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Durchdringend und dröhnend rief die große Dampfsirene die Passagiere an Bord. Die mächtige, stolze »Manchuria« der P. und O.-Linie hatte die Rückfahrt aus Ostasien beendet und war dabei, am Pier in Southampton anzulegen. Die Fahrgäste brauchten aber nicht erst nach oben gerufen zu werden, sie standen schon alle mit ihrem zahlreichen Kabinengepäck auf den Promenadendecks bereit, begierig, endlich an Land zu gehen. Die Stewards waren eifrig tätig und brachten immer noch mehr Koffer an Bord.
Die Pfeife des Bootsmannsmaats schrillte. Malaiische Matrosen mit roten Kopftüchern liefen über das Welldeck, verteilten sich an der Längsseite des Schiffes, die dem Land zugekehrt war, und hielten sich an den großen Halteseilen bereit. Der Maschinentelegraph klingelte, und es ertönten all die bekannten Geräusche, die bei der Landung eines Ozeanriesen dem Anlandrollen der Brücken vorausgehen.
Mit viel Geschick hatte der alte, erfahrene Kapitän in kürzester Zeit das Landungsmanöver ausgeführt, und nun rasselten die schweren Anker mit ohrenbetäubendem Lärm ins Wasser.
»Haben Sie die kleine, schwere Kiste unter meinem Bett heraufgeschafft?« rief Jim Carley seinem Kabinensteward zu, der eben, mit Koffern beladen, an der Tür des Promenadendecks auftauchte und von allen Seiten bestürmt wurde.
Der Mann hatte es nicht gehört. Carley ließ seine Koffer an der Reling stehen und ging auf ihn zu, aber es dauerte einige Zeit, bis dieser alle Gepäckstücke abgeliefert hatte.
Jim wiederholte seine Frage.
»Bis jetzt bin ich noch nicht dazu gekommen. Die Kiste ist außerdem so entsetzlich schwer, als ob Blei oder Gold darin wäre.«
»Gold ist wohl kaum darin«, erwiderte Carley lächelnd. »Aber sorgen Sie vor allem dafür, daß sie nach oben kommt.«
»Ach, wie gut, daß ich Sie noch treffe«, wandte sich Eleanor McCarthy, eine hübsche junge Dame, an ihn. Ihre Augen leuchteten auf, als sie in sein sonnengebräuntes Gesicht sah. Carley war mit seinen achtundzwanzig Jahren wirklich eine schöne Erscheinung und hatte einen durch Arbeit und Sport gestählten Körper.
Eleanors Mutter hatte sich auch einen Weg zu ihm gebahnt.
»Schade, daß wir uns nur noch im letzten Augenblick sehen«, fuhr Miß McCarthy fort.
»Vergessen Sie nur Ihr Versprechen nicht, uns in unserem Landhaus in Essex zu besuchen«, sagte ihre Mutter. Sie hatte während der langen Überfahrt Carley schätzen gelernt und hätte es zu gern gesehen, wenn er sich mit Eleanor verlobt hätte.
»Ja, ich komme, wenn meine dringendsten Geschäfte in London erledigt sind«, erwiderte er hastig.
Er hatte während der Seereise ganz gern mit Eleanor getanzt, aber jetzt beschäftigten ihn andere Gedanken, und diese Störung war ihm peinlich und unerwünscht. So höflich wie möglich verabschiedete er sich.
Die erste Brücke rollte vom Promenadendeck der zweiten Klasse an Land. Gewandt und schnell wurde sie von den Matrosen befestigt, aber noch durfte kein Passagier das Schiff verlassen. Auch die anderen Landungsbrücken von der ersten Klasse und dem Zwischendeck wurden vertäut.
Der Kabinensteward war wieder verschwunden, nachdem ihm auch andere zugerufen hatten. Er hatte nur nach allen Seiten genickt, und sicher hatte er die Hälfte der Aufträge nicht gehört oder vergessen.
Ungeduldig ging Carley wieder zu seinen beiden Handtaschen und dem großen Kabinenkoffer. Er hatte sich die Rückkehr in die Heimat nach mehrjährigem Aufenthalt in Hinterindien anders vorgestellt.
Der Obermaat gab nun die Brücken frei, und es kam ein Strom von Gepäckträgern und anderen Leuten an Bord. Soweit wie möglich halfen die Schiffsstewards den Passagieren, das Gepäck zum Zollschuppen, zu bringen.
Carley wartete noch auf seine Kiste, aber als er sah, daß schon fast alle Gepäckträger beschäftigt waren, winkte auch er einen kräftigen Mann in blauer Bluse herbei.
»Bringen Sie meine drei Koffer zur Verzollung und sehen Sie, daß Sie einen Platz an der Zollschranke für mich reservieren. Ich komme sofort nach.«
»Jawohl«, sagte der Mann gemütlich, schnallte mit einem Riemen die beiden Handtaschen zusammen und schulterte den schweren Koffer.
Carley eilte nervös zum Treppenhaus und zu seiner Kabine. Unterwegs begegnete er seinem Steward, der die kleine Kiste keuchend den Gang entlangschleppte. Er kehrte sofort um, damit er ihm nicht im Weg stand. Am Fuß der Treppe, die nach oben zum Promenadendeck führte, blieb der Steward stehen und setzte seine Last auf die unterste Stufe nieder.
»Ich werde noch einen Träger vom Pier rufen. Bleiben Sie so lange hier.«
Mit schnellen Schritten eilte Carley die Treppe hinauf und war bald unten auf dem Kai, aber er bekam keinen Träger mehr. Was sollte er nun tun? Die Kiste durfte er unter keinen Umständen im Stich lassen. Sie war das wichtigste Stück seines ganzen Gepäcks, und um ihretwillen hatte er die lange Reise gemacht und vor der Zeit Urlaub genommen. Hilfesuchend sah er sich auf dem breiten Pier um, aber da er im Augenblick niemand fand, der sie tragen konnte, ging er auf den Zollschuppen zu.
»Haben Sie schon Ihren Paß visitieren lassen?« fragte ihn ein Hafenbeamter in Uniform. »Paßkontrolle, bitte, rechts.«
Jim schüttelte den Kopf und steuerte nach links auf den Zollschuppen zu.
»Halt – erst Paßkontrolle!«
Carley mußte sich wohl oder übel fügen. Er war der letzte der Passagiere und stellte sich hinten an.
»Rechts Engländer – links Ausländer!« rief ihm ein Beamter zu, der ihm ansah, daß er auf der verkehrten Seite stand.
Mit einem Seufzer der Erleichterung trat Jim nach rechts hinüber, wo die Abfertigung bedeutend schneller ging. Immerhin dauerte es noch einige Zeit, bis er seinen Paß vorlegen konnte und den Landungsstempel erhielt.
Im Zollschuppen herrschte fieberhafte Tätigkeit. Koffer wurden geöffnet, und kurz, ruhig und gemessen stellten die Beamten ihre Fragen. Diesmal war der Dampfer ziemlich stark besetzt gewesen, und es gab viel zu tun.
Nach einigem Suchen fand Carley seinen Gepäckträger, der schon verzweifelt nach ihm Ausschau hielt.
In dem Augenblick trat ein Zollbeamter auf Carley zu und reichte ihm eine Liste von zollpflichtigen Dingen.
»Haben Sie Feuerwaffen, Explosivstoffe, Munition, Konterbande in Ihren Koffern?«
»Nein. Ich bin kein Anarchist oder Bolschewist, und ich habe weder Bomben, Dynamit noch Ekrasit, um England in die Luft zu sprengen.«
Der Beamte grinste, ließ eine Handtasche öffnen und malte dann mit grüner Kreide ein sonderbar verschnörkeltes Zeichen darauf. Niemand konnte es enträtseln, aber es bedeutete soviel, daß die Revision beendet war.
»Soll ich die Koffer zum Londoner Zug bringen?« fragte der Gepäckträger.
»Nein, bleiben Sie hier. Ich muß noch einmal auf den Dampfer zurück und nachsehen, wo mein letztes Gepäckstück bleibt.«
»Beeilen Sie sich aber, der Zug geht bald ab.«
Im Laufschritt überquerte Jim den Pier. Er ärgerte sich, daß die Landungsbrücke nicht frei war und er ruhig hinter einer Gruppe von Arbeitern, hergehen mußte, die es nicht sehr eilig zu haben schienen. Auf dem Promenadendeck wandte er sich nach der Treppe und stieß bei einer Biegung heftig mit einem Angestellten zusammen. Als er an der Stelle ankam, an der er seinen Steward zurückgelassen hatte, war dieser natürlich verschwunden, und von der Kiste war nichts mehr zu sehen.
Aufgeregt stürzte Carley den Gang entlang und stieg schließlich wieder zum Speisesaal hinauf, wo der Obersteward und mehrere seiner Leute Tischwäsche und Bestecke nachzählten und forträumten.
»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte der Mann liebenswürdig, als er Carley sah.
Dieser trug sein Anliegen vor, und der Obersteward gab ihm jemand mit, der ihm behilflich sein sollte.
Als sie zur Treppe kamen, entdeckten sie die kleine Kiste, die in eine dunkle Ecke geschoben war, damit sie nicht im Weg stehen sollte.
Carley und der Steward hoben sie auf und schleppten sie mühsam aufs Promenadendeck. Als sie die Landungsbrücke erreichten, waren aber beide in Schweiß gebadet und mußten sie niedersetzen.
»Wie kommt das Ding überhaupt in Ihre Kabine?« fragte der Steward. »Das hätten Sie doch im Laderaum abgeben müssen!«
»Schon gut. Jetzt handelt es sich nur noch darum, sie durch den Zoll zu bringen.«
Carley erkannte, daß der schmächtige Steward ihm nicht mehr helfen konnte. Glücklicherweise entdeckte er einen Kohlentrimmer, der unten am Kai stand und anscheinend nichts zu tun hatte. Er winkte ihm, und nachdem er ihm einen Geldschein gezeigt hatte, stieg der breite, untersetzte Mann schwerfällig die Brücke hinauf. Mit seinen starken, großen Händen packte er die Kiste, hob sie auf die Schulter und ging breitbeinig den Landungssteg hinunter.
Carley folgte ihm und sah nach der Uhr. Der Anschlußzug nach London war noch nicht abgefahren, er hielt noch auf der anderen Seite des Zollschuppens.
Schließlich war Carley bei seinem Gepäck angelangt. Der Beamte, der kurz vorher Jims Koffer geprüft hatte, kam auf ihn zu. Carley war der letzte Passagier, der noch nicht abgefertigt war. Schwer setzte der Trimmer die kleine, mit Bandeisen verschlossene Kiste auf den Tisch.
»Bitte, öffnen Sie.«
»Das geht nicht so schnell.«
»Was haben Sie denn darin? Etwa doch Bomben?«
»Nein, Gesteinsproben.«
Der Beamte warf dem jungen Mann einen fragenden Blick zu.
»Ich muß unter allen Umständen den Anschlußzug nach London noch erreichen.«
»Dann können Sie die Kiste ja hierlassen und Ihre Adresse angeben. Sie geht unter Zollverschluß mit dem nächsten Zug nach London zum Zollamt.«
Die Lokomotive pfiff. Carley warf einen Blick durch die große, offene Tür und sah, daß der Zug sich langsam in Bewegung setzte.
»Schade!« meinte der Gepäckträger mitfühlend.
Carley wußte, daß das Öffnen der Kiste zu große Schwierigkeiten machen würde, und nahm den Vorschlag des Beamten an.
Eine Viertelstunde später saß er enttäuscht in einem Personenzug, der den Umweg über Portsmouth und Guildford machte und auf fast allen Stationen hielt.