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Die Herbstarbeiten hatten für die Sachsengänger angefangen: Kartoffelhacken und Rübenroden. Der Oktober war feucht gewesen. Der schwere Boden hatte sich vollgesogen mit Nässe, die Ackerscholle war zäh und klebrig.
Rübenroden ist schwere Arbeit. Sie hatten sich dazu in Gruppen geteilt. Ein Mann ging an der Spitze, um die Erde mit dem Spaten zu lockern. Das ihm zunächst folgende Mädchen zog mit jeder Hand eine Rübe aus und klopfte sie gegeneinander, bis sie von Erde befreit waren. Die nachfolgenden Mädchen schlugen dann den Rüben mit dem Hackmesser die Blätter ab.
Diese Arbeit mußte äußerst sauber geliefert werden. Der Inspektor kam häufig und kontrollierte. Gustav hatte seine liebe Not mit den Mädchen, die oft genug Erdreste an den Runkeln sitzen ließen, und zu viel, oder auch zu wenig, von dem grünen Kopfe der Rübe abschlugen.
Im Hintergrunde drohte die Fabrik, die nur allzuschnell mit der Klage über mangelhafte Lieferung da war. Der Besitzer machte dann dem Inspektor Vorwürfe, der nahm den Aufseher vor, der Aufseher schließlich schalt die Arbeiter. Und so kam das Ungewitter im Instanzenwege endlich bis zu den armen Runkelmädchen, über deren Häuptern es sich grollend entlud.
Abends kehrte man todmünde von der anstrengenden Arbeit in die Kasernen zurück, durchnäßt, mit beschmutzten Kleidern. An den Stiefeln und Röcken klebte das Erdreich. Selbst die ordentlichsten Mädchen konnten jetzt nicht mehr reinlich zur Arbeit antreten.
Es hatte sich der geplagten Menschenkinder eine große Sehnsucht nach der Heimat bemächtigt. Man setzte dem Aufseher zu, daß er um baldige Entlassung aus dem Dienst einkommen solle.
Im Kontrakte war ein Termin nicht genannt; es stand darin nur, daß die Wanderarbeiter bis zur Beendigung der Rübenernte zu bleiben hatten.
Die Ausbeute war in diesem Jahre reichlich gewesen: die Köpfe groß und schwer; die Pflanzen hatten nur wenig durch Auswachsen und Faulwerden gelitten. Das Gut mußte, laut Kontrakt, ein bestimmtes Quantum Rüben an die Fabrik liefern. Diese Bedingung war erfüllt. Der Rest der Rübenernte sollte eingemietet werden. Hierzu waren die Weiber nicht nötig; das Bewerfen der Rübenmieten mit Erde besorgten besser starke Männerhände.
Der Inspektor erklärte, auf Gustavs Ansuchen, sie zu entlassen: Herr Hallstädt gestatte den Mädchen heimzukehren, die Männer jedoch müßten bleiben, bis die letzte Rübe eingemietet sei.
Gleichzeitig wurde von Seiten der Gutsverwaltung der Versuch gemacht, Gustav mit seinen Leuten für den nächsten Sommer anzuwerben. Der Inspektor ließ sich zu leutseligem Wesen herab, als er mit diesem Ansinnen kam. Statt des hochfahrenden Vorgesetztentones, den er bisher den Wanderarbeitern gegenüber gehabt, schlug er auf einmal mildere Weisen an, suchte sich dem Aufseher gegenüber als Kamerad aufzuspielen.
Aber bei Gustav verfingen diese Künste nicht. Er hatte das zweideutige Verhalten des Mannes, der sich jetzt als Arbeiterfreund gab, von der Ausstandszeit her noch zu gut im Gedächtnis; auch wünschte er sich keinen zweiten Sommer, wie diesen. Er lehnte daher das Anerbieten rundweg ab.
So reisten denn die Mädchen in ihre Heimat zurück. Gustav ließ seine Frau und den Jungen mit ihnen fahren. Pauline hatte sich in der letzten Zeit todunglücklich gefühlt. Die Häuslichkeit fehlte ihrem Ordnung und Ruhe bedürftigen Sinn. Sie sehnte sich nach der Mutter und ihrem kleinen Häuschen in Halbenau zurück. Manche Thräne hatte sie heimlich verschluckt, um Gustav nicht durch ihr Leid noch trüber zu stimmen.
Ernestine war leichten Herzens. Unter allen Mädchen hatte sie am meisten zurückgelegt vom Verdienst. Was sie mit Häschke verabredet habe, erfuhr niemand, aber es war anzunehmen, daß sie einig seien. Er hatte ihr seine Ersparnisse übergeben, als eine Art von Unterpfand, daß er sie nicht sitzen lassen werde. Man munkelte, er wolle zunächst in seine Heimat zurückkehren, um sich dort nach festem Erwerb umzusehen, dann würde er Ernestinen nachholen und Hochzeit mit ihr machen.
Das andere Liebespaar machte es ähnlich. Fumfack wollte nach beendeter Rübenarbeit wieder zu seinem Schmiedegewerbe zurückkehren. Mit dem von ihm und seiner Braut verdienten Gelde hatte er vor, sich selbständig zu machen. Dann sollte geheiratet werden.
Von der ganzen Gesellschaft blieb nur einer im Westen zurück, das war Welke, der ehemalige Stallbursche. Der hatte eine Stelle als Kutscher bei einem Fabrikanten der Nachbarschaft angenommen.
Die vier Männer arbeiteten noch ihre Aufgabe ab. Endlich war die letzte Schaufel Erde auf die große Rübenmiete geworfen. Nun konnten auch sie reisen.
Gustav hatte zum Schluß noch eine häßliche Auseinandersetzung mit dem Inspektor. Die Gratifikation, welche ihm im Frühjahr in Aussicht gestellt worden war, sollte ihm jetzt vorenthalten werden. Und in seinem Kontrakte stand doch, er solle eine Extravergütung erhalten, falls man mit den Leistungen seiner Leute zufrieden sein würde! – Nun war es außer allem Zweifel, daß diese Gruppe mehr und besser gearbeitet hatte, als irgend eine andere. Aber jetzt, wo Gustav erklärt hatte, daß er im nächsten Jahre nicht wiederkommen würde, gab man ihm zu verstehen: man habe keinen Anlaß, ihm die Gratifikation auszuzahlen.
Gustav war empört über diese Ungerechtigkeit. Er verlangte, mit Herrn Hallstädt persönlich zu sprechen. Aber auch jetzt noch wurde der Gutsherr wie ein Gott hinter Wolken gehalten; Herr Hallstädt sei nach dem Süden verreist, hieß es.
Das war Wasser auf Häschkes Mühle. Längst hatte er gewarnt, Gustav solle sich vorsehen. Aber der war natürlich wieder der Dumme gewesen in seinem Vertrauen auf die Großen. Nun hatten sie ihn doch übers Ohr gehauen. So waren die Reichen ja alle! Wenn sie einem armen Luder das Fell über die Ohren ziehen konnten, das war ihnen ein wahrer Hochgenuß! –
Gustav hatte früher auf Häschkes Brandreden nichts gegeben. Wenn er ihn dergleichen in Gegenwart der anderen äußern hörte, hatte er ihm wohl das Maul verboten. Jetzt sagte er nichts. Der Gedanke kam ihm, daß Häschkekarl vielleicht nicht so unrecht habe.
* * *
Häschke hatte schon immer auf Gustav eingeredet, er müsse ihn auf der Heimatreise begleiten. Vielleicht gefalle es ihm dort und sie fänden ein gemeinsames Unterkommen für die Zukunft. Häschke hatte sich, seit Gustav um sein Verhältnis zu Ernestine wußte, unwillkürlich vertraulicher zu ihm gestellt; er nannte Gustav neuerdings »Schwager«, und der hatte sich nicht dagegen gesträubt.
Gustav ging schließlich auf Häschkes Plan ein. Warum sollte er den Umweg nicht machen? Er bekam auf diese Weise ein Stück Welt zu sehen, vielleicht fand er sein Glück dabei. Die Zukunft war ja immer noch ungewiß für ihn.
Er schickte sein Geld und die überflüssigen Kleidungsstücke an Pauline nach Halbenau, behielt sich nur soviel, daß er ungefähr vierzehn Tage lang damit auskommen konnte. Dann verschafften sich die beiden ihre Arbeitszeugnisse, und ließen sich ihre sonstigen Papiere von der Behörde abstempeln. Denn die Hauptsache beim Reisen sei, daß man die »Flebben« in Ordnung habe, erklärte der in solchen Dingen erfahrene Häschke.
So machten sie sich eines Tages im Anfang November auf die Reise, den ›Berliner‹ auf dem Rücken und den ›Stenz‹ in der Hand, als echte und rechte Wanderburschen. Ein paar Tage marschierten sie auf der großen Landstraße. Des Nachts schliefen sie in der›Katschemne‹, die Häschke, der diese Fahrt schon einmal ›abgetippelt‹ hatte, genau kannte. Da sie ›Asche‹ hatten, gab der ›Penne-Poos‹ auch gerne eine ›Hulke‹ daß sie nicht ›Bankarbeit machen‹ mußten, wie die Kunden das Schlafen auf der Diele bezeichnen. Die Herbergen zur Heimat vermied Häschke, denn dort war es langweilig, da wurde des morgens und abends gebetet, und ›Soruff‹ bekam man nicht einmal, wenn man ihn bezahlte. Da zog er sich die Katschemnen, oder wilden Pennen vor, dort gab es immer was zu sehen und zu hören und Schnaps so viel man wollte.
Dann trat schlechtes Wetter ein. Häschke schlug daher vor: »mit dem Feurigen zu walzen«, um seine Kleider zu schonen. Sie wandten sich der nächsten Eisenbahnstation zu und lösten sich Billets; dritter Klasse, auf Häschkes Rat. In der vierten reiste jetzt wieder allerhand Gesindel: Polacken und Russen, nach der Heimat zurück, und da konnte man am Ende gar ›Barach‹ auflesen.
Häschkekarl war in prächtiger Laune. Die Erinnerung an die alte Stromerherrlichkeit war neu in ihm erwacht. »Fremd machen«, wie er das Feiern von der Arbeit nannte, und so dritter Güte durch die Welt kutschieren, das war etwas für seinen leichten Sinn. Und dazu noch das Bewußtsein, einen ganzen Sommer durch bei einer Arbeit und bei einem Mädel ausgehalten zu haben, das hob sein Selbstbewußtsein mächtig. Sie waren ein Paar rechte Kerle, er und Gustav. Es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn sie zusammen sich nicht durch die Welt finden sollten!
Das nächste Ziel ihrer Reise war eine große Handels- und Industriestadt im Königreich Sachsen. Mit einer gewissen Wichtigthuerei deutete Häschke seinem Wandergenossen an, daß er dort Freunde habe. Gustav irrte nicht in der Annahme, daß er damit Parteigenossen meine.
Häschkes politische Gesinnung war Gustav schon lange verdächtig gewesen. Einmal hatte er ihn direkt zur Rede gestellt: er sei doch nicht etwa ein »Roter«? Häschkekarl hatte darauf vielsagend gelächelt und vor sich hingepfiffen. Die Roten seien gar nicht so schlecht, war seine endliche Erklärung, die wollten nur das Beste der Menschen. Und gelegentlich hatte er versucht, dem Freunde ein kleines gelbes Büchlein in die Hand zu drücken; da werde er alles drinnen finden, was man wissen müsse, meinte er, das sei besser, als der Katechismus.
Aber Gustav hatte diesen Versuch, seine Gesinnung zu verderben, mit Entrüstung zurückgewiesen. Von der Kanzel herab und von den Vorgesetzten war ihm eingeprägt worden, daß es nichts Gefährlicheres gebe auf der Welt, und nichts Verabscheuungswürdigeres, als jene Partei, die alle göttliche und menschliche Ordnung umstürzen wolle. Vom Elternhause her brachte er zudem einen Abscheu mit gegen alles, was Politik hieß. Der alte Büttnerbauer hielt keine Zeitung und war nie in seinem Leben zur Wahlurne gegangen. Gustav war darin echter Bauer geblieben, daß er alles Parteiwesen verachtete und verabscheute.
Seit er im vorigen Frühjahr die Heimat verlassen, hatte sich seine Anschauung auch hierin verändert.
Im Westen hatte er eine gänzlich neue Wirtschaftsweise kennen gelernt, leichtere bequemere Lebensführung, ganz andere Arbeitsbedingungen, als daheim in dem abgelegenen Dörfchen. Das Verhältnis des Gesindes zur Herrschaft, des Arbeiters zum Arbeitgeber, war hier ein viel loseres. Die Arbeitskraft schien eine Ware. Das Geld bildete die einzige Beziehung zwischen Herr und Knecht. Die Maschine besorgte vieles, wozu man daheim viele Hände brauchte. Der Grundbesitzer stand kaum noch in einem persönlichen Verhältnis zu seinem Boden; Landmann konnte man ihn nicht mehr nennen. Er war mehr mit einem Kaufmann oder Unternehmer zu vergleichen; vom wirklichen Ackerbau verstand er vielleicht gar nichts. Die Bodenarbeit überließ er den fremden Arbeitern, die von Beamten bewacht wurden. Der Grundbesitzer schien hier kaum noch eine Person; hinter ihm standen andere Mächte: die Fabrik, die Aktie, das Kapital, die zwischen den Besitzer und sein Stück Erde traten.
Und in eine ganz andere Welt wiederum hatte Gustav Einblick gewonnen, während der Tage, die er mit Häschke auf der Walze gewesen. Da hatte er den fünften Stand kennen gelernt, das unheimliche Heer der Obdachlosen, der Ausgestoßenen, der Verkommenen, die hinter der bürgerlichen Gesellschaft als ein neuer Stand heranrücken. In eine eigenartige Welt hatte er da geblickt. Diese Menschenklasse, auf die der Bauernsohn als auf Landstreicher und Verbrecher herabgeblickt hatte, waren eine Zunft für sich, besaßen ihre eigene Sprache, ihre Gebräuche, ihre Standesehre sogar.
Und wo stammten die meisten von ihnen her? Von bäuerlichen Vorfahren. Das Land war ihre Wiege gewesen. Die Männer, die im Anfange des Jahrhunderts dem deutschen Bauern die Freiheit schenkten, hatten wohl nicht gedacht, daß die Enkel des seßhaftesten Standes nach wenigen Generationen die Landstraße bevölkern würden. Die Gabe der Freizügigkeit war für viele das gewesen, was ein starker Luftzug für einen schwächlichen Körper ist. Freiheit hatten diese Unglücklichen nur allzuviel; sie waren vogelfrei. Losgerissenen Blättern glichen sie, die verloren umhergewirbelt werden. Trümmerstücke der modernen Gesellschaft! Treibendes Holz auf den Wogen des Wirtschaftslebens! Entwurzelt, ausgerodet aus dem Heimatsboden, und nun unfähig, irgendwo neue Wurzeln zu treiben.
Nicht alle waren verdorbene Landleute. Jeder Stand hatte seinen Tribut an die Landstraße gezahlt. Brotlose Fabrikarbeiter, heruntergekommene Kaufleute, stellenlose Beamte, entlassene Sträflinge, Bettler von Profession, Arbeitsscheue, Invaliden, fahrende Künstler. – Die wenigsten waren zünftige Handwerksburschen, wie sie in früherer Zeit durch das Land reisten von Meister zu Meister, um ein Stück Welt zu sehen und ihre Fertigkeit zu vermehren. Nicht die Arbeitslust, die Not hatte diese hier auf die Straße getrieben.
Allen war das eine gemeinsam: die Heimatlosigkeit. Von der Scholle waren sie getrennt, deren mütterlich nährende Kraft nichts ersetzen kann. Das waren die wirklich Enterbten, denn sie hatten nicht, worauf jeder von Geburtswegen Anspruch hat, ein Stück Erde, darauf er seine Füße ausruhen, auf dem er leben und sterben darf. –
In den Pennen hatte Gustav Reden mit angehört und Dinge gesehen, die ihm die Haut erschaudern machten, obgleich er vom Dorfe und der Kaserne her doch nicht gerade verwöhnt war.
Unter diesen hier, galt kein Gesetz, als das der Gaunerei, keine Ehre, außer der Vagabundenpfiffigkeit, Genuß und Vorteil waren die einzigen Autoritäten, die anerkannt wurden, Rechtlichkeit und Frömmigkeit wurden verlacht. Wie konnte der auch rechtlich sein, der nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren hatte, wie konnte fromm und gut sein, der, dem Tiere gleich, ohne Gerechtigkeit, ohne Achtung, ohne Liebe, war. Die Begriffe von Gut und Böse, von Eigentum, Recht und Ordnung mußten sich verschieben und in ihr Gegenteil verkehren für Existenzen, die in der Luft schwebten, die den Zusammenhang mit ihresgleichen den Boden unter den Füßen, den Untergrund aller Gesellschaft, verloren hatten.
In Gustavs Gemüt hatten die Erlebnisse der letzten Zeit einen unklaren Bodensatz zurückgelassen. Es ging doch ganz anders zu in der Welt, als er sich's früher vorgestellt hatte, ganz anders, als es ihm seine Lehrer und Instruktoren gesagt. Viel Ungerechtigkeit gab es, von der man sich nichts hatte träumen lassen. Die Güter waren sehr ungleich verteilt unter den Menschen.
Wenn sie auf ihrer Wanderung an prächtigen Rittergütern, stattlichen Kirchen, prunkhaften Fabrikantenvillen vorüberkamen, da hatte Häschke wohl mit der Faust hinübergedroht nach jenen stolzen Gebäuden, einen Fluch hervorgestoßen und ausgespuckt.
Gustav hatte ihn darin nicht nachgeahmt. So schnell wollte er nicht den Glauben an jene Autoritäten aufgeben, die sein ganzes bisheriges Leben beherrscht hatten. Aber der Kinderglaube an die weise Einteilung und gerechte Ordnung aller Dinge hatte einen Stoß erlitten. In sein Blut war ein Stoff getragen worden, der, wenn einmal aufgenommen, nicht mehr zu tilgen ist.
Die neuen Ideen hatten noch keine feste Gestalt angenommen bei ihm; er fürchtete sich vor dieser Weltanschauung. Aber er konnte es nicht verhindern, daß sich ihm die Dinge in die Augen drängten, und daß er sich selbst neuerdings auf Gedanken ertappte, die ihm noch vor kurzem verbrecherisch erschienen wären.
* * *
Gustav und Häschke fuhren in die Stadt ein. Schon lange hatte man an den vereinzelten Häusern mitten im Felde, den Bauplätzen und halbfertigen Straßenreihen, den Feuermauern, Essen und Etablissements aller Art, die Stadt gemerkt. Aus dem Kohlendunst, der, einer düsteren Wolke gleich, am Horizonte stand, konnte man schließen, daß es ein industrielles Centrum sei. Sobald man in den mächtigen Bahnhof mit seiner glasbedachten Halle eingefahren war, übernahm Häschke die Führung; er war auf diesem Pflaster wohlbekannt.
Das erste, was er that, war, sich an einer Straßenecke eine Zeitung mit Wohnungsanzeiger zu kaufen; darin hatte er bald gefunden, was er suchte: »Schlafstellen für Handwerksburschen und Zugereiste noch zu haben bei Müller auf der Feldstraße«.
Häschke kannte die Feldstraße nicht. Aber es war erstaunlich, wie er sich durch die große Stadt zum Ziele fand. Ein- zweimal wurde gefragt – nicht der Polizist, »denn der wird Dir bloß grob, wenn Du keinen guten Rock anhast!« – erläuterte Häschkekarl.
Bei Müller auf der Feldstraße mußten sie vier Treppen steigen. Der Mann war in der Fabrik, die Frau zeigte die Schlafstellen.
In einer Dachkammer, deren Decke schräg abfiel, standen fünf Betten, so eng nebeneinander, daß die hinteren Schlafburschen über die Betten der vorderen steigen mußten. Zwei Betten waren besetzt, »an junge Leute, die auch Arbeit suchen«, wie die Frau mit einem Blicke auf die Berliner der beiden sagte; sie hatte die Fremden mit Kennerblick sofort richtig eingeschätzt.
Man mußte, um zu der Dachkammer zu gelangen, durch das Familienzimmer der Vermieter gehen. Zwei nicht gerade saubere Kinder krochen auf der Diele umher, ein anderes lag im Schlafkorb. Die Frau sah leidend aus und abgehärmt.
Häschke fragte nach dem Preis des Bettes. »Zwei Mark die Woche!« lautete die zaghafte Antwort. Häschke meinte, das sei viel, handelte aber nicht. Den gutmütigen Gesellen dauerte die Frau. Man wurde handelseinig.
Die Wanderburschen legten die ›Berliner‹ ab und suchten, sich fein zu machen; man war ja in der Stadt! Die Wirtin gab dazu ihr eigenes Waschbecken her; auch ein Stück Seife und ein Handtuch fand sich herzu. Man war schnell in gutes Einvernehmen mit der Frau gekommen. Häschke hatte das Wohlgefallen der Mutter durch kleine Späßchen mit den Kindern zu erobern verstanden.
Die beiden verspürten Hunger. Häschke entsann sich einer Kneipe, in der er früher, als er hier als Schlosserlehrling gearbeitet, oft verkehrt hatte. Dort würde man auch allerhand erfahren, was in der Welt vorgehe.
Man befand sich im Fabrik- und Arbeiterviertel der Stadt. Auch jene Kneipe entsprach der Umgebung: nüchtern einfach, für die Verhältnisse des kleinen Mannes berechnet. Häschke rekognoszierte, ehe man eintrat, das Schild. Es war noch der alte Name; also würde wohl auch der alte Geist hier walten.
Man betrat das Lokal. Häschke gab sich als ein alter Kunde der Wirtschaft zu erkennen. Der Wirt schmunzelte verständnisvoll und erklärte, sich seiner noch ganz gut zu entsinnen.
Während der bestellte Imbiß für die beiden zubereitet wurde, setzte sich der Wirt zu ihnen an den Tisch. Er schien ein geistig reger, gut unterrichteter Mann zu sein. Häschke erfuhr von ihm, im Laufe einer Viertelstunde, alles, was er wissen wollte.
Die Lage des Arbeitsmarktes war eine gedrückte, zur Zeit. Für Zugereiste gab es so gut wie gar keine Anstellungsaussichten. Besonders in der Maschinenbranche, nach der sich Häschke erkundigt hatte, gingen die Geschäfte ganz flau. Die Fabriken arbeiteten nur, um nicht schließen zu müssen. Die großen Unternehmer wollten die Krisis benutzen, sich einer Anzahl Arbeiter zu entledigen, und dann die Löhne der übrigen zu drücken. Dazu gab es eine Menge Arbeitsloser, die sich von Tag zu Tag durch Zuzug aus den Kohlenrevieren vermehrten, wo seit einem Monat Strike herrschte. Große Demonstrationen der Arbeitslosen hatten bereits stattgefunden, fast jeden Abend gab es Volksversammlungen, die Polizei hatte zu thun.
Kurz, es ging allerhand Interessantes vor! Der Wirt schmunzelte wiederholt bei seinem Berichte. Ihn erregten diese Dinge durchaus nicht; er fuhr unter allen Umständen gut. Je mehr Unzufriedene, desto stärker der Besuch seines Lokales. –
Alles war hier darauf berechnet, dem Proletarier zu schmeicheln; kein Bourgeoisblatt war zu erblicken, nur Zeitungen einer bestimmten politischen Richtung. Hier bekam Gustav zum erstenmale in seinen Leben Blätter in die Hand, welche er nur aus Verwarnungen der Vorgesetzten dem Namen nach kannte, die er nie anders als mit Abscheu und Entrüstung hatte nennen hören. In einem Kasten, unter Glas, lagen Parteischriften.
Der Wirt war vertraulicher geworden, sobald er gemerkt, daß er in Häschke einen sicheren Genossen vor sich habe. Gustav hörte mit Staunen der Unterhaltung zu. Noch niemals hatte er so freie Reden gehört. Die urteilten über Personen, Behörden, Einrichtungen, die er für unantastbar gehalten hatte, mit einer Geringschätzung, daß ihm eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken lief. Er verstand nicht alles, was sie sagten, denn sie brauchten Ausdrücke und Wendungen, die ihm nicht geläufig waren. Noch war ihm alles das neu und unheimlich, und doch zog es ihn an.
Abends ging es in eine Volksversammlung. Gustav hatte noch nie einen so mächtigen Saal gesehen. Der war höchstens zu vergleichen mit der verdeckten Reitbahn in der Kaserne. Der Raum wurde erleuchtet durch einzelne runde Lampen, die in der Höhe schwebend, das ganze mit mildem weißlichen Licht übergossen, so hell, daß man jedes einzelne Gesicht bis in die entfernteste Ecke des riesenhaften Raumes erkennen konnte. Tausende waren da versammelt. Man saß an Tischen, hatte sein Glas Bier vor sich stehen. Viele, die keinen Platz zum Sitzen gefunden hatten, stauten sich unter den Gallerien, die ebenfalls, bis zur dritten Empore, mit Menschen gefüllt waren.
Und am unteren Ende des Saales auf einem erhöhten Platze, wie auf einer freien Bühne, saßen einige Männer, die Einberufer der Versammlung, neben ihnen ein Polizist; die einzige Uniform in der großen schwarzen Menge.
Gustav verstand nichts von den Vorgängen. Häschke erklärte ihm, daß sie »ein Komitee bildeten«. – Es schienen alles Männer aus dem Volke zu sein, ihrer Sprache und Kleidung nach zu urteilen. Auch der Mann, der jetzt sich zum Worte meldete, war ein Arbeiter, ein »Entlassener und Arbeitsloser«, wie er selbst sagte. Er sprach wohl eine Stunde lang. Die Tausende lauschten seinen Worten mit atemloser Spannung; man konnte nicht andächtiger einer Predigt zuhören. Gustav ward es zu Mute, als befände er sich in der Kirche.
Da brach die Menge auf einmal in ein Gelächter aus, über eine Bemerkung des Redners; darauf Beifallsrufe aus Hunderten von Kehlen. Von da ab wurde der Vortrag häufig unterbrochen, durch Zustimmung. Hin und wieder hörte man auch ein Zischen, aber das wurde sogleich durch verstärktes Bravorufen, Trampeln und Händeklatschen übertäubt. Als der Redner endlich geschlossen hatte, brach ein solcher Lärm los, das Gustav Schlimmes zu fürchten begann.
Das Tosen legte sich im Nu, als der Vorsitzende sich erhob, zu ein paar Worten. »Jetzt hat er die Diskussion eröffnet« erklärte Häschke dem Neuling.
Verschiedene aus der Versammlung traten auf das Podium. Wieder waren es nur ganz einfache Leute. Mancher unter ihnen sah ärmlich aus und herabgekommen. Die meisten erklärten sich als »arbeitslos.«
Und wie sprachen diese Männer! – Gustav konnte es gar nicht begreifen. Bettler und Stromer schienen es zu sein, wie er manchen von seines Vaters Thür gewiesen hatte. Und nun mußte er mit Beschämung erkennen, wie ihm diese einfachen Männer überlegen waren. Wie wußten sie die Worte zu setzen, ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen!
Sie schilderten ihr Elend, berichteten von den Erfahrungen, die sie in der Fabrik, im Bergwerk, auf der Straße, gesammelt hatten. Von der Unbarmherzigkeit der Reichen sprachen sie und der Härte der Arbeitgeber. Dann schilderten sie den Jammer in ihren Familien. Und von diesem düsteren Hintergrund hob sich um so leuchtender ab das Bild der Zukunft: ihre Forderungen, die kühnen Hoffnungen und Erwartungen dessen, was da kommen sollte, der Ausgleich, die Vergeltung, das Glück, das irdische Paradies, welches ihnen prophezeit worden war, von ihren Lehrern, dessen Glanz sich in ihren glühenden Augen spiegelte.
Die Worte dieser Männer griffen Gustav an's Herz. Er fühlte die Not, die sie schilderten, als sei es seine eigene. Er war ganz auf ihrer Seite. Eine Ahnung ging ihm auf von dem, was sie beseelte.
Es war die gemeinsame Sache. Ein Geist, eine Hoffnung, eine Idee sprach aus ihren Blicken, beherrschte ihre Mienen, Bewegungen und Zungen. Eine Idee erfüllte sie, stärkte ihren Mut, entflammte ihre Begeisterung, ihr Hoffen, erhob sie über sich selbst, ließ jeden einzelnen mehr erscheinen, als er war.
Es lag etwas Ansteckendes in dem gleichen Fühlen so vieler; als habe sich der Luft etwas mitgeteilt von dem Empfinden eines jeden Kopfes, das vereinigt wieder zurückwirkte auf den einzelnen. Auch Gustav verspürte diese geheimnisvolle Wirkung des Massengeistes auf sich. Es lebte Großes und Erhebendes in dem Bewußtsein, sich eins zu wissen, in Hoffen und Wollen, mit Tausenden.
Auch ihn erfaßte die Sehnsucht nach dem, was jene erstrebten, das sich mit Worten kaum ausdrücken ließ, und das doch unausgesprochen aus jedem Auge hier leuchtete. Sie tappten unsicher umher, ihre Worte widersprachen sich; sie widersprachen auch einander gegenseitig in ihren Reden, stammelnd suchten sie nach Ausdrücken, um das zu sagen, was in ihrem Herzen lebte, unklar und verworren, was in jedem dieser Köpfe eine andere Gestalt angenommen. Und doch war etwas Gemeinsames da, das in der Tiefe der Gemüter schlummerte: die Sehnsucht nach dem Glück.
Elend waren sie und verkommen. Die Gegenwart war für sie eine dunkle Höhle, weit abgelegen von aller Schönheit der Oberwelt. Ihre Augen waren starr auf jenes kleine ferne Loch in der Höhe gerichtet, durch welches Licht und Sonnenwärme zu ihnen drang; dort hinauf wollten sie. –
Gustav übersah die Versammlung. So viel ernste Männerköpfe! Die meisten bleich, sorgenvoll, schmerzgeprüft. Konnte man sich vorstellen, daß diesen nicht ihr Recht werden sollte? –
Eines war ihm an diesem Abende klar geworden: schlecht waren diese Menschen nicht. Nicht Bosheit und Niedertracht beherrschte sie; sie trieb ein Streben, das auch ihn beseelte, wie jeden anderen Sterblichen: das Verlangen nach Besserung.
Inzwischen hatte ein neuer Redner das Wort erhalten. Es war ein kleiner kränklich aussehender Mann. Er sprach mit heiserer Stimme, die dort, wo Gustav saß, kaum zu vernehmen war. Er schien erregt und leidenschaftlich, mit ein und derselben, immer wiederholten hämmernden Handbewegung stieß er seine abgerissene rauhe Rede hervor. Etwas von »Kapitalismus« und »Bourgeoisregierung« drang an Gustavs Ohr.
An den hinteren Tischen wurde man unruhig. »Lauter!« rief jemand dem Redner zu. Der Mann erhob die Stimme und sagte nunmehr deutlich vernehmbar: »Wie kann man von Behörden, oder Regierung, Abstellung unseres Notstandes erwarten, wenn die auf's engste verbunden sind mit der blutsaugerischen Unternehmerclique, ja, wenn die nur die Handlanger sind des Kapitalismus . . .«
Während er diese Worte in die Versammlung rief, hatte sich der Polizeioffizier erhoben. Er setzte den Helm auf und erklärte die Versammlung für aufgelöst.
Die meisten Anwesenden waren gleichzeitig von ihren Plätzen aufgesprungen. Das Rufen von tausend entrüsteten Männern ertönte wie ein einziger Schrei des Zornes. Ein Sturm, ein Tosen, erhob sich, in dem die einzelne Stimme verschlungen wurde, wie die kleinen Wellen von der zur Flutwelle aufgepeitschten Brandung.
Gustav erbebte. Was würde jetzt werden! In den Gesichtern umher las er Ingrimm und trotzige Entschlossenheit. Was konnte der entfesselten Wut dieser Tausende widerstehen?
Der Polizeioffizier stand unbeweglich vorn auf dem Podium, er musterte das tobende Meer zu seinen Füßen, scheinbar unerschrocken. Der Vorsitzende verschaffte sich durch Winke und Zeichen soviel Ruhe, daß seine Aufforderung, ruhig auseinander zu gehen, gehört ward.
Zwar wurden Fäuste geschüttelt, manch haßerfüllter Blick traf den Vertreter des Gesetzes da oben, manch halbunterdrücktes giftiges Wort erklang; aber dabei blieb es. Allmählich, in größerer Ruhe und Ordnung, als man es bei einer solchen Menschenfülle für möglich gehalten hätte, setzte sich die Menge in Bewegung und räumte den Saal.
Draußen auf der Straße freilich war erst zu erkennen, wie gut die Versammlung all die Zeit über bewacht gewesen war. Im Lichte der Gaslaternen blitzten Pickelhauben. Einzelne Berittene sprengten auf und ab und hielten den abströmenden Zug in steter Bewegung.
Gustav hatte das Bewußtsein, etwas Großes erlebt zu haben. Eine Ahnung war ihm aufgegangen, daß es Kämpfe gab in der Welt, von denen er daheim, wenn er hinter den Pferden einhergeschritten war, sich nichts hatte träumen lassen. Ein Vorhang war weggerissen worden vor seinen Augen, der ihm eine ganze Welt verborgen gehalten hatte.
Die nächsten Tage brachten neue Erlebnisse.
Er ging mit Häschke in die Arbeitsnachweisbüreaus und in die Fabriken. Da sah er in langen Reihen die Arbeitsuchenden stehen: Männer, die ihre Fertigkeiten, ihre Kräfte, anboten, wie eine Ware. Er hörte die geschäftsmäßigen kalten Fragen der Büreauchefs, er sah die verzweifelten Mienen der Abgewiesenen, vernahm unterdrückte Seufzer und wilde Flüche.
Dann wohnte er noch anderen Volksversammlungen bei. Er hörte die Rede eines berühmten Reichstagsabgeordneten der Arbeiterpartei. Durch Häschke lernte er einzelne Genossen kennen. Er bekam einen Begriff von dem Dasein einer weitverzweigten mächtigen Verbindung, einer Macht, die weit hinein reichte, in alle Verhältnisse.
Und je mehr er sah, je mehr zog ihn an, was er kennen lernte. Es war, als sei er an den Rand eines Strudels geraten. Er fühlte, daß er da hinabgerissen werden sollte, widerstrebte und wurde doch in den verfänglichen Kreis hineingetrieben.
Als Soldat hatte er mehr als vier Jahre in der Stadt zugebracht; aber wo hatte er seine Augen damals gehabt! Jetzt erst, schien es ihm, wisse er, wozu er überhaupt lebe. Bis dahin hatte er hingedämmert ohne Sinn und Verstand. Er sah auf einmal die Welt mit ganz anderen Augen an. Hier allein in der großen Stadt war das Leben des Lebens wert, wo jeder Augenblick neue Erlebnisse, neue Erfahrungen, brachte.
Aber dieses schöne Leben fand sein Ende. Eines Tages beim Überzählen seiner Barschaft entdeckte Gustav, daß er kaum noch so viel habe, um nach Hause reisen zu können. Die letzten Tage hatten viel gekostet. Da war mancher Groschen für die arbeitslosen Genossen draufgegangen.
Häschke hatte auch nichts mehr, aber er nahm Vorschuß und konnte so Gustav aushelfen.
Eines Tages trennten sie sich. »Mach's gut, Schwager!« sagte Häschkekarl zum Abschiede. »Und wenn Dir's in Halbenau nich gefallen will, dann denk' an Häschken. Ich wer' Dir 'n Platz hier warmhalten.«