Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

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Fünfzehnter Abschnitt

Doktor Anselms dritter Versuch und dessen glückliche Folgen

Nun kam natürlich wieder ein kleiner Stillstand; denn Anselm war wirklich nicht nur noch schüchterner und noch vorsichtiger geworden, sondern seine Philosophie wendete sich auf einen andern Weg. Er fing an zu bedenken, daß der Ehestand gerade nicht der einzige Weg zum Glücke wäre, und beschloß nunmehr, gar nicht zu heiraten. Er sagte sich so manche Gründe dieses Entschlusses vor, daß er ihn für unveränderlich hielt. Indessen, da er täglich Zerstreuung haben mußte, ritt und fuhr er fleißig nach Aachen und heftete seine Augen ferner auf jedes schöne Gesicht in der Meinung, daß er sie doch auf etwas heften müsse. Unvermerkt kamen ihm die Gedanken wieder, daß es doch gut sein würde, eine schöne Frau zu besitzen; aber so sehr er sich umsah, konnte er kein Frauenzimmer finden, welches nebst einem schönen Gesichte auch alle die andern Eigenschaften besaß, die er nun, da er das weibliche Geschlecht näher hatte kennen lernen und gewitzigt worden war, für diejenige Person verlangte, welche die Gefährtin seines Lebens werden sollte.

Anselm hatte einen Universitätsfreund namens Platter, der dort sein guter Kamerad gewesen war, zuweilen bei seinen philosophischen Disputationen, denen Platters lebhafter Witz oft eine andere Wendung gab, aber öfter bei lustigen Gesellschaften, die niemand besser beleben konnte als Platter. Dieser besaß ein sehr mäßiges Vermögen, das er in den Universitätsjahren und im ersten Jahre darauf mit Lustigkeit verzehrt hatte; und da es verzehrt war, hatte er um nichts mehr Neigung zur Traurigkeit oder zum Arbeiten, welches ihm Traurigkeit und noch was Ärgers schien. Nichts hielt er für trübseliger, als ein Amt zu suchen und ein Amt zu verwalten; und da er die Welt schon genug kannte, um zu wissen, daß er in beiden Fällen sich tief bücken und sich nach Anderer Willen richten müsse: so wählte er eine Lebensart, bei welcher er zwar sich nach Anderer Willen zu richten hatte, aber ohne sich tief bücken zu dürfen. Er hing sich an reiche und vornehme lustige Leute und suchte, sich ihnen notwendig zu machen, indem er ihre Unterhaltungen und ihr Vergnügen besorgte. Er war die Seele ihrer Gesellschaften: nahm nichts übel, konnte singen, trinken, jedes Gespräch wieder anheben, welches unter den Schüsseln zu sinken begann, konnte Lustreisen anordnen, Spielpartien zusammenbringen, Spott ertragen, Zweideutigkeiten reden, in moralische Betrachtungen mit einstimmen und im Notfalle, wie es traf, wider die Religion und den Adel reden oder auch Betstunden beiwohnen, immer gefällig, das zu tun, was man wünschte. Es scheint, Personen dieser Art müßten sich viel nach andern richten. Es ist aber in dieser Sinnenwelt wenig Gewißheit; und da Montaigne die Frage aufgeworfen hat, ob nicht vielleicht seine Katze, wenn er mit ihr zu spielen glaube, eigentlich mit ihm spiele, so kann es sich auch wohl treffen, daß die reichen und vornehmen Leute, die sich solche Menschen wie Platter halten, damit sich jemand nach ihnen richten möge, eigentlich sich nach solchen Menschen wie Platter, ohne daß die es merken, richten müssen.

Reisen in die Bäder machten einen wesentlichen Teil von Platters Gewerbe aus. So war er schon seit ein paar Jahren mit reichen kranken Leuten nach Aachen zur Kur gekommen, hatte auch einmal bei Freund Anselm vorgesprochen, wäre auch vielleicht, da er, auf den ersten Wink, an Anselms philosophischen Spekulationen und Disputationen wieder Teil nahm, mit ihm in eine nähere Verbindung gekommen. Aber, wie es denn einige unerklärliche Dinge gibt, Platter hatte eine sonderbare Antipathie gegen Philipp. Es war ihm ängstlich, wenn er den Menschen vor sich sah; und daher kam er nicht weiter in Meister Antons Haus, um so mehr, da er in der Kurzeit eine Menge Gesellschaften hatte und dann bald wieder wegreisete. Da aber, seitdem mit der Zunahme der Industrie der Wohlstand in Deutschland so sehr zugenommen hat, die Kurzeiten, sonderlich in den Bädern, wo hoch gespielt wird, immer früher angehen und später aufhören, so wollte auch Platter schon vorigen Winter in Aachen bleiben, um des vielen Reisens überhoben zu sein. Als ein gesetzter und gefälliger Mensch, hatte er sich dort Umgang in verschiedenen guten und stillen Familien zu verschaffen gewußt, denen er die langen Winterabende kürzer machte und so seine Zeit angenehm verschwinden ließ, bis die Kurzeit wieder herbeikam. Da nun Anselm diesen Herbst über Aachen so oft besuchte, so erneuerte Platter die vorige Bekanntschaft ganz ungezwungener Weise. Anselm, der gern schwatzte, erzählte ihm – freilich nicht alle Unfälle, die er mit zwei Frauenzimmern gehabt hatte. Dazu war er allzu vorsichtig und klug. Er ließ ihn aber doch merken, daß er in manchen Dingen seine Meinung von Frauenzimmern geändert habe, daß sie nicht alle gleich solide dächten und daß er jetzt gar nicht willens wäre zu heiraten; wenn er aber ja heiraten sollte, wolle er keine andere Braut erwählen als eine solche, deren Schönheit durch schale Vorurteile und leichtsinniges Betragen nicht verdunkelt würde. Platter gab ihm in allem Recht; und, immer gefällig gegen seinen Freund, sagte er ihm selbst, aus Erfahrung, vieles vom Unterschiede wohldenkender und nicht wohldenkender Frauenzimmer; und, um ihm ein Beispiel eines Frauenzimmers von jener Art zu geben, machte er ihn mit der Jungfer Angelika L. bekannt.

Sie war die hinterlassene Waise eines Predigers in der Gegend um Krefeld, war fromm und still erzogen und hatte in ihrer Jugend bloß aus den schönen geistlichen Büchern Unterweisung genossen, welche den dortigen Gegenden eigen sind. Sie lebte nach ihres Vaters Tode in dem Hause eines Vaterbruders, eines Kaufmannes in Aachen, der zwar zu den Stillen im Lande gehörte, dabei aber auch in den Geschäften der Welt wohl bewandert war. Er besaß ein großes Haus, welches er zur Kurzeit an Fremde vermietete, wodurch auch Platter bei ihm war bekannt geworden. In dieser Gesellschaft hatte sich die Nichte, ob sie gleich eingezogen lebte, zum Tone des feinern Umganges gebildet und mehrere Weltkenntnis erlangt. Sie war sehr schön, von sanfter einnehmender Gemütsart, sehr sittsam in ihrem ganzen Wesen, zuweilen etwas kränklich, wenn sie gesund war, sehr heiter, unterhaltend und gegen jedermann von zuvorkommender Gefälligkeit. Diese reizende Schöne zog Anselms Aufmerksamkeit auf sich. Ihre vortrefflichen Eigenschaften machten bald einen andern Menschen aus ihm. Seine Abneigung gegen das Heiraten, die er für so fest hielt, daß er oft mit Philipp gezankt hatte, der sie für eine vorübergehende Laune halten wollte, verschwand vor den schönen Augen der Jungfer Angelika wie Eis vor der Frühlingssonne, und unser dicker Mann war in wenig Wochen wieder förmlich verliebt, und zwar in Jungfer Angelika.

Sie war ziemlich leselustig; sonderlich alles, was sanfte, empfindsame, menschenliebende, mitleidige Gesinnungen atmete, rührte sie ungemein. Aber alles Moralische hatte vorzüglich ihren Beifall, und sie konnte sich darüber stundenlang unterhalten. Dies verschaffte unserm Anselm die beste Gelegenheit, sehr oft bei ihr zu sein; denn er brachte ihr Bücher und las in ihrer Gesellschaft, wobei Platter, der schon vorher im Hause bekannt war, zuweilen den dritten Mann ausmachte und durch seine gelegentlichen Bemerkungen zeigte, daß, wenn er gleich im Sommer meist in munterer Gesellschaft sehr zerstreut lebte, er dennoch, wenigstens im Winter und Herbste, auch in stillen Gesellschaften kein unangenehmer Gefährte war. Man kann wohl denken, daß Anselm der Jungfer Angelika manche empfindsamen Romane werde gebracht haben, welches ihm die trefflichste Gelegenheit gab, seine aufkeimende Liebe zu ihr bis zur schönsten Blüte zu bringen. Dabei war diese empfindsame Seele nicht so ausschließend für das Geistige, daß sie nicht, obgleich auf sittsame Art, gern ihren Körper geschmückt hätte. Dies gab dem verliebten Anselm Gelegenheit, sich in Geschenken gegen sie galant zu beweisen; und wenn sie sich damit zierte, so vermehrte sich seine Liebe noch mehr, denn er freute sich, daß sie seine Geschenke schätzte und daß sie schöner dadurch ward.

Kurz, Jungfer Angelika gewann unsers dicken Mannes Herz täglich mehr, er täglich mehr das ihrige. Diese süßen wechselseitigen Gefühle machten in ihm die Überzeugung sehr lebhaft, er werde mit dieser schönen empfindsamen, edlen Seele das so lange gesuchte Glück seines Lebens finden. Daher ging seine Liebe so schnell, daß er sich nicht einmal Zeit nahm, so wie sonst, seinen Freund Philipp, selbst nach schon festgefaßter Entschließung, um Rat zu fragen; zudem hatte er mit seinem Freunde Platter schon so manches über die herrlichen Eigenschaften der Jungfer Angelika abgesprochen. Dieser warme Freund stimmte in das verdiente Lob der Schönen ein und gestand gern, derjenige werde sehr glücklich sein, der eine so vollkommene Person zur Gefährtin seines Lebens erhalten könne.

Eines Tages begleitete Platter seinen Freund Anselm zur Jungfer Angelika. Die Rede kam auf Rousseaus neue Heloise. Anselm hatte, seitdem er die schöne Angelika kannte, sich aufs Vorlesen gelegt und ward noch etwas eifriger darin, als er zu bemerken anfing, er besitze Talent zur Deklamation. Er las ein paar Briefe Rousseaus vor, worin die heiße Flamme der Leidenschaft in schönen Worten lodert. Er las umso lebhafter, da seine eigene heiße Liebe zu ihr ihn anspornte. Jungfer Angelika ließ auch dem Feuer der Empfindungen und der Kunst des Schriftstellers alle Gerechtigkeit widerfahren, nur zeigte sie das Unanständige in der Schilderung der unerlaubten Liebe Juliens und St. Preux. Sie sagte hierbei so viel schöne Sachen, die das edelste Feuer, Teilnehmung an Tugend, Enthaltsamkeit, Mäßigung und wahrem häuslichen Glücke verrieten, daß der gute Platter höchst unzufrieden war, als er wegen eines unvermuteten dringenden Geschäfts abgerufen ward. Anselm aber setzte voll Entzücken das Gespräch fort. Sein gutes Herz ward durch die Äußerung ihrer ungezwungenen einfließenden schönen Gesinnungen, gleich einer gleichgestimmten Saite, zitternd bewegt. Er brach in das Lob ihrer edlen Seele aus und war so gerührt, daß beinahe unwillkürlich das Wort ihm entfloß: Er werde sich unbeschreiblich glücklich schätzen, wenn sie auf immer die Seinige werden wollte! Fast erschrak er selbst, indem dieser Wunsch seines Herzens über seine Lippen ging; denn es kamen ihm natürlich seine zwei betrübten Erfahrungen abschlägiger Antworten in eben dem Augenblicke zu Sinne. Aber jetzt war er glücklicher. Die schöne Angelika sagte mit holdem Liebreize, sanft errötend: Ihr Herz sei längst dem seinigen näher gekommen; – und was sie noch mehr sagte, kann der geneigte Leser oder Leserin nach Gefallen sich weiter hinzudenken. Nur, fügte sie nach einer kleinen Pause, in der die entzückten Danksagungen des glücklichen Anselms ihr Zeit ließen, zu Worte zu kommen, ernsthaft hinzu, sie hinge nicht von sich ab; sie ersuche ihn also, mit ihrem Oheime und übrigen Verwandten deshalb zu sprechen.

Dies geschah. Der Oheim und die Verwandten gaben ihre Einwilligung als gute Wirte. Denn Jungfer Angelika war freilich reich an Schönheit und Empfindsamkeit, besonders aber an Ausdrücken der Moralität, des Edelmuts und der Wohltätigkeit, wovon ihr Mund beständig überfloß, aber mit Glücksgütern war sie ganz und gar nicht versehen; hingegen Doktor Anselm galt für sehr reich. Sie ließen also allerseits die ihrer Meinung nach günstige Gelegenheit keineswegs fahren, sich einer Person zu entledigen, von welcher ihre ökonomische Weisheit die Möglichkeit voraussah, sie könne ihnen einmal zur Last werden.

Die Heirat ward einige Wochen nachher in den schönen Tagen des Mais, des Wonnemonds, da sich die ganze Natur zur Liebe neigt, vollzogen; und der Himmel hing, wie man bei jungen Ehepaaren zu sagen pflegt, voll Geigen.


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