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Unser dicker Mann faßte nun den ernsthaftesten Entschluß, weise zu sein. Ohne diesen Entschluß kann niemand wirklich glücklich leben; aber bloß durch denselben wird man auch weder weise noch glücklich, wie unter andern die Geschichte unsers Helden zeigt. Dies glaubte er jetzt selbst einzusehen und beschloß, seine Maßregeln danach zu nehmen.
Er erzählte sich unparteiisch alle seine Torheiten vor und erkannte sie für große Torheiten. Sich selbst so strenge richten, ist sehr löblich und der erste Weg zur Besserung. Aber bei dieser Strenge ists gut, noch das Mißtrauen gegen sich zu haben, daß man vermute, man habe bis jetzt noch lange nicht alles Törichte erschöpft. Unser guter dicker Mann glaubte, wenn er sich nur recht hüte, ferner keine von seinen vorigen Unbesonnenheiten zu begehen, gewiß ganz weise sein zu können. Daß es noch andere verkehrte Dinge gebe, als die, deren er sich schuldig wußte, schien ihm nicht erheblich zu sein, weil er nicht daran dachte, in sie fallen zu können. Auch war ihm, trotz der strengen Musterung seines vergangenen Lebens, eine Hauptfalte seiner Gemütsart entgangen, die ihn in manche Übel gestürzt hatte. Dies war die leichte Beweglichkeit seines Charakters, welche ihn geschwind an Personen und Geschäfte ankettete, die er hätte vermeiden sollen, und die ihm seine Hauptgeschäfte leicht überdrüssig machte, ob er sie gleich mit Eifer anfing, welches wieder in seiner Neigung zur Gemächlichkeit lag, der er von Jugend auf allzu viel nachgegeben hatte. Diese Eigenschaft, mit seiner lebhaften Einbildungskraft gepaart, ließ ihn beständig den nächsten Eindrücken folgen und dadurch unvermerkt von dem guten Wege, den er betreten wollte, abkommen.
Anselms medizinische Praxis in Düsseldorf fing gleich in den ersten Monaten an, guten Fortgang zu gewinnen. Man hatte Vertrauen zu ihm, und ihm gelangen verschiedene wichtige Kuren. Er begann, Zufriedenheit zu fühlen und Hoffnung, er könne noch glücklich werden. Jetzt suchte er seinen vorigen Plan wieder hervor, einzeln zu leben und lieber nach den Frauenzimmern gar nicht zu sehen. Er gab sich selbst dazu eine sentimentale Ursache: nämlich, nun er Sophien nicht haben könne, wolle er gar nicht heiraten. Auch war allerdings die ausbündigste Hochachtung gegen Frau Sophien in seinem Herzen, nebst der aufrichtigsten Betrübnis, daß er Ursache gewesen, sie mit einem Manne gepaart zu sehen, mit dem sie nie glücklich werden konnte. Aber auf seinen Entschluß hatte, ihm unbemerkt, seine Neigung, ungebunden zu leben und so viel zu genießen, als er nur konnte, den größten Einfluß. Er hatte beiläufig die ökonomische Bemerkung gemacht, eine Frau koste viel Geld; und das dachte unser weiser dicker Mann lieber auf sein eigenes Vergnügen zu wenden.
So sehr er sich aber auch vornahm, Vergnügen zu empfinden, fühlte er doch beständig ein gewisses Leere. Er fand keine Familien, die ihm gefielen, eigentlich, weil das Familienleben seiner Laune nicht behagte; er suchte sich also einen füglichen Grund, öffentliche Örter zu besuchen. Gründe, das zu tun, was man wünscht, findet man immer. Anselm liebte, so zu leben wie ihm gut dünkte, und hatte gar keine Neigung, in Gesellschaften dem Zwange zu folgen, welchen Wohlstand und Konvenienz auflegen. Daher gefielen ihm Gelage in öffentlichen Häusern, wo niemand zu Hause ist und keiner vor dem andern aufstehen darf. Er suchte sich aber zu bereden, daß er hierbei nach andern Gründen handle. Er sagte zu sich selbst: wenn seine Praxis zunehmen solle, müsse er Bekanntschaften machen, und die ließen sich, wie er meinte, am besten in Kaffeehäusern und Weinschenken finden; ferner beredete er sich, an diesen Örtern könne seine Kenntnis der Menschen vermehrt werden. Er hatte nun aller theoretischen Philosophie, kritisch oder nicht kritisch, Abschied gegeben, weil er sie für Ursache hielt, daß er oft so unweise gehandelt hatte, welches ihm wieder ein Trost war, indem er nun auf die spekulative Philosophie, der er entsagen wollte, das schob, woran eigentlich seine Sinnlichkeit schuld war, die er noch beizubehalten dachte. So vermeinte er dann nun, die Menschen in allen Lagen kennen lernen zu müssen, sie zu beobachten und über alles seine Betrachtungen anzustellen, und bildete sich wirklich ein, praktische Philosophie zu zeigen, weil er täglich in Kaffeehäusern und Weinschenken anzutreffen war.
In den sehr vermischten Gesellschaften dieser Häuser lernte unser dicker Mann freilich gar mancherlei Leute kennen, aber keine, die des Beobachtens wert gewesen wären. Müßiggänger sah er ihre Zeit töten. Tabakrauchen und Trinken, indolentes Hinblicken über einen Haufen gleichgültiger Leute, Zeitungslesen und Spiel ist alles, was man in solchen Häusern antrifft. Diese Zusammenkünfte werden sehr uneigentlich Gesellschaften genannt. Die Engländer unterscheiden in ihrer Sprache zwischen Company und Society:Company und Society – Colman sagt vom Hofleben, desgleichen von vornehmen Herren und ihren Assembleen: The System of Life now establish'd in the polite world, seems calculated to destroy Society, for the fake of Company (Anm. Nicolais). ein ebenso feiner als richtiger Unterschied, den die in vieler andern Rücksicht so reiche, aber zur Sprache des Umgangs lange nicht genug ausgebildete deutsche Sprache noch nicht aufgenommen hat. Der Zulauf an öffentlichen Örtern ist ein Haufen Leute, die Gemeinschaft mit einander haben; aber Gesellschaft machen sie nicht aus, so wenig, als ein Zimmer voll unbedeutender Bildnisse ein Gemälde, das auf Geist und Herz wirkt.
Auch fand sich Anselm, nachdem er ein paar Monate diese Örter besucht hatte, daselbst so einsam wie zu Hause; oft saß er da mit starrem Blicke und staunend, als ob er Drahtpuppen sich bewegen sähe. Nirgend war Genuß, allenthalben toter Zeitverderb ohne Frohsinn. Unter diesen lebendigen Maschinen interessierten ihn bei seiner Langeweile die Spieler noch am längsten; denn obgleich die Hazardspiele im Herzogtume Berg verboten sind, ward doch nicht streng über das Gesetz gehalten. Da er selbst keine Neigung zum Spiele hatte, so konnte er nicht begreifen, wie jemand täglich die Zeit mit einem solchen Unvergnügen verderben und noch dazu seinen Wohlstand und folglich sein wahres Vergnügen aufs Spiel setzen könne. Die tote Gleichgültigkeit der Spieler von Profession und die schrecklichen Leidenschaften der Neulinge, die wilde eigennützige Freude, wenn sie gewinnen, und die tobende Wut, wenn sie verlieren, schien ihm gleich hassenswürdig. Er machte darüber ganz feine philosophische Betrachtungen, wie es denn sehr leicht ist, über die Torheiten zu philosophieren, welche man nicht begehen mag. Vielleicht war es wegen der Leichtigkeit dieser Betrachtungen, daß er ihrer bald überdrüssig ward. Seine tägliche Langeweile mischte sich in seine Philosophie sowie in das Vergnügen, das er an öffentlichen Orten zu finden dachte und nicht fand. Er wünschte sich, wenn er da war, zu Hause; wenn er zu Hause war, aufs Kaffeehaus. Nirgend war er an seinem rechten Orte; denn ob er gleich ausging, um durch Zerstreuung seine Grillen zu vertreiben und sich zu vergnügen, so fand er doch nirgend ein Vergnügen und Ruhe, die er im Innern seines Geistes, in täglicher nützlicher Geschäftigkeit und im Wohltun hätte suchen sollen. Bei den Leuten, welche Abneigung von nützlicher Beschäftigung fühlen und daher ihre Zeit nicht hinzubringen wissen, sind die Ursachen, sich zerstreuen zu müssen, wie an Höfen die Ursachen, das Geschütz zu lösen. Freude und Leid wird dadurch auf gleiche Art angekündigt; ja es gibt hohe und weniger hohe Häupter, welche die Kanonen lösen lassen, bloß um Lärm zu machen und die Langeweile zu zerstreuen, welche dennoch gleich einer neblichten Luft gewöhnlich um die Schlösser der Großen schwebt. Ebenso suchen auch manche jovialische Menschen für die Zerstreuung und täglichen Vergnügen, die sie beständig haben müssen, wichtige philosophische Ursachen anzuführen, da doch die wahre Ursache nur ist, daß sie das echte und daurende Vergnügen nicht kennen, das aus nützlicher Beschäftigung entsteht, und daher auch mitten in allen ihren Zerstreuungen beständig von der Langeweile wie von einem dicken Nebel umgeben werden und gähnen müssen, wo sie froh sein wollten.
In einer solchen Gemütsstimmung ging Anselm einst ins Weinhaus, weil er eben gar nicht wußte, wo er bleiben sollte. Da fand er einen alten Universitätsbekannten, einen gewissen Hiffer. Dieser war in Göttingen nicht in philosophischen Disputen, wie Herr von Reitheim, sondern wo es lustig herging sein öfterer Gesellschafter gewesen. Jetzt war er Advokat oder Prokurator in Köln und hatte eine Reise nach Düsseldorf getan, um daselbst einen Vergleich wegen eines wichtigen Prozesses, der beim Reichskammergerichte schwebte, zu betreiben. Vergleiche zu machen, gehörte sonst nicht zum Gewerbe des Prokurators Hiffer; denn er fand eben nicht seinen Vorteil dabei, wenn gerichtliche Streitsachen zu Ende gingen.
Jetzt aber war es ein außerordentlicher Fall; er hatte seinem Klienten geraten, den Gegenteil durch einen Vergleich geschwind zu überlisten, nachdem er durch einen Nachfolger des berühmten Juden Nathan Wetzlar sicher erfahren hatte, es stehe nicht zu ändern, daß der Gegenteil eine günstige Sentenz bekomme. Hiffer gehörte eigentlich nicht unter die Anzahl der von der Obrigkeit bestellten Advokaten oder Prokuratoren, sondern er hatte sich zu beidem selbst bestellt und fand sehr seine Rechnung dabei, daß er manches in der Stille und durch andere ohne Verantwortung tun konnte, was die bestellten Advokaten wohl unterlassen mußten. Er war einer von den Leuten, welche in den Prozessen wühlen, einen Prozeß zu erregen wissen, wo keiner möglich schien, und aus einem möglichen drei wirkliche machen. Er war sehr betriebsam und eben nicht gewissenhaft; daher kamen verwirrte und nicht ganz richtige Sachen am meisten in seine Hände, und er befaßte sich auch am liebsten damit, vorzüglich, wenn er dabei viel zu verdienen schien. Da war er der erste Mann in der Welt, einer Sache eine Gestalt zu geben, die der Gegenteil sich nie hätte träumen lassen. Er gehörte zu der Art von Advokaten, die den Zahnärzten gleichen, deren Zähne am meisten zu kauen haben, wenn vielen andern Leuten die Zähne wehe tun. Also dachte er auch wenig daran, ob Witwen oder Waisen etwas verlören, wenn er eine Sache verdrehen konnte zum Besten eines reichen Mannes, der ihn gut bezahlte. Übrigens konnte er jedermann nach dem Munde reden, war in allen Gesellschaften lustig und unterhaltend und nahm es daher auch über sich, die ziemlich düstere Laune unsers guten dicken Mannes in etwas aufzuhellen. Er erzählte ihm viel von Köln, von den Veränderungen des Bureau d'Esprit der Frau Hummer, das er nach seiner Art lächerlich machte, auch vielerlei von Sophien und ihrem Manne, den er genau kannte, weil er ihm in einigen Rechtssachen bedient gewesen war und manches Maß Wein mit ihm ausgetrunken hatte. Er erzählte, daß derselbe aus Freude, seinen Vetter Anselm los zu sein, noch denselben Abend sich einen derben Rausch getrunken habe, welcher bald schlimme Folgen gehabt hätte; denn er hatte ihm, mit der Erhitzung der Reise zusammen, ein hitziges Fieber zugezogen. »Aber Unkraut vergeht nicht«, setzte Hiffer lachend hinzu, »er ist wieder gesund geworden und plagt seine Frau derber als jemals.«
Diese letzte Nachricht tat eine ganz widrige Wirkung auf unsern Anselm. Vergebens suchte Hiffer, hundert andere lustige Geschichten zu erzählen. Sophiens Lage verbitterte unserm dicken Manne alle Freude.
Hiffer, der die Geschichte nicht ohne Ursache erzählt hatte, fragte ihn, warum er das so zu Herzen nähme, und wußte durch mancherlei Umschweife, von Anselm seine vormaligen Familienumstände und die ganze Geschichte seiner Liebe zu Frau Sophien herauszuholen. Anselm hatte eine schwermütige Freude, seinen Kummer mitzuteilen und seine Reue, Sophiens Unglück veranlaßt zu haben, auch gegen Hiffer zu zeigen. Er erzählte sogar, wie standhaft die edle Frau ihre traurige Lage ertrage, und zeigte das Bildnis, womit sie ihn beschenkt hatte. Hiffer ließ zwar manches Hm! und Ha! hören, gab ihm aber in allem recht, lobte ihn und Sophien und schimpfte auf den Mann. Dies heiterte unsern Anselm etwas auf, und sie schieden als die besten Freunde von einander. Ob Hiffer bei diesen Erkundigungen irgendeine besondere Absicht gehabt, wird sich vielleicht künftig zeigen. Jetzt diente er noch unserm Helden, ihm zu verschiedenen Bekanntschaften zu verhelfen in Häusern, wo ihn seine gerichtlichen Geschäfte bekannt gemacht hatten. In allen ward gespielt. Hiffer selbst liebte das Spiel und verteidigte es gegen Anselm: nicht die Torheit, sein Vermögen auf eine Karte zu setzen, sondern ein mäßiges Spiel als einen Zeitvertreib und als ein Mittel, in den Gesellschaften nicht überflüssig zu sein, wo, dem allgemeinen Gebrauche zufolge, gespielt wird. Da unser Anselm aber gegen das Spiel einen allzu entschiedenen Widerwillen hatte, so suchte er lieber andere Bekanntschaften, und es gefielen ihm allenfalls diejenigen besser, wo Spazierfahrten und Konzerte das Hauptvergnügen waren.
Der Gesellschaften in Wirtshäusern und Weinhäusern überdrüssig, ohne sie verlassen zu wollen, fiel unser dicker Mann jetzt auf die Musik. Den Geschmack daran zu unterhalten sind eine Menge herumreisender, besonders italienischer und französischer, Virtuosen beflissen, welche, wie ehemals manche alten Heiligen und Bischöfe den Glauben, ihre Töne fortpflanzen und dafür, so wie jene, die Taler der Zuhörer einstecken.
In diesem Geschäfte kam auch damals nach Düsseldorf die Signora Bellonia nebst ihrem Bruder, dem Signor Bellonio, der aber kein Sänger, sondern bloß Fratello di Musica war, eine berühmte Cantatrice, welche auf den Theatern in London und dem Haag und wer weiß auf welchen andern in den Opere buffe die Rollen di Mezzo carattere wollte gesungen haben und sich auf ihrer Durchreise nach den Höfen zu Stockholm und Petersburg, wohin sie versicherte berufen zu sein, auf dringendes Verlangen vieler Kenner der Musik hatte bewegen lassen, einige Konzerte zu geben, so wie schon in der letzten Saison in den Bädern zu Spaa und zu Aachen.
Signora Bellonia war nicht mehr in ihrer ersten Jugend, aber sie war gut gewachsen, hatte ein niedliches Gesichtchen, welches sie durch Hilfe einiger Pomaden und Pulver zu einem recht allerliebsten Lärvchen umschuf. Dabei war sie artig, gefällig, unterhaltend und konnte französisch nach italienischer Aussprache ziemlich fertig plaudern. Was ihr Singen betraf, so war es kaum del mezzo; sie war, wie der Italiener zu sagen pflegt, »eine schöne, obgleich nicht eine gute Sängerin«. Das ward aber durch ihre angenehmen Manieren reichlich ersetzt. Zudem gehörte sie nicht zu den armen Sängerinnen, die um ein Konzert betteln, damit sie Reisegeld haben. Sie wohnte in einer zierlichen Chambre garnie und hatte oft große Abendgesellschaften bei sich. Freilich ward vorausgesetzt, daß jeder Gast ein paar bayerische Taler unter das Kuvert legte, vermutlich nur für den Cameriere der Signora. Dafür aß man aber auch vortrefflich und ward mit den herrlichsten Weinen bedient. Beim Spiele gab man auch einen bayerischen Taler Kartengeld für ein Konversationsspiel, und zuweilen machte der Signor Fratello eine kleine Bank. Doch war niemand zum Spiele genötigt. Die Signora selbst liebte das Spiel nicht und saß aufs höchste bei der Bank als Zuschauerin, wenn keine andere Unterhaltung war. Sobald sich aber ein Zirkel zur Konversation bildete, zog sie denselben vor, und da erschien sie als eine zehnte Muse, denn sie sprach nicht allein mit höchster Anmut von allen schönen Künsten, sondern sie war auch eine Improvisatrice und pflegte, auf einen oder den andern aus der Gesellschaft sehr artige Stanzen zu machen oder sonst in Reimen oder in Prosa jedem etwas Angenehmes zu sagen. Anselm gab auf die Signora Bellonia, ungeachtet sie ihm gefallen hatte, weiter nicht sehr acht; denn er hatte sich einmal vorgenommen, Frauenzimmer zu meiden. Seine Gedanken waren von Frau Sophien und ihren unglücklichen Tagen erfüllt. Er dachte darüber oft mit Wehmut nach, und wann er, wider seinen Entschluß, zuweilen in ein Weinhaus ging, so meinte er, es geschähe nur, weil ihm seine eigene Wohnung allzu leer wäre, indem er Sophien darin nicht erblickte, und weil er sich zu zerstreuen suchte. Die Zerstreuung war immer von Jugend auf sein Hauptmittel gegen trübe Gedanken gewesen, die ihm gleich kamen, wenn es nicht nach seinem Sinne ging oder wenn er nicht wußte, was er wollte. Doch hatte Anselm, der soviel Bemerkungen machte, noch nicht ein einziges Mal eine sehr heilsame gemacht, nämlich: daß Zerstreuung sehr oft ein schlimmeres Mittel ist, als das Übel selbst, daß sie wenigstens nie das Übel wirklich hebt und daß derjenige, der durchaus nie trübe Gedanken bei sich dulden will, wenn sie auch eine rechtmäßige Ursache haben, nie ernsthafte Gedanken bei sich wird wollen aufkommen lassen, die ihn moralisch verbessern könnten.
Das Schicksal wollte indes, daß unser dicker Mann mit der Signora Bellonia näher bekannt ward. Es stieß dieser Virtuosin eine kleine Unpäßlichkeit zu, und sie ließ den Dr. Redlich holen. Sie empfing ihn in einem eleganten Morgennegligeé. Ihre Krankheit war nicht gefährlich, aber die Schwächlichkeit gab ihr einen besondern, schmachtenden Reiz. Die Arzneien taten gute Wirkung, eben so sehr aber schien die Unterhaltung des Arztes zu wirken; daher sie bei jedem Besuche ihn ins Gespräch brachte, zugleich ihm aber auch die niedlichsten Arietten vorsang und ihn nachher so angenehm unterhielt, daß er bedauert haben würde, ihre Genesung beschleunigt zu haben, wenn ihm nicht erlaubt gewesen wäre, auch nachher seine Besuche fortzusetzen.
Der Umgang mit dieser unterhaltenden Person hatte für ihn sehr viel Anziehendes, so daß er, der schon seit ein paar Monaten sowohl zu Hause als in den Kaffeehäusern immer Langeweile empfunden hatte, den glücklichen Zufall nutzte, in jeder Woche einige Abende in diesem Hause zuzubringen. Man wird schon bemerkt haben, daß unser dicker Mann Zunder im Herzen hatte, welcher an schönen Augen leicht Feuer fing. Er konnte also, so sehr er auch immer Frau Sophien vor Augen behielt, nicht lange in die liebreizenden Augen der schönen Italienerin ganz ungestraft sehen. Aber nicht nur diese, sondern auch ihre lieblichen Arietten und angenehmen Gespräche gewannen sein Herz. Wenigstens beredete er sich dieses, obgleich die Augen vielleicht doch einen größeren Anteil an seinem Wohlgefallen hatten als Gesang und Gespräch. Er besuchte sie nunmehr auch vormittags bei ihrem Nachttische und war wohl vierzehn Tage lang ihr täglicher Abendgesellschafter. Er fing auch an, ihr Geschenke zu machen, wie dieses bei Virtuosinnen üblich ist. Sie nahm sie auf eine verbindliche Art an und erwiderte sie allemal mit Gegengeschenken: Kleinigkeiten, die nicht sowohl durch den innern Wert, als durch die gar angenehme Weise, sie zu geben, schätzbar wurden.
Endlich fügte es sich einmal an einem Abende, daß nur eine kleine Gesellschaft gegenwärtig war. Desto munterer und vertraulicher ward die Unterhaltung bei Tische, und die Flasche ging frisch herum. Unsern dicken Mann bezauberte die frohe und angenehme Laune der Signora Bellonia. Ihn dünkte, er sei im Himmel. Er sprach noch mehr mit den Augen als mit dem Munde; und er fing aus den Blicken der Schönen ein Feuer, welches durch Wein nicht konnte gelöscht werden, ob dieser gleich nicht gespart ward. Nach Tische war die Gesellschaft zu klein zur Konversation. Man machte eine kleine Bank. Anselm hatte am Spielen keinen Gefallen, die Signora auch nicht. Indessen schlug sie vor, weil es doch einmal gespielt sein solle, wollten sie beide in Gesellschaft ihr Glück versuchen. Eine solche Spielgesellschafterin konnte nicht ausgeschlagen werden. Sie setzten eine gemeinschaftliche Kasse auf den Tisch. Sie pointierte für beide, aber verlor, vermutlich, weil sie das Spiel nicht verstand. Aber wie denn Frauenzimmer zuweilen ihren kleinen Eigensinn haben; sie wollte das Geld durchaus wiedergewinnen, weil es ihrem caro Anselminuccio gehörte, wie sie sich ausdrückte, indem sie ihm die runden Backen klopfte. Sie verdoppelte; sie setzte viel Geld und verlor. »Ich merke«, sagte sie lächelnd, »wer in der Liebe glücklich ist, ist unglücklich im Spiele«, und sah zärtlich über die linke Achsel nach imxm Anselmino. Doch wollte sie das Geld wiederhaben und setzte höher. Nun kam sie ins Glück. Sie hielt das Blatt bis zum Sept-Leva. Das Blatt kam links heraus, und alles war wieder verloren. Jetzt stand sie auf und setzte unsern dicken Mann an ihre Stelle. Derselbe glühte vor Eifer, die beträchtliche Summe wieder zu erobern. Das Spiel dauerte bis früh um drei Uhr, da er und seine schöne Gesellschafterin alles, was sie bei sich hatten, und beinahe 8000 Konventionstaler auf Kredit verloren hatten und der Bankier, welches diesmal nicht der Bruder, sondern ein anderer Mann war, nicht mehr halten wollte. Anselm kam wie aus einem Todesschlummer zu sich und sah mit Verwunderung, daß fünf bis sechs handfeste Leute um den Tisch standen; was ihn aber am mehrsten befremdete, war, Plattern, seinen ehemaligen Schuldner, hinter dem Bankier stehen zu sehen, dessen Kroupier er zu sein schien.
Nun erfuhr er erst, es sei in diesem ehrbaren Hause Sitte, über dasjenige, was auf Kredit verloren worden, sogleich einen Wechsel aufzusetzen, in drei Tagen fällig. Dies tat jeder anwesende Schuldner; und auch die schöne Sängerin, ihr Unglück verwünschend, stellte einen aus über ihren Anteil des Verlusts auf 3980 Konventionstaler. Anselm mußte also das Nämliche tun. Er ging voll Verzweiflung nach Hause. Er konnte nicht schlafen. Er konsultierte seinen Freund Hiffer als einen Rechtsgelehrten. Der machte ihm aber derbe Vorwürfe, daß er seine Philosophie so schlecht beobachtete, die alles Spiel, auch die kleinsten Konversationsspiele, hatte für verdammlich erklären wollen. Er begegnete ihm mit grausamem Spotte und sagte: Man sehe wohl, die sogenannte Virtuosin sei eine Intrigante, die dem sogenannten Bruder nur zum Lockvogel seines Spiels diene, Dummköpfe zu fangen. – Sogenannter Bruder! – Das war Anselm zu hart; denn er hatte noch während seines schlaflosen Morgens die schöne und witzige Signora für ein ehrliches Blut gehalten und sie beklagt, daß sie mit ihm so viel verloren habe. Er ging hin, sie zu besuchen, ward aber nicht angenommen. Nachmittags kam der Bankier mit Heftigkeit zu ihm sagend: Die Signora mit ihrem sogenannten Bruder sei heimlich abgereiset, ohne ihn zu bezahlen; und er gab deutlich zu verstehen, wie er hoffe, Anselm werde es wenigstens nicht ebenso machen. Anselm fand bei keinem seiner Kaffeehausfreunde Trost, noch weniger Hilfe; sie lachten ihn vielmehr aus, daß er sich durch so grobe List habe fangen lassen. Er mußte zu Wucherern Zuflucht nehmen, verpfändete, was er hatte, und befriedigte den Gauner.
Nun aber war er in den bedrängtesten Umständen; denn ihm blieb weniger als nichts. Seine Ehre und sein Einkommen waren verschwunden; er merkte nach wenigen Wochen, daß er das Gespräch der ganzen Stadt war und daß der Vorfall, der mit vielen Zusätzen und falschen Umständen erzählt ward, die meisten Häuser, in denen er Arzt gewesen war, von ihm abwendig machte. Seine Einnahme nahm sichtlich ab. Die Gläubiger und Wucherer drängten ihn und drohten mit Gefängnis. Er war genötigt, seine Möbel zu verkaufen; denn er hatte nicht unterlassen, hier auch sich mit Mahagony-Sekretären und Tischen, desgleichen mit weichen Ottomanen und bunten Fußdecken zu versehen. Ja er mußte sogar seine Kleider verkaufen und versetzen, um nur zu leben. Er kam endlich so weit, daß er nicht den Unterhalt eines Tages mehr hatte. Nichts blieb ihm übrig, und er hatte noch verschiedene kleine Schulden, die er schlechterdings nicht bezahlen konnte und doch täglich darum gemahnt ward.