Wilhelm von Polenz
Der Büttnerbauer
Wilhelm von Polenz

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XII.

Die von Edmund Schmeiß versprochenen Dünge- und Kraftfuttermittel trafen in einem großen Brettwagen auf dem Büttnerschen Gehöfte ein. Der Fuhrmann übergab einen Lieferschein, der am Kopfe die Firma: Samuel Harrassowitz trug. Der Büttnerbauer begriff nicht, was das heißen solle. Er hatte doch mit Edmund Schmeiß gehandelt und nicht mit Harrassowitz. Der Kutscher, den der Bauer darüber ausfragen wollte, wußte auch keinen Bescheid zu geben. Er sei von der Firma S. Harrassowitz beauftragt, seine Fracht hier abzuladen. Es waren Säcke mit Chilisalpeter und Knochenmehl, und ein Haufen Erdnußkuchen. Der Fuhrmann ließ sich Empfangnahme vom Bauern quittieren, und übergab dann einen Brief. Darin bekannte Samuel Harrassowitz, Bezahlung für gelieferte Dünge- und Kraftfuttermittel durch ein von Herrn Edmund Schmeiß an seine Ordre remittiertes Accept des Bauerngutsbesitzers Traugott Büttner in Halbenau empfangen zu haben.

Der Büttnerbauer stand ratlos vor dem Papiere. Was bedeutete nun das wieder! Wieviel schuldete er nun eigentlich und für was? Und wessen Schuldner war er?

Der künstliche Dünger wurde vom Wagen genommen und in einer Ecke des Schuppens untergebracht. Der alte Bauer empfand nichts als Verachtung diesen Säcken gegenüber mit ihrem salzartigen Inhalte. Was sollte dieses Zeug seinen Feldern nützen! Das war ja auch nur so neumodischer Unsinn. Wie konnten einige Handvoll solchen Pulvers ein Fuder Mist ersetzen, wie neuerdings gelehrte Leute aus der Stadt behaupteten. Mit Ingrimm betrachtete er sich diese Säcke, in denen sein gutes Geld steckte.

Gustav dachte anders darüber, als der Vater. Er war während seiner Dienstzeit in vorgeschrittnere Wirtschaften gekommen, als die väterliche war, und hatte die Vorzüge der künstlichen Düngung mit eigenen Augen wahrgenommen. Er wußte auch, zu welcher Jahreszeit und auf welche Böden man die verschiedenen Düngerarten anzuwenden hatte. Der Vater überließ es ihm, mit dem »Zeugs« anzufangen, was er wollte. Über dreißig Jahre hatte er gewirtschaftet, ohne dergleichen. Er war zu alt, um darin noch umzulernen.

Auch in anderer Beziehung machte sich Gustavs Einfluß geltend. Die Kartoffelernte hatte inzwischen ihren Anfang genommen. Der Büttnerbauer wollte, wie in den Jahren bisher, das Ausmachen der »Apern« mit den Seinigen bezwingen. Gustav redete ihm zu, er solle Tagelöhner aus dem Dorfe annehmen, wie die anderen Bauern es thaten. Aber der Alte sträubte sich dagegen, er scheute die Ausgabe; außerdem, behauptete er, würden ihm Kartoffeln gestohlen. Die Ernte zog sich dadurch endlos in die Länge, denn außer dem Alten, der die Furchen anfuhr, standen nur acht Hände für das Lesen der Früchte zur Verfügung. Dabei konnte man Toni, die nicht mehr allzuweit von der Entbindung stand, kaum mehr als volle Arbeitskraft rechnen. Der alte Bauer zankte und wetterte, daß es nicht vorwärts rücke. Nächstens werde es frieren und die Hälfte der Kartoffeln stecke noch im Acker. Dabei war doch sein eigener kurzsichtiger Geiz und Starrsinn der Hauptgrund der Verzögerung.

Da kam Gustav auf einen Gedanken; er schlug vor, Kinder von armen Leuten, Häuslern, Einlegern, Handwerkern, die selbst kein Land hatten, zum Kartoffellesen anzunehmen und sie mit einem bestimmten Maß von Kartoffeln zu bezahlen.

Der Gedanke leuchtete dem Alten ein. Auf diese Weise brauchte kein bar Geld ausgegeben zu werden, mit dem er in letzter Zeit karger umging, denn je zuvor. Die paar »Apern«, welche die Kinder mit fortnahmen, fehlten kaum am Ertrage, und am Stehlen wurden die Kinder auch verhindert, denn sie hatten genug zu schleppen an dem ihnen Zuerteilten. Gustavs Plan kam zur Ausführung. Eine ganze Rotte von Kindern armer Leute wurde angenommen und in wenigen Tagen war die Ernte beendigt.

Der Büttnerbauer konnte mit dem Ertrage zufrieden sein. Die Kartoffel war in diesem Jahre gut gediehen. Die Nässe im frühen Sommer hatte das Wachstum des Kräutichs befördert und die Wärme und Trockenheit des späteren Sommers war der Entwickelung der Knollen zugute gekommen. Die Früchte waren zahlreich, groß und gesund. Ein wahrer Segen für die Armen, deren Hauptnahrung für den Winter gesichert war. Der Keller unter der Büttnerschen Scheune reichte in diesem Jahre nicht annähernd, um die Hackfrüchte sämtlich aufzunehmen. Gustav gab daher seinem Vater den Rat, nur Kraut und Rüben in den Keller zu nehmen, und an Kartoffeln soviel, wie man für Haus- und Viehstand im Winter voraussichtlich brauchen würde, das übrige aber auf freiem Felde einzumieten. Der Bauer folgte auch darin dem Rate des Sohnes. Der plötzliche Preissturz, den die Kartoffel gleich darauf erlitt – welcher mit der allgemein gut ausgefallenen Ernte zusammenhing – konnte ihn belehren, daß er recht daran gethan habe. Für das Frühjahr durfte man mit Wahrscheinlichkeit auf ein Anziehen des Preises rechnen.

Die Herbstbestellung verlief unter günstiger Witterung. Zeitig bedeckten sich die Felder mit dem zarten Grün des aufgehenden Winterkorns. Ein milder Spätherbst gestattete es, bis tief in den November hinein zu pflügen. Als die ersten Flocken niedergingen, konnte der Landmann dem mit Ruhe zusehen; es war Zeit für den Schnee. Die Ernte war geborgen, der Acker vorbereitet für die Frühjahrsbestellung, und die Winterung gut aufgegangen.

Mit dem Büttnerbauer war eine Wandlung vor sich gegangen in der letzten Zeit. Er war milder geworden und friedfertiger gegen die Seinen. Die wilde Hast hatte aufgehört, mit der er während des Sommers die Arbeiten betrieben hatte. Er ließ Frau und Kindern größere Freiheit, die Weiber durften im Hauswesen wieder schalten. Bis auf das Vieh herab erstreckte sich seine freundliche Stimmung. Die Pferde erhielten wieder das ihnen gebührende Maß Hafer und dankten ihrem Herrn bald dafür durch besseres Aussehen. Sich selbst gönnte der Bauer jetzt auch wieder Schlaf und Nahrung. Die guten Folgen davon bekam zunächst die Bäuerin zu spüren; er erschreckte sie nachts nicht mehr durch Selbstgespräche und unheimliches Umgehen. In der Kirche war er bald wieder der Aufmerksamsten einer, und der Pastor bekam ein freundlicheres Gesicht zu sehen, als den Sommer über.

Das waren die segensreichen Folgen von Gustavs Rückkehr in's Vaterhaus. Seit er seinen zweiten Sohn wieder bei sich hatte, schien der Büttnerbauer wie umgetauscht. Dabei ließ er es dem Jungen gar nicht mal merken, wie große Stücke er auf ihn hielt, und was sein Rat und seine Hilfe in der Wirtschaft ihm bedeuteten. Über den Kopf wollte er sich den jungen Menschen auch nicht wachsen lassen. Die natürliche Eifersucht des Alters, das sich von der Jugend überflügelt sieht, spielte dem Vater mit. Außerdem war Gustav nicht der Älteste. Karl blieb auch in den geheimsten Gedanken und Plänen des alten Mannes der Anerbe des Hofes. An dem in seiner Gegend und seiner Familie eingebürgerten Gebrauche, dem ältesten Sohne das Gut zu überlassen, hätte er nie und nimmer rütteln mögen. Karl sollte der zukünftige Büttnerbauer sein und bleiben, wenn ihn auch Gustav jetzt häufig wie einen Knecht anstellte und behandelte.

Gustav hatte auch die Ordnung der Geldverhältnisse in die Hand genommen. Davon verstand er nur soviel, wie der gesunde Menschenverstand einem lehrt. Denn Erfahrung in dieser Art Dingen zu sammeln, hatte er bei der Truppe kaum Gelegenheit gehabt.

Er that, vom richtigen Naturtrieb geleitet, das Vernünftigste, was bei der Lage seines Vaters gethan werden konnte, er zählte zunächst einmal die sämtlichen Schulden zusammen und stellte ihnen gegenüber die Einnahmen auf, die man als sicher erwarten durfte. Dann entwarf er eine Art von Schuldentilgungsplan. Die Weihnachtszinsen hoffte er mit Hilfe des noch unverkauften Hafers zu decken, für den Ostertermin sollten die Kartoffeln bleiben. Wenn Hafer und Kartoffeln nur einigermaßen Preis bekamen, hoffte er auf Überschüsse. Freilich, soviel, wie nötig war, um den Wechsel bei Samuel Harrassowitz zu decken, würde auf keinen Fall übrig bleiben. Da mußten eben noch andere Quellen aufgethan werden. Vielleicht ließ sich in diesem Winter etwas mehr aus dem Walde nehmen, als sonst. Dann mußten allerdings die letzten Bäume, die dort noch standen, dran glauben. Auch daran dachte er, die zwei Schweine, welche die Bäuerin gewöhnlich um Weihnachten herum schlachtete, die Speck und Schinken für das ganze Jahr hergeben mußten, zu verkaufen, statt sie in's Haus zu schlachten. Sowie die Schweine nicht mehr im Stalle wären, würde ja auch Milch übrig sein, und dann konnte mehr gebuttert werden. Das Stroh, welches von der Kornernte her reichlich vorhanden war, mußte auch in Rechnung gezogen werden. So gab es schließlich eine ganze Anzahl Dinge, die, wenn richtig verwertet, Einnahmen abwerfen konnten.

Bei dieser Aufstellung war allerdings nicht in Rechnung gezogen die gekündigte und in naher Zeit fällige Hypothek von Gustavs Onkel, Kaschelernst. Woher das Geld zur Deckung dieser Forderung beschafft werden sollte, wußte Gustav ebenso wenig, wie der alte Bauer selbst. Als der junge Mann zum Haferverkauf nach der Stadt gefahren war, hatte er sich dort unter der Hand erkundigt, ob und unter welchen Bedingungen die Hypothek unterzubringen sei. Dabei hatte er sich überzeugen müssen, daß solide Geschäftsleute mit Hypotheken an so gefährdeter Stelle nichts zu thun haben wollten. Von einer Seite zwar wurde ihm das Geld geboten, aber unter so übertriebenen Zinsbedingungen, daß er Halsabschneiderei witterte, und von dem Geschäfte absah.

Gustav gab sich jedoch dieser Forderung wegen nicht allzu schweren Besorgnissen hin. Er konnte sich nicht denken, daß sein Onkel Ernst machen würde mit dem Ausklagen. Nicht etwa, daß er Kaschelernst eine solche Härte gegen den eigenen Schwager nicht zugetraut hätte; er kannte den Kretschamwirt nur zu gut. Nein, er glaubte, daß der es nicht wagen würde, den Bauern zum äußersten zu treiben. Er mußte doch am besten wissen, daß bei dem Schwager nichts zu holen war. Klagte er, so kam es zum Zusammenbruch, und Kaschelernst verlor dann seine Hypothek, für die er bisher die Zinsen stets richtig erhalten hatte. Daß der Kretschamwirt daran denken könne, auf Erwerb des Bauerngutes selbst zu spekulieren, nahm Gustav nicht an. Weder Kaschelernst, noch der Sohn, waren Landwirte, und sein schlauer Onkel würde sich wohl hüten, zu dem, was er schon hatte, sich noch die Last eines größeren Besitzes aufzubürden.

Er nahm daher die Kündigung der Kaschelschen Hypothek, die dem alten Bauern so schweres Ärgernis bereitet hatte, gar nicht ernst. Das war wohl nur ein Schreckschuß oder ein schlechter Witz, den sich der schadenfrohe Kretschamwirt zu seinem besonderen Ergötzen gemacht hatte.

Gustav ging hin und wieder in den Kretscham, um die Stimmung dort zu ergründen. Der Onkel behandelte ihn stets mit ausgesuchter Zuvorkommenheit. Er lächelte und zwinkerte, sobald er des Neffen ansichtig wurde, in seiner närrischen Weise. Aber aus ihm herauszubekommen war nichts. Sowie Gustav ernsthaft von Geschäften zu sprechen anfing, begann er zu lachen, daß ihm manchmal die wirklichen Thränen aus den Augen liefen; so verstand er es, die Sache ins Lächerliche zu ziehen und den Neffen hinzuhalten.

Wenn nicht die stete Sorge um die Vermögenslage seiner Familie gewesen wäre, hätte Gustav in jener Zeit ein glückliches und gemächliches Leben führen können.

Wintersanfang ist eine der ruhigsten Zeiten für den Landmann. Sobald die weiße Decke die Fluren bedeckt, kann er von seinen Werken ausruhen und dem lieben Gott die Sorge um die Saaten überlassen. In dieser Zeit, wo die ganze Natur auszuruhen scheint vom Schaffen und Hervorbringen, wo alle jene treibenden, nährenden, in Saft und Frucht schießenden Triebe gleichsam eingefroren sind, hält auch der Bauer eine Art von Winterschlaf. Mehr als andere ist er ja verwandt mit der Erde, die er bebaut. Er hängt mit ihr zusammen, wie das Kind mit der Mutter, vor der Trennung. Er empfängt von ihr geheimnisvolle Lebenskräfte, und ihre Wärme ist auch die seine.

Ohne Arbeit war freilich auch der Winter nicht. Da gab es Schnee auszuwerfen, auf den Wegen. Dann war die Holzarbeit. Der Büttnerbauer machte sich, mit Hilfe seiner beiden Söhne daran, die einzelnen übergehaltenen Kiefern und Fichten zu fällen, die gefällten zu Klötzern zu schneiden, die Wipfel und Äste zu Reisighaufen aufzuschichten. Was an verkrüppeltem Holze da war, das nicht zu Nutzstücken verwertet werden konnte, wurde in den Schuppen gebracht, und dort in Scheite gespalten und zu Brennholz zerkleinert.

Es gab einen harten Winter. Das Feuer im Kochherde, der gleichzeitig Ofen für die Wohnstube war, durfte nicht ausgehen. Kohlen zu verwenden, betrachtete der Bauer als Verschwendung; wozu wuchsen denn auch die Bäume im Walde! So wurde denn tüchtig Holz verkachelt. Zu lüften hütete man sich wohl, damit ja nicht etwas von der kostbaren Wärme entfliehe. Gegen Öffnen durch vermessene Hände waren die Fenster übrigens wohl verwahrt. Im Herbst schon hatte man die Fensterstöcke und Rahmen mit Moos, Laub, Stroh und Nadelzweigen sorgsam versetzt. So war das ganze Haus in einen schützenden Mantel gekleidet, welcher der Winterkälte den Zugang verwehrte, zugleich aber auch die frische Luft ausschloß.

Der Tag begann spät, erst gegen sieben Uhr dämmerte es ja, und der Büttnerbauer drückte jetzt ein Auge zu wegen des späteren Aufstehens. Wenn das Vieh um sechs Uhr früh sein erstes Futter hatte, war er zufrieden. Um vier Uhr nachmittags fing der Abend schon an. Lampen wurden nicht gebrannt, der Ersparnis halber, nur Laternen und Unschlittkerzen. Wozu brauchte man auch Helligkeit! Das Kochen, Aufwaschen und Buttern konnte in den paar Tagesstunden vorgenommen werden. Zum Essen sah man auch im Halbdunkel genug. Gelesen oder geschrieben wurde nicht. Andere Bedürfnisse kannte man kaum. Mit den Hühnern wurde zu Bett gegangen. Man dämmerte so dahin, schläfrig und schweigsam.

Therese war die einzige, die manchmal mit ihrem scharfen Mundwerke, das auch im Winter nicht eingefroren zu sein schien, etwas Erregung in dieses dämmerige Dasein brachte. Vor allem an ihrem Gatten zankte sie herum, der meist mit der Tabakspfeife im Munde hinter dem Ofen zu finden war. Karl war im Winter schlimm daran, da konnte er sich, der Kälte wegen, nicht auf den Heuboden oder ins Freie retten. Die Ofenhölle war nur eine schlechte Zufluchtsstätte vor der Galle seiner Ehehälfte.

Gustav wohnte zwar daheim, war aber auch viel in der Behausung der Witwe Katschner zu finden. Für diesen Haushalt mußte er den fehlenden Mann ersetzen. Holzhacken, Wasserholen, all die schweren Arbeiten nahm er auf sich. Pauline hatte für den Winter wieder das Weben aufgenommen. Sie ging mit geheimer Freude an die Arbeit; sie wußte ja, wem das zugute kam, was sie jetzt webte.

So teilte Gustav seine Zeit und seine Kräfte zwischen den beiden Familien. Die Seinigen hatten sich darein gefunden, in Katschners Pauline Gustavs Auserwählte zu erblicken. Trotzdem fand ein Verkehr zwischen den Bauersleuten und dem Mädchen nicht statt. Man fragte nicht danach, wann Hochzeit sein sollte. Das war Sache der beiden; nicht einmal mit den eigenen Eltern sprach Gustav darüber.

* * *

Der Büttnerbauer war kein Träumer. Seine Interessen waren der strengen und nüchternen Wirklichkeit zugewandt, und zum Spintisieren und Phantasieren ließ ihm sein angestrengtes Tagewerk keine Zeit übrig. Aber eines steckte tief in seinem Wesen: er lebte viel mit seinen Gedanken in der Vergangenheit, sie war ihm ein steter Begleiter der Gegenwart, der mit beredtem Munde zu ihm sprach. Dieser Hang zum Rückwärtsblicken und Beschauen des Vergangenen wurde in ihm bestärkt durch die Vereinsamung, in der er sich befand. Denn obgleich er eine zahlreiche Familie um sich heranwachsen sah, war dieser Mann doch allein, wollte es sein. Er scheute jede Mitteilung seines Innersten anderen gegenüber, auch wenn sie von seinem Fleisch und Blute waren. Aber mit den Dahingeschiedenen stand er in lebendiger Beziehung.

Sein erstaunlich frisches Gedächtnis unterstützte ihn darin. Er vermochte sich Erlebnisse und Personen aus der frühesten Jugend vor die Seele zu stellen, als seien sie gestern gewesen. Aussprüche der Eltern, ja selbst des Großvaters, konnte er mit wörtlicher Treue wiedergeben, obgleich der Alte vor nahezu fünfzig Jahren das Zeitliche gesegnet hatte. Er war imstande, mit untrüglicher Gewißheit anzugeben, an welchem Tage in einem bestimmten Jahre man das erste Heu eingefahren hatte, oder was ihm damals für eine Kuh bezahlt worden war, oder auch, wieviel der Roggen in dem und dem Monate gegolten hatte.

Die Vergangenheit bildete aber nicht blos den vielbetrachteten Hintergrund seines Daseins, sie wirkte geradezu entscheidend auf seine Entschließungen ein. Er war gebunden in seinem Willen an Thaten und Absichten seiner Vorfahren. Ohne sich dessen selbst recht bewußt zu werden, ließ er sich leiten von frommer Rücksicht auf Wunsch und Willen jener Entschlafenen, die für ihn eben Gegenwärtige waren.

Dabei sprach er fast nie von der Vergangenheit. Das Sprechen, soweit es nicht einem bestimmten praktischen Zwecke diente, erschien ihm überhaupt müßig. Das Reden um der Aussprache willen, die süße Erleichterung des Gemütes durch Mitteilung, kannte er nicht, verachtete dergleichen, als weibisch.

Am ehesten ließ er noch etwas von seinen Gefühlen seinem Sohne Gustav blicken, der von der ganzen Familie seinem Herzen am nächsten stand. Das hatte seinen besonderen Grund. Der alte Mann glaubte in diesem Sohne etwas von dem Wesen des eigenen Vaters wieder lebendig werden zu sehen. Die Ähnlichkeit bestand in der That zwischen Enkel und Großvater. Aber auch sonst gab es verwandte Züge zwischen den beiden. Wenn der Bauer diesen Sohn auf Feld und Hof schalten und walten sah, mit energischen Befehlen die Geschwister anstellend, überall selbst mit Hand anlegend, voll Eifer und Lust an der Arbeit, dann wurde der alte Mann an den Vater erinnert, der für ihn noch jetzt das Muster eines tüchtigen Wirtes bedeutete. Und so verband sich mit dem Gefühle des Vaterstolzes für den Büttnerbauer die geheime Hoffnung, daß durch diesen Sohn der Familie wieder eingebracht werden möchte, was sie durch schlechte Jahre und Unglücksfälle mancherlei Art in letzter Zeit eingebüßt hatte an Vermögen und Bedeutung.

Jetzt im Winter, wo die Arbeit nicht auf die Nägel brannte, war mehr Zeit als sonst, seinen Gedanken nachzuhängen. Was für Erinnerungen wurden da in der Seele des Alten wach! was für Gestalten standen da vor seinem rückschauenden Blicke auf und gewannen Leben! –

Da war sein Vater: mittelgroß, breitschulterig, bartlos, wie alle Büttners vordem, blondhaarig. Er gedachte des Vaters immer, wie er ihn aus der frühesten Kindheit in Erinnerung hatte, als eines im besten Lebensalter stehenden blühenden Mannes. Was war das für ein Arbeiter gewesen! Mit einem Finger hatte der den Pflug ausgehoben und umgewendet. Und dabei war er ein Grundgescheiter gewesen. Dem hatte niemand ein X für ein U machen dürfen. Deshalb war es ihm auch gelungen, das Seine zusammenzuhalten und zu mehren.

Der Großvater des jetzigen Büttnerbauern hatte diesem Sohne das Gut noch bei Lebzeiten überlassen, und sich auf das Altenteil zurückgezogen. Der alte Mann fand sich in der neuen Ordnung der Dinge, welche durch die Bauernbefreiung und die Gemeinheitsteilung in den bäuerlichen Verhältnissen entstanden war, nicht mehr zu recht. Er hatte die Zeiten der Erbunterthänigkeit unter die Gutsherrschaft und die Fronden durchgemacht. Als junger Mensch hatte er drei Jahre lang im Zwangsgesindedienst auf dem Gutshofe gescharwerkt. Später waren von ihm die fälligen Spanndienste für die Herrschaft abgeleistet worden. Er lebte ganz und gar in den Anschauungen der Hörigkeit. Der Hofedienst ging allem anderen voraus. Der Graf, sein gnädiger Herr, konnte ihm sein Gut wegnehmen, wenn er wollte, und einen anderen an seine Stelle setzen, wie es ihm gerade paßte. Der Herr hatte die oberste Polizei- und Strafgewalt und verfügte über Leib und Vermögen seines Unterthanen.

Das wurde nun mit einemmale alles anders. Der Bauer sollte fortan ein freier Herr sein, auf eigenem Grund und Boden. Dabei fiel mit den Pflichten auch der Schutz weg, den die Gutsherrschaft den Unterthanen gewährt hatte. Viele Leute, besonders die alten, in der Erbunterthänigkeit groß gewordenen, konnten sich in diese Änderung der Dinge nicht finden. Sie hatten gar kein Bedürfnis nach Freiheit empfunden. Seit Menschengedenken hatten ihre Familien Hofedienste gethan, hatten unter Obhut und Leitung des Edelmannes ihr Leben zugebracht; Selbständigkeit und Freiheit waren für sie Worte ohne Sinn. Sie wollten es nicht anders haben, als ihre Väter es gehabt. Der Gutsherr hatte ihre Kräfte benutzt, hatte sie vielleicht über Gebühr angestrengt, aber er hatte auch für sie gedacht, und sie in schlimmen Zeiten geschützt. Das gebot ihm das eigenste Interesse; sie gehörten ihm ja, waren seine Leute, ohne deren kräftige Hände sein Besitz wertlos war. Nun sollten sie auf einmal für sich selber denken und sorgen. Sie standen auf eigene Füße gestellt, verantwortlich für ihre Thaten. Gar manchen fröstelte da in der neugeschenkten Freiheit, und er wünschte sich in das Joch der Hörigkeit zurück.

So ging es auch dem alten Büttner. Schwere Zeiten hatte der Mann gesehen. Zweimal waren die Franzosen durch Halbenau gekommen und hatten geplündert. Was sie übrig gelassen, nahmen die Kosacken mit, die als Verbündete kamen, aber ärger hausten als die Feinde. Von dieser Einquartierung sollte man sich noch lange in der Gegend erzählen. Dann kam gleich nach dem Feinde ein furchtbares Notjahr mit Mißernte und Hungersnot im Gefolge. Mancher Bauer verließ in jenen Tagen seinen Hof und ging auf das Rittergut, oder in die Stadt, um Anstellung zu finden, da er als eigner Wirt dem sicheren Verhungern entgegensah. Da wurde vielfach lediges Bauernland von der Herrschaft eingezogen. Der damalige Büttnerbauer sah es daher als eine Erleichterung an, als bei der Regulierung ein Drittteil seines Gutes der Herrschaft Saland zugeschlagen wurde. Ja, er hätte sich vielleicht von dem mächtigen Nachbarn, der sich aus einem Beschützer über Nacht in einen Nebenbuhler verwandelt hatte, ganz aus seinem Besitze verdrängen lassen, wenn nicht sein Sohn gewesen wäre.

Leberecht Büttner war, im Gegensatze zu seinem Vater, ein Sohn der neuen Zeit. Er hatte die Freiheitskriege mitgemacht, als Grenadier. Zweimal war er in Frankreich gewesen, war mit Erfahrungen und voll Selbstbewußtsein aus der weiten Welt in das Heimatsdorf zurückgekehrt.

Zu Hause nahm er sehr bald das Heft in die Hand. Der Vater besaß soviel Vernunft, um einzusehen, daß er nichts besseres thun könne, als der jüngeren Kraft Platz zu machen; er ging in's Ausgedinge und lebte noch manches Jahr. Aus alter Gewohnheit nahm er an der Feldarbeit Teil, und ward eine Art von Tagelöhner bei dem eigenen Sohne. Der jetzige Büttnerbauer konnte sich noch ganz gut auf ihn besinnen. Ein kleines gebücktes Männchen mit schiefer Nase und rotgeränderten Augen war er gewesen. Sein gelbgraues Haar hatte ihm in langen Strähnen um den Kopf gestanden. Sonntags pflegte er einen blauen Rock zu tragen, der ihm bis an die Knöchel reichte und eine braun und grün gewürfelte Weste mit blanken Perlmutterknöpfen. Er wußte den Enkeln mit hoher, dünner Greisenstimme schauerliche Geschichten zu erzählen, von der Franzosenzeit und der Kosackeneinquartierung.

Leberecht Büttner verstand es, die neugewonnene Unabhängigkeit, mit der sein Vater nichts anzufangen gewußt hatte, vortrefflich auszunutzen. Der Aufschwung, den die Landwirtschaft zu Anfang des Jahrhunderts genommen, die Erkenntnis der Bodenpflege, die veränderte Fruchtfolge, die Bekanntschaft mit neuen Kulturgewächsen, begann langsam durchzusickern und verdrängte allmählich auch in diesem entlegenen Winkel die veraltete Wirtschaftsweise der Väter. Durch die Aufteilung der Gemeindeweide und die Einschränkung des Viehtreibens und der Streunutzung im Walde wurde der Bauer, selbst wenn er widerwillig war, zu vernünftigerem Wirtschaften gezwungen.

An Stelle der Weide trat der Stall, dadurch wurde der bisher verschleppte Mist für die Felddüngung gewonnen. Man mußte Futterkräuter anbauen und mit der Brachenwirtschaft brechen. Hand in Hand damit ging die bessere Wiesenpflege und die Tiefkultur.

Leberecht Büttner war der erste Bauer in Halbenau, welcher mit der Dreifelderwirtschaft brach. Er baute eine massive Düngergrube auf seinem Hofe und führte regelmäßige Stallfütterung ein für das Vieh; trotzdem konnte man ihm nicht vorwerfen, daß er neuerungssüchtig sei. Von dem zähkonservativen Bauernsinne hatte er sich den besten Teil bewahrt: wohlüberlegtes Maßhalten. Er überstürzte nichts, auch nicht das Gute. Seine Bauernschlauheit riet ihm, zu beobachten und abzuwarten, andere die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen, nichts bei sich einzuführen, was nicht bereits erprobt war, vorsichtig ein Stück hinter der Reihe der Pioniere zu marschieren. Behutsam und mit Vorbedacht ging dieser Neuerer zu Werke. Er begnügte sich mit dem Sperling in der Hand und überließ es anderen, nach der Taube auf dem Dache Jagd zu machen.

Dabei war ihm das Glück günstig. Die jahrzehntelang gedrückten Getreidepreise begannen auf einmal zu steigen. Der Absatz erleichterte sich durch die neugefundenen Verkehrsmittel. Von dem ansteigenden Strome wachsender Lebenskraft und gesteigerten Selbstbewußtseins im ganzen Volke, wurde auch der kleine Mann emporgetragen. Leberecht Büttner war im rechten Augenblicke geboren, das war sein Glück; daß er den Augenblick zu nützen verstand, war sein Verdienst. Er durfte zu einer Zeit wirken und schaffen, wo der Landmann, wenn er seinen Beruf verstand, Gold im Acker finden konnte.

So arbeitete sich dieser Mann im Laufe der Jahre aus der Verarmung zu einer gewissen Wohlhabenheit empor. Es gelang ihm, einen günstigen Landkauf zu machen, bei welchem er der benachbarten Herrschaft, die ihr Areal nach Möglichkeit durch Auskaufen kleiner Leute zu vermehren trachtete, zuvorzukommen verstand. Durch diesen Ankauf brachte er das Gut auf den nämlichen Umfang, wie es vor der Ablösung gewesen war. Aber während das Bauerngut zur Zeit der Hörigkeit nicht viel besser als eine Wüstenei gewesen war, hatte er es durch Fleiß und Einsicht in eines der bestgepflegtesten Grundstücke weit und breit verwandelt.

Leberecht Büttner starb an der Schwelle des Greisenalters eines plötzlichen Todes. Leute, deren ganzes Sinnen und Trachten auf's Schaffen gerichtet ist, denken meist nicht gern an's Sterben. Beim Tode dieses sorgsamen, vorbedachten Mannes fand sich ein letzter Wille nicht.

Traugott Büttner, sein ältester Sohn, war in vieler Beziehung nach dem Vater geraten. Vor allen Dingen hatte er dessen Zähigkeit, Thatkraft und Emsigkeit geerbt. Aber das Geschick solcher Söhne, welche eigenartige Väter haben, traf auch ihn: durch die ausgeprägte Persönlichkeit des Vaters hatte die des Sohnes gelitten. Jener hatte sich voll ausgelebt, und im Egoismus der starken Natur nie daran gedacht, daß in dem Schatten, welchen er verbreite, ein kräftiges Gedeihen für den Nachwuchs nicht möglich sei. Er war in seinem Bereiche alles in allem gewesen. Seine Umgebung hatte sich daran gewöhnt, bei allen wichtigen Entscheidungen auf den Vater zu blicken, ihn denken und sorgen zu lassen. Leberecht führte das Regiment im Hause, zunächst über den eigenen Vater, der freiwillig vor ihm zurückgetreten war, später über die Söhne, auch nachdem sie längst zu Jahren gekommen. Unter solchem Drucke hatte sich Traugotts Charakter nicht frei und nicht glücklich entwickelt. Er hatte von den Tugenden seines Vaters die Fehler. Was bei Leberecht Vorsicht war, erschien bei Traugott als Mißtrauen, während jener sparsam war und haushälterisch, war dieser zum Geize geneigt und kleinlich. Der konservative Sinn des Alten war bei dem Sohne in Engigkeit, die Energie in Trotz und Eigensinn ausgeartet.

Und eines war vom Vater auf den Sohn nicht übergegangen: das Glück.

Leberecht Büttner war ein echtes Glückskind gewesen. Er trat als junger Mensch zur rechten Zeit auf den Schauplatz, um das väterliche Gut vor Annexion durch Fremde zu retten, er kam als reifer Mann in Zeiten, wo Thatkraft und Fleiß nicht umsonst vergeudet wurden. Sein Sohn war in anderer Zeit und in veränderter Lage geboren. Er übernahm zwar ein großes Anwesen im besten Stande, aber unter erschwerten Bedingungen. Die Vermögenslage, in welche Traugott Büttner durch die Erbauseinandersetzung mit seinen Geschwistern gekommen, trug den Keim einer großen Gefahr in sich. Alles kam jetzt auf den neuen Wirt an und auf sein Glück. Es kamen schwere Zeiten, denen er sich nicht gewachsen zeigte. Fallende Getreidepreise, sinkende Grundrente, dazu steigende Löhne und wachsende Ausgaben. Ein schnelleres Getriebe im Geschäftsleben und erschwerte Kreditbedingungen. Alles verwickelte und verschob sich. Mit dem schlichten Verstande allein kam man da nicht mehr durch. Die Ansprüche waren gesteigert auf allen Gebieten. Die alte Wirtschaftsweise, wo man seine Erzeugnisse auf den Markt brachte, mit dem Erlös die Zinsen und Abgaben deckte, und was übrig blieb mit seiner Familie verzehrte; diese einfache Art, aus der Hand in den Mund zu leben, war gänzlich aus der Mode gekommen. Der neumodische Bauer hielt sich womöglich Zeitungen, las Bücher über Landwirtschaft, studierte die Börsenkurse und die Wetterberichte. Solche Leute nannten sich dann freilich auch nicht mehr Bauern, sondern »Ökonomen« und ließen ihre Söhne freiwillig dienen.

Traugott Büttner hielt am Alten fest, wie es sein Vater bis zu gewissem Grade auch gethan hatte. Leberecht Büttner aber hatte sich dem, was gut und nützlich im Neuen war, nie verschlossen, und das that Traugott. Er verstand seine Zeit nicht, wollte sie nicht verstehen. Er haßte jede Neuerung von Grund der Seele, und brachte es darum niemals zu einer Verbesserung. Er glaubte die neue Zeit mit Verachtung zu strafen, und merkte nicht, daß sie achtlos über ihn hinwegschritt, und ihm den Rücken wandte. Mürrisch hatte er sich auf sich selbst zurückgezogen, zehrte von seinem Trotze und lebte ein glückliches Leben nur in der Erinnerung an die »gute alte Zeit«, die doch ihrerzeit auch mal neu gewesen war.

Manchmal freilich sah er sich doch gezwungen, in das Licht, von dem er sich grollend abgewandt hatte, zu blicken. Um so schmerzhafter blendete ihn dann die grelle Tageshelle der Wirklichkeit. Dann fuhr er auf aus seiner weltentfremdeten Zurückgezogenheit und beging in heftiger Übereilung verhängnisvolle Irrtümer. Sah er dann durch den Erfolg seines Thuns, daß er verfehlt gehandelt hatte, so versteifte er sich gegen besseres Wissen auf sein gutes Recht. Aber, im Inneren war ihm nicht wohl dabei zu Mute, und leicht focht ihn dann Unsicherheit und Verzagen an. Denn wenn er auch nach außen hin nicht um eines Haares Breite nachgab und lieber einen Finger eingebüßt hätte, als ein Zugeständnis zu machen, so stand er doch vor dem Richter in der eigenen Brust häufig als ein Fehlender da. Reue und Zerknirschung war es nicht, was er da empfand. Zum Beugen war sein Bauernnacken zu steif. Weder vor Menschen noch vor Gott liebte er es, sich als Sünder hinzustellen.

Des Büttnerbauern Christentum war ein eigenartiges Gemächte, das vor den Augen orthodoxer Theologen wohl als eine Art von Heidentum erfunden worden wäre. Sein Verhältnis zu Gott bestand in einem nüchternen Vertrage, der auf Nützlichkeit gegründet war. Der himmlische Vater hatte nach Ansicht des Bauern für gute Ordnung in der Welt, für regelmäßige Wiederkehr der Jahreszeiten, gut Wetter und Gedeihen der Feldfrüchte zu sorgen. Kirchgang, Abendmahl, Kollekte, Gebet und Gesang, das waren Opfer, die der Mensch Gott darbrachte, um ihn günstig zu stimmen. War das Wetter andauernd schlecht, oder die Ernte war mißraten, dann grollte der Bauer seinem Schöpfer, bis wieder bessere Zeit kam. Von der Buße hielt er nicht viel. Um das Fortleben nach dem Tode kümmerte er sich wenig, sein Denken und Sorgen war ganz auf das Diesseits gerichtet. Was der Herr Pastor sonst noch sagte, von der Aneignung der göttlichen Gnade, dem stellvertretenden Opfertode Christi und der Wiedergeburt im Geiste, das hörte er sich wohl mit an, aber es lief an seinem Gewissen ab, ohne Eindruck zu hinterlassen. Dergleichen war ihm viel zu weit hergeholt und verwickelt. Das hatten sich wahrscheinlich die Gelehrten ausgedacht: die Studenten und die Professoren, oder wie sie sonst hießen. Er trug ein deutliches, höchst persönliches Bild von seinem Gotte in der Seele. Er wußte ganz genau, wie er zu dem da oben stand; es bedurfte keines Vermittlers, um ihn zu Gott zu führen. Manchmal in früher Morgenstunde, wenn er auf dem Felde stand, allein, und die Welt erstrahlte plötzlich in überirdischem Glanze, dann fühlte er Gottes Nähe, da nahm er die Mütze vom Haupte und sammelte sich zu kurzem Gebet. Oder ein Wetter brauste daher über sein Haus und Land mit Blitzschlag und Donnergrollen, dann spürte er Gottes Allmacht. Oder nach langer Dürre ging ein befruchtender Regen nieder, dann kam der Allmächtige selbst hernieder auf seine Erde. In solchen Augenblicken ließ der Alte etwas wie eine Weihestimmung in sich aufkommen. Sonst liebte er das Hingeben an Gefühle nicht. Er war kein Beter. Des Abends beim Abendläuten nahm er aus alter Gewohnheit die Mütze ab, sobald die Glocke anschlug, und sprach sein Vaterunser; das war aber auch alles. Im übrigen mußte der sonntägliche Gottesdienst für die Woche aushalten.

Je älter der Bauer wurde, desto mehr zog er sich auf sich selbst zurück, umgab sich mit einem Mantel von Welthaß und Menschenverachtung. Und je einsamer er sich so machte, desto stärker wurde doch in ihm das Bedürfnis, welches tief in der Brust eines jeden Menschen lebt: sein Leben über den Tod hinaus fortzusetzen, seine Persönlichkeit nicht untergehen zu sehen, seinen Werken die Fortdauer zu sichern, daß er nicht der Vergessenheit anheimfalle, die Erinnerung an ihn nicht ausgelöscht werde, wie die Fußspur im Sande. Wäre er eine mystisch angelegte Natur gewesen, so hätte er sein Heil in der Gläubigkeit gesucht. Aber er war derb und nüchtern, ein Bauer; alle seine Triebe waren der lebendigen Wirklichkeit zugewandt. Darum konnte ihm die Seligkeit, wie sie das Christentum versprach, wenig Trost gewähren. Ein Himmel mit rein geistigen Freuden bot ihm keine Anziehung. Er wollte nicht Verklärung, er wollte Fortsetzung der Wirklichkeit, an der sein Ich mit allen Fasern hing. Er war ein Sohn der Erde. Was er hier gewesen, was er aus dieser Welt geschaffen und gewollt, sollte ewigen Bestand haben.

Es konnte darum keine bitterere Erfahrung für den alten Mann geben, als mit ansehen zu müssen, wie sein Lebenswerk mehr und mehr dem Untergange entgegensteuerte. Von allen Seiten sah er feindliche Mächte vordringen, die ihm das entreißen wollten, was er aus der Hand seines Vaters als das köstlichste Erbteil empfangen hatte: sein Gut. Und in seinem Kummer war ein Stachel verborgen; ein Tropfen gab dem Kelche den bittersten Beigeschmack: der Selbstvorwurf. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber er mußte es doch fühlen, das wurmende und brennende Bewußtsein, daß er selbst die Schuld trug. Solche Erkenntnis kam nur blitzartig über ihn. Er wußte die selbstanklägerische Stimmung wohl zu verscheuchen. Andere waren schuld, nicht er! die schlechten Zeiten, die Verhältnisse. Haß gegen die Welt, das war der beste Trost, Ingrimm das beste Schutzmittel des Trotzigen gegen die gefürchtete Reue.

Einen wirklichen Trost hatte er und an diesen klammerte er sich mehr und mehr mit der verzweiflungsvollen Kraft des Sinkenden: seinen Sohn Gustav. Wenn jemand ihn retten konnte, so war der es. Das Zeug hatte der Junge dazu. In Gustav sah er ein Stück vom Großvater, Leberecht, wieder lebendig werden.

 

Ende des ersten Buches.

 


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