war, weshalb er seine Abnehmer dahin bestellt hatte.

Anselm, des Schiffs herzlich müde, wollte an dem heitern Tage der schönen Luft genießen und ging voll schwermütigen Nachsinnens etwas ins Land hinein. Er kam bis in ein Dorf. Eben begegnete er einem Leichenzuge; man trug ein junges Mädchen zu Grabe. Dies stimmte zu seinen eignen melancholischen Gedanken. Er folgte dem Zuge bis auf den Kirchhof. Hier hörte er den dumpfen Ton der auf den Sarg fallenden Erde und wünschte in dem Augenblicke, er würde auch versenkt. Er blieb gedankenvoll am Grabe stehen, da der Leichenzug schon auseinander gegangen war. Endlich bot ihm der Küster die Hand und redete ihn an. Beide wußten nicht, ob sie ihren Augen trauen sollten.

Der Küster war eben der verwundete preußische Soldat, dessen Wunden Anselm unweit Wyk de Duurstede verbunden hatte. Dieser Soldat war aus Rekahn gebürtig und nach der dortigen vortrefflichen Methode unterwiesen worden, welche den Verstand der Bauernkinder aufklärt, ihr Herz bessert und sie zugleich noch tüchtiger macht, das zu werden, wozu sie geboren sind, gute Bauern und gute Soldaten. Nach Heilung seiner Wunden war er wegen seines steif gewordenen linken Armes für invalide erklärt und nach Wesel transportiert worden. Eben damals hielt sich der Prediger dieses Dorfes wegen des Rechtshandels eines seiner armen Kirchkinder einige Wochen in Wesel auf und lernte zufälliger Weise den Invaliden kennen. Der Prediger war einer von den edlen Männern, die im Stillen Gutes tun. Besonders hatte er, vom Anfange seines Amtes an, sich der Verbesserung der Schule angenommen; nur fehlte es ihm bis dahin an einem brauchbaren Schulmeister. Er freute sich also sehr, da eben diese Stelle vakant war, einen Zögling aus einer so berühmten Schule aufzufinden, zumal da er an ihm nach einiger Unterhaltung eine vorzügliche Gabe entdeckte, seine Kenntnisse der Jugend mitzuteilen. Er bewog ihn daher, die Stelle eines Schulmeisters und Küsters auf seinem Dorfe anzunehmen.

Der Schulmeister empfahl seinem Pastor unsern dicken Mann als seinen Retter, der mit edler Gastfreiheit aufgenommen ward. Die wenigen Sachen holte man vom Schiffe, und Anselm ging mit nach des Pastors Amtswohnung.

Es war eine kleine verfallene Hütte, entblößt auch von den gemeinsten Bequemlichkeiten, welche Anselm bisher zum Genusse des Lebens für durchaus notwendig gehalten hatte. Niedrige Türen, Fenster, welche kaum das Tageslicht einließen, nackte, hin und wieder beschädigte Wände, baufällige Treppe und Fußböden, Mobilien von gemeiner Art, bloß zum Gebrauche, ohne alle Zierlichkeit oder gesuchte Gemächlichkeit. Anselm, ins Haus tretend, erstaunte nicht wenig über diesen armseligen Anblick; aber noch mehr erstaunte er, als er, ins Wohnzimmer tretend, die Gattin des Predigers erblickte, eine Frau, ganz simpel und ländlich gekleidet, aber in der höchsten Blüte der Schönheit und Gesundheit. Dem Schönheitsspäher Anselm fiel diese edle Frau um so mehr auf, da er seine geschiedene Ursula nebst ihren Katzen noch immer lebhaft in der Einbildungskraft vor sich sah. Aber noch mehr nahm sein Erstaunen zu, als er diese schöne Frau näher kennenlernte und fand, daß ihre körperlichen Eigenschaften von ihren geistigen übertroffen wurden, so glänzend auch jene waren. Sie besaß Verstand und Anmut, war sittsam und gutherzig, hatte eine feine Erziehung genossen und sowohl Kenntnisse als Eigenschaften erlangt, mit denen sie in der besten Gesellschaft in der Stadt hätte glänzen können. Sie tat aber auf alle Ansprüche Verzicht, um ihren Mann glücklich zu machen, und war glücklich durch ihn. Unter diesem verfallenen Strohdache wohnte Zufriedenheit und wahrer Lebensgenuß. Das weise Paar hatte allen überflüssigen Bedürfnissen freiwillig entsagt. Erst, nachdem diese Entäußerung zur Fertigkeit geworden und dadurch nicht mehr beschwerlich war, ging ihr edelster Genuß an. Sie verlangten nur das, was den Körper unterhalten und stärken und den Geist aufheitern kann. Aber was diese wünschenswürdigen Bedürfnisse befriedigen konnte, mangelte nie und ward auch mit froher Unbefangenheit ihrem Gaste Anselm mitgeteilt. Reinlichkeit und Ordnung herrschten im ganzen Hauswesen. Anselm fühlte, daß beide den simpelsten Gegenständen eine Annehmlichkeit gaben, welche der unordentlichen Wirtschaft des Herrn von Reitheim durch Prunk und Aufputz nicht hatte gegeben werden können. Das ganze Leben dieses glücklichen Paars war ununterbrochener Genuß; denn Wohlwollen und Vernunft regierten denselben, und weise Enthaltsamkeit machte, daß er nie in Überdruß ausarten konnte. Ihre frugalen Mahlzeiten wurden durch verständige und heitere Unterhaltungen schmackhaft gemacht; dabei konnten sie leicht Indiens teure Gewürze entbehren. Anselm, der alles versucht hatte, was der Luxus zum Lebensgenusse darbietet, der nirgend dauernden Genuß hatte finden können, fand jetzt erst bei der einfachsten ländlichen Kost einen Genuß, den kein schwelgerisches Mahl geben kann, und fühlte jetzt erst lebhaft, man müsse, um glücklich zu werden, nicht Vergnügen von außen suchen, sondern es in sich finden, aber auch eines so edlen Vergnügens würdig sein.

Der Prediger und seine Gattin waren unermüdet in Beobachtung ihrer Pflichten und setzten ihnen alle, sogar die unschuldigsten, Vergnügungen nach. Anselm hatte über das moralische Prinzipium der Pflicht viel Worte gemacht; aber er konnte sich, in Vergleichung mit diesem edlen Paare, selbst nicht verhehlen, daß er seine Pflichten durch dies Prinzip nicht besser ausgeübt hatte. Der Prediger war der Vater, der Berater, der Arzt aller seiner Kirchkinder. Mit dem mäßigsten Einkommen wußte er durch eigene Entäußerung und Frugalität Mittel zu finden, vielen Notleidenden ein Helfer zu sein. Anselm schlug an seine Brust. Er sagte sich selbst, daß er im besten Wohlstande und bei vielen zwecklosen Ausgaben nicht einmal so viel zum Besten anderer getan hatte, als dieser arme Landgeistliche, und schämte sich zum ersten Male seines Egoismus.

Hier in dieser ländlichen Hütte sah unser guter Anselm zuerst das wahre häusliche Glück, wonach er so lange vergeblich gestrebt hatte. Er sah es hier aus wechselseitiger herzlicher Zuneigung und aus Wohltun mit vereinigten Kräften entstehen. Hier legte er auch den ersten Grund zur wahren Selbsterkenntnis, indem er fühlte, er habe den echten Lebensgenuß durch eigene Schuld verfehlt und Zerstreuung sei nicht Lebensgenuß. Hier entstand bei ihm der erste deutliche Begriff vom Unterschiede zwischen einer dürren theoretischen und einer fürs menschliche Leben brauchbaren praktischen Philosophie, und er sagte sich nun selbst, er sei bisher ein elender Philosoph gewesen.

Dies war an sich sehr gut; denn seine Torheit zu erkennen, ist der erste Schritt der Weisheit. Aber die lebhafte Einbildungskraft unsers guten dicken Mannes spielte ihm abermal einen schlimmen Streich. Sie trabte, wie gewöhnlich, vor seinem Verstande her und bildete ihm ein, ein kleiner Anfang von Klugheit sei schon die höchste Stufe derselben. Sie bildete ihm ein, den ausbündigen Lebensgenuß, den er vor sich sah, könne er sich auch gar leicht verschaffen, wobei er denn freilich nicht daran dachte, ob er schon die Genügsamkeit und die Seelenruhe besäße, welche den Geist allein zu einem so edlen Genusse fähig machen.

Es ergriff ihn mit einemmale ein ganz enthusiastischer Trieb zum Landleben. Ehrgeiz war nie in ihm gewesen, sondern nur heißes Verlangen nach Lebensgenuß und Lebensglück. Hier, glaubte er, oder nirgend müsse es zu finden sein. Er machte sich abermal einen gar schönen Plan, bei dem sich, seiner Meinung nach, Philosophie, Entäußerung und Genügsamkeit vereinigten. Er wollte nun ein Dorfschulmeister werden, nach der Rochowschen Art. Da er immer Kinder geliebt hatte, so machte er sich die süßesten Ideen von den Vergnügen, junge Herzen bilden zu können. Dabei wiegte er sich mit dem reizenden Gedanken, in den Armen eines edlen Weibes, welche das Weib seines Herzens werden sollte, häusliches Glück im höchsten Maße zu genießen. Diese seine künftige Gattin sollte völlig der schönen Frau Pastorin gleichen, die dem Geiste und dem Körper nach das höchste Ideal erfüllte, das er sich nunmehr von einem vollkommenen Weibe machte. Ganz verließ ihn dabei die gute Meinung von sich selbst nicht, die ihm schon so oft in seinem Leben angenehme Stunden gemacht und so oft irre geleitet hatte. Er schmeichelte sich, wenn er die Schule in diesem Dorfe durch seine Klugheit verbesserte, nicht allein in einem sehr vorteilhaften Lichte zu erscheinen, sondern auch, wenn er einige Landschulen, auf die Art wie er sich vorstellte, zu sehr großer Vollkommenheit werde gebracht haben, die Aufmerksamkeit der Staatsmänner zu erregen; und er weissagte sich in Gedanken, wo nicht eine Revolution in der Erziehungsart der Jugend in ganzen Ländern, doch eine sehr günstige Revolution seines eigenen Zustandes als nächstbevorstehend.

Durch alles dieses aufgemuntert, fing er gleich an, dem Küster in der Schularbeit beizustehen. Da zeigte sich aber bald, ohne daß er selbst es merkte, daß es ihm ganz an Talenten fehlte, die Rekahnsche Lehrmethode, die er für so leicht angesehen hatte, zweckmäßig auszuführen. Er hatte weder Geduld, sich in die Kinder zu schicken, noch die Gabe der Faßlichkeit. Sein zur andern Natur gewordenes lebhaftes Wesen führte ihn immer über den Zweck hinweg, den er erreichen wollte; und es fehlte ihm an der Beurteilungskraft, sich auf das einzuschränken, was sich für Bauernkinder schickt. Anstatt der simpeln und zweckmäßigen Rekahnschen Lehrart fing er an, alle Fratzen anzuwenden, die ihm noch aus dem Philanthropin zu Horbock im Sinne waren. Er lehrte die Bauernjungen, wie er war gelehrt worden, über Stöcke springen; er wollte ihre Aufmerksamkeit durch Spielwerke erregen; er wollte sie durch Ehrbegierde zu bessern Menschen ziehen und brachte in die Schule eine Meritentafel mit gelben Nägeln. Er schwatzte den Bauernkinder viel vor, von Geographie, von Naturlehre und wer weiß, wovon sonst. Kurz, er brachte in vierzehn Tagen die Schule dermaßen in Unordnung, daß der vernünftige Schulmeister, dessen Widerspruch nichts fruchtete, weil Anselm so sehr beredt war, sich sehr darüber betrübte. Aber der Prediger, der nebst andern Gaben die Gabe der Aufrichtigkeit besaß, sagte unserm dicken Manne gerade heraus: Es fehle ihm an aller Geschicklichkeit zu einem guten Landschulmeister. Dies war nun freilich sehr demütigend für einen Menschen, der die Platonische und die Leibnitzische und die Kantische Philosophie vollkommen verstand, und sich, nach reifer Einsicht der Fehler aller dieser Philosophien, ganz kürzlich eine neue erdacht hatte, wovon er gewiß glaubte, sie werde ihn zu allen Dingen, wozu er sich ohnedies schon viel Geschicklichkeit zutraute, noch viel geschickter machen.

Die Bitte des Pastors an ihn, sich ferner nicht mit der Schule zu bemühen, setzte unsern dicken Mann noch in eine andere Verlegenheit. Seine neue Laufbahn war ihm angenehm gewesen, auch hatte er sich, wie schon bemerkt, ganz insgeheim geschmeichelt, durch dieselbe zu gefallen. Da das schöne Geschlecht immer der Polarstern war, wonach er seinen Lauf richtete: so hoffte er, durch das neue Leben, das er in die Schule bringen wollte, den Beifall der anmutsvollen und klugen Frau zu erhalten, die er für den Abdruck aller Vollkommenheiten seines künftigen eigenen lieben Weibes ansah. Er machte sie daher zur Richterin über seine neue Schulerfindung. Aber auch hier ward seine Eitelkeit beschämt. Sie zeigte ihm mit soviel Sanftmut als Nachdrucke: Arbeitsamkeit, Gehorsam und Wohlwollen könnten allein nur das Glück eines jeden Menschen, besonders aber der Bauern befestigen, und die Bildung hierzu müsse der Hauptzweck der Erziehung sein. Sie bewies ihm mit unwiderleglichen Gründen, man mache Bauernkinder unglücklich, wenn man sie Sachen lehre, wodurch sie zerstreut und aus ihrem Stande hinausgeführt würden. Sie setzte lächelnd hinzu: »Nachdem, was Sie mir von Ihrer Lebensgeschichte erzählt haben, scheint es beinahe, es sei Ihnen selbst die Lebhaftigkeit und Zerstreuung, wozu Sie die Bauernkinder anführen wollten, in manchen Vorfällen Ihres Lebens schädlich gewesen. Folgsamkeit und Stetigkeit, welche unser Schulmeister durch seinen Unterricht zu befördern sucht, würden Sie selbst auf eine viel glücklichere Bahn des Lebens geführt haben.« Sie überreichte ihm des Herrn von Rochow Katechismus der gesunden Vernunft und versicherte, als ihre Meinung, er werde aus diesem kleinen Büchlein mehr Wahrheit und gesunde Philosophie lernen, als aus allen Untersuchungen über die Verstandeswelt und Sinnenwelt und über das reine Prinzipium der Moral, womit er sie oft sehr freigebig unterhalten hatte.

Unser dicker Mann fiel nun von seiner Höhe herunter. Er sah abermal: seine vermeinte Philosophie, seine vermeinte Entäußerung möchte wohl selbst noch Prätension sein! Dies konnte er, bei reiferm Nachdenken, sich nicht ganz verbergen, so wenig, als daß er durch den Katechismus der gesunden Vernunft auf einem viel kürzern Wege ein klügerer und verständigerer Mensch hätte werden können, als durch die transzendentalen Prinzipe der Urteilskraft. Er hatte bisher vermeint, nachdem er diese wohl gefaßt hatte, gewiß alle Vorfälle viel richtiger beurteilen und dadurch viel klüger handeln zu können, als diejenigen, welchen so gesegnete Prinzipe nicht gefallen wollten. Er hatte es bisher für Anmaßung dieser unwissenden Klüglinge gehalten, »die Vernunft in dem, worin sie ihr höchste Ehre setzt, durch« – das elende Ding – »die Erfahrung reformieren zu wollen«. Er fing aber an zu merken, es möchten wohl diese neuen Prinzipe praktisch nicht füglich anzuwenden sein, weil der Mensch, außer der reinen Vernunft, noch mit so manchen andern Kräften und Neigungen begabt ist, und weil diese Sinnenwelt leider! immer noch mit Kollisionsfällen angefüllt ist, – selbst seitdem die Kritik der praktischen Vernunft keine Kollisionsfälle mehr zu dulden meinet; oder es müsse zum moralischen Leben nach Prinzipien noch etwas mehr gehören, als bloß die kritische Philosophie theoretisch zu studieren. Dies hatte er getan; und doch fand er, obgleich ungern, daß andere durch bloße gesunde Vernunft richtiger geführt würden und daß er bisher mit aller seiner eingebildeten Weisheit unrichtig geurteilt und töricht gehandelt habe. Nun konnte er den Gedanken nicht ertragen, sich vor Philipp zu zeigen; denn er empfand allzu sehr, daß dieser ohne Theorie und ohne Prätension so vernünftig als konsequent gehandelt hatte und glücklich geworden war. Es kostete seiner Eitelkeit allzuviel, den Vergleich Philipps mit sich selbst zu ertragen. Er ward ganz mißmutig und verlor beinahe alle Energie. Er sah sich als einen verlassenen Menschen an; denn wenn alle seine Gelehrsamkeit ihn nicht einmal zu einem Dorfschulmeister tüchtig machen konnte, so glaubte er, nun zu gar weiter nichts tüchtig zu sein, und wollte verzweifeln.

Aber auch hier sorgte das edle Paar für ihn, das ihn so gastfrei aufgenommen hatte. Der Pastor sagte ihm ganz offenherzig, er müsse nicht bloß Grillen fangen, sondern irgendetwas unternehmen. Man hätte ihm gern geraten, in einem benachbarten Städtchen die medizinische Praxis anzufangen. Dazu war aber sein ganzer Anzug nicht eingerichtet; denn seine Kleidung war abgetragen und geflickt, und er litt an mehrern Dingen Mangel, die man nötig hat, um anständig erscheinen zu können. Man mußte also sein Augenmerk auf einen niedrigem Stand richten. Die Frau des Predigers hatte eine gute Freundin, mit welcher sie zu Solingen in der Näheschule gewesen war, die nachher katholisch geworden und einen Ratsherrn der freien Reichsstadt Köln, einen reichen Mann, geheiratet hatte. Sie schrieb an dieselbe, um sie zu bitten, unsern dicken Mann zu irgendeinem Ämtchen zu empfehlen. Aber da war die Religion im Wege. In der uralten christkatholischen heiligen Stadt Köln sollten eigentlich keine Reformierten oder Lutheraner Luft schöpfen; und die wenigen, denen man es leider! nicht wehren kann, werden sogar dadurch an die bösen Folgen ihrer Ketzerei erinnert, daß sie von jedem Fasse Wein einen Konventionstaler mehr zollen müssen, als die Kinder der alleinseligmachenden Kirche. Der dortige Pöbel hält auch steif darauf, daß kein protestantisches Bethaus eingerichtet werde, sondern stürmt es sogleich und reißt es ein. Aber alle Bemühungen der eifrigen P. P. Jesuiten und Kapuziner haben doch nicht hindern können, daß nicht in den Gemütern einzelner kölnischer katholischer Christen der ziemlich nach Ketzerei riechende Gedanke aufzusteigen anfängt, es könne wohl ein Protestant zu mancherlei weltlichen Geschäften brauchbar, ja zuweilen sogar noch brauchbarer sein als ein rechtgläubiger Katholik.

Nun war eben im Hause des kölnischen Ratsherrn ein kleines Ämtchen vakant. Man brauchte einen Schreiber, welcher bei Gelegenheit, wenn das Haus sich in einigem Glänze zeigen sollte, zugleich den Kammerdiener vorstellte. Der Ratsherr glaubte diese Stelle ohne Gewissensbisse einem Protestanten anvertrauen zu können, wozu freilich das Zureden seiner reformiert gewesenen Frau viel beitrug. Anselm war nicht in den Umständen, diese Versorgung, so gering und niedrig sie auch war, auszuschlagen. Er dankte dem edlen Paare, das ihn so gastfrei aufgenommen und für sein weiteres Fortkommen gesorgt hatte, sowie auch dem redlichen Schulmeister, setzte sich auf ein vorübergehendes Schiff und kam glücklich zu Köln am Rheine im Hause des Ratsherrn Hummer an.


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