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21.

Evelyn Rolands wurde aufgerufen und trat in den Zeugenstand.

Der Vorsitzende schlug in den früheren Protokollen nach.

»Sie haben gestern abend bei Ihrer Vernehmung durch Inspektor Crawford angegeben, daß Sie vom Portier des Ardmay-Hotels erfuhren, es wäre nach Ihnen angerufen worden.«

»Ja.«

»Haben Sie die Sache inzwischen genauer untersucht?«

»Ja.«

»Und wie verhielt sie sich?«

»Das Zimmermädchen in unserem Korridor ist vor einigen Tagen neu eingestellt. Ich habe sie heute in Gegenwart des Geschäftsführers ausgefragt, und sie machte einen ziemlich nachlässigen Eindruck. Bestimmt weiß sie eigentlich nur, daß ich am Telephon verlangt wurde, und daß die Zentrale das Gespräch nach oben durchgab. Da ich nicht zugegen war, nahm sie es an, obwohl das gegen die Vorschrift verstößt. Als ich in sie drang, sagte sie, daß sie nicht genau hätte verstehen können, weil Störungsgeräusche in der Leitung auftraten. Sie hätte nur etwas gehört, daß Miß Rolands zur Bruton Street kommen oder nicht kommen sollte.

Nach allem, was vorgefallen ist, glaube ich, daß Sir Richard mir abtelephonierte, denn wenn er gewußt hätte, daß ich unten auf ihn wartete, wäre er bestimmt in die Bibliothek gekommen und hätte mit mir gesprochen.«

»Hat sich Sir Richard in gewisser Weise für Sie interessiert?«

»Ja«, erwiderte sie zögernd und errötete.

»Aus den Protokollen geht hervor, daß Sie mit Mr. Carley bekannt wurden, und daß dieser über das Verhalten seines Onkels Ihnen gegenüber sehr aufgebracht war.«

Evelyn wurde klar, was der Vorsitzende bezweckte, und sie erkannte, daß ihre Aussagen Carley belasten mußten. Nun bereute sie bitter, daß sie am vergangenen Tag Inspektor Crawford vertrauensselig so weitgehende Auskunft gegeben hatte. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich an die Wahrheit zu halten.

»Ja«, entgegnete sie leise.

»Ich danke Ihnen.«

Als nächster wurde der Butler aufgerufen.

»Mr. Miller, Sie haben sich mehrmals mit Mr. Carley über dessen Onkel unterhalten. Hat er bei dieser Gelegenheit Nachteiliges über ihn gesagt?«

»Nein, das nicht, aber er war sehr empört, daß Sir Richard sich nicht sprechen ließ, und er sagte, er würde es ihm heimzahlen.«

Es ging eine Bewegung durch den Saal, denn alle waren sieh der Tragweite dieser Aussagen bewußt. Verschiedene Frauen sahen sich nach der ersten Bank um, auf der Jim Carley saß. Er preßte die Lippen aufeinander und schien mit Gleichmut die für ihn ungünstigen Aussagen anzuhören.

Der Vorsitzende stellte noch einige nebensächliche Fragen an Miller, dann wurde Rechtsanwalt Stetson aufgerufen.

»Seit wann kennen Sie Sir Richard Richmond?«

»Seit fünfzehn Jahren ist er mein Klient. Und seit zwölf Jahren verwalte ich einen großen Teil Beines Vermögens.«

»Sie kannten auch seinen Neffen James Carley?«

»Ja.

»Hat Sir Richard mit Ihnen über ihn und seine Pläne in Birma gesprochen?«

»Ja, er hat mich in alles eingeweiht.«

»Wie war das Verhältnis zwischen den beiden?«

»Seit Mr. Carley in Birma tätig war, verstanden sie sich gut, und als Mr. Carley dann von der Auffindung der großen Erzlager berichtete, war Sir Richard direkt begeistert von seinem Neffen. In letzter Zeit und wahrscheinlich infolge der Krankheit schlug dieses gute Einvernehmen ins Gegenteil um, ja, Sir Richard vernachlässigte seine Pflichten gegenüber Mr. Carley, der doch soviel im Interesse seines Onkels getan hatte.«

»Sie haben sich auch mit Mr. Carley darüber! unterhalten? Wie nahm er die Sache auf?«

»Erklärlicherweise war er entrüstet und empört über das Verhalten seines Onkels.«

»Hat er irgendwelche Äußerungen darüber getan?«

»Ja, er sagte einmal in der Erregung, daß er mit ihm abrechnen wollte.«

Diese Äußerung, die Carley noch schwerer belastete, machte auf alle großen Eindruck. Aber merkwürdigerweise waren die Sympathien der Zuhörer auf seiner Seite. Viele sahen zu ihm und zu Miß Rolands hinüber, die nebeneinander saßen und dem Gang der Verhandlung gespannt folgten. Auf Carleys Zügen zeigte sich eine gewisse Verbissenheit.

»Sie haben Sir Richard zum letztenmal bei der Unterredung in Ihrem Büro von vier bis halb fünf gesehen? Ist das das letztemal daß Sie mit ihm in Verbindung standen?«

»Nein. Er hatte mir gestern bei der ernsten Unterredung zugesagt, daß er sich in den nächsten Tagen endlich von Professor Haviland untersuchen lassen wollte. Einen genauen Zeitpunkt wollte er sich noch überlegen. Ich versuchte deshalb, ihn gestern abend anzurufen, um in der Angelegenheit mit ihm weiterzukommen und ihn auf eine bestimmte Zeit festzulegen. Vor allem aber wollte ich ihn noch einmal an die Kaution erinnern, die doch in den nächsten Tagen gezahlt werden muß.«

»Und haben Sie mit ihm gesprochen?«

»Ja.«

»Wann?«

»Als ich einhängte, sah ich zufällig auf die Uhr – es war fünf Minuten nach neun. Das Gespräch, das ich mit ihm führte, war nur sehr kurz.«

Evelyn zuckte zusammen und tastete unwillkürlich nach Jims Hand. Fieberhaft arbeiteten ihre Gedanken. Was konnte sie tun, um Carley zu entlasten? Durch Stetsons Aussage wurde festgestellt, daß Sir Richard um neun Uhr fünf noch lebte! Um neun Uhr sieben war Carley zum Haus gekommen, und drei Minuten später war er von Miller getroffen worden, als er aus dem Arbeitszimmer heraustrat, in dem sein Onkel ermordet auf dem Boden lag.

»Was haben Sie denn bei Sir Richard erreicht?« fragte der Vorsitzende weiter.

»Er war kurz angebunden und ablehnend. Seine Stimmung mir gegenüber war geradezu feindlich. Von der Bezahlung der Kaution wollte er überhaupt nichts wissen. Ich hätte am liebsten gleich eingehängt, aber ich hatte mich Mr. Carley gegenüber verpflichtet, die Sache mit der Konzession in Ordnung zu bringen. Ich überlegte schon ernstlich, ob ich bei der offensichtlichen geistigen Störung Sir Richards nicht berechtigt wäre, von mir aus die Zahlung wenigstens eines Teils der Kaution zu veranlassen, vor allem da ich die besonderen Beziehungen zwischen Mr. Carley und seinem Onkel kenne.«

»Was meinen Sie mit – besonderen Beziehungen?«

»Sir Richard war Junggeselle und sagte mir schon vor mehreren Jahren, daß er in seinem Testament Mr. Carley als Haupterben einsetzen wollte.«

Wieder trat eine Bewegung ein, und der Vorsitzende sah auf. Hierdurch kam ein ganz neues Moment in die Verhandlung. Auch Inspektor Crawford drehte sich zu Belling und Pemberton um und besprach sich mit ihnen.

»Haben Sie den Wortlaut des Testamentes aufgesetzt?«

»Nein. Er hat das Testament selbst abgefaßt und eigenhändig geschrieben.«

»Hat er es Ihnen zur Aufbewahrung übergeben?«

»Nein. Ich riet ihm das zwar, und er hatte wohl auch die Absicht, es zu tun, aber er kam nicht dazu. Und ich habe schließlich auch nicht mehr gedrängt. Später geriet es in Vergessenheit.«

Der Vorsitzende warf einen Blick in die Akten. Er blätterte verschiedene Bogen um und schien etwas zu suchen. Dann unterbrach er kurz die Vernehmung Stetsons.

»Inspektor Crawford.«

Der Beamte erhob sich.

»Sind die Papiere von Sir Richmond durchgesehen worden?«

»Ja. Sergeant Belling hat die Durchsuchung der Wohnung nach Schriftstücken durchgeführt und dabei auch den Inhalt des Schreibtisches durchgesehen.«

»Ist das Testament gefunden worden?«

»Nein.«

Der Vorsitzende dankte und wandte sich wieder dem Zeugen zu.

»Hat Mr. Carley etwas davon erfahren, daß er als Haupterbe von seinem Onkel eingesetzt worden war?«

»Das kann ich nicht bestimmt sagen, aber ich nehme es an, denn Sir Richard sprach immer davon als von einer feststehenden Tatsache.«

Um diese Frage zu klären, ließ der Vorsitzende Stetson als Zeugen abtreten und rief Carley aufs neue vor.

Langsam stand Jim auf und richtete sich zu seiner vollen Höhe auf. Er fühlte, daß alle Blicke auf ihm ruhten. Sein Gesicht war bleich, aber er sah entschlossen aus und biß die Zähne zusammen, während er an den Verhandlungstisch trat.

»Hat Ihr Onkel Ihnen mitgeteilt, daß er Sie zum Erben seines Vermögens eingesetzt hat?«

Eine kleine Pause trat ein, aber dann sagte Carley deutlich und klar:

»Ja.«

»Wann haben Sie das erfahren?«

»Als ich meinem Onkel die Entdeckung der Erzlager mitteilte, antwortete er mir erfreut und schrieb in demselben Brief, daß er mich zum alleinigen Erben eingesetzt hätte. Daran knüpfte er die Bemerkung, daß ich bei Erlangung der Konzession also auch in eigenem Interesse arbeitete. Das war vor etwa anderthalb Jahren.«

Die Zuhörer mußten annehmen, daß Carleys Schuld nahezu bewiesen war. Alle erwarteten, daß der Vorsitzende jetzt eine Zusammenfassung der bisherigen Untersuchung geben würde, und es schien unvermeidlich zu sein, daß die Geschworenen Carley als vermutlichen Täter bezeichnen würden.

Aber es gab eine Unterbrechung. Evelyn Rolands erhob sich, und während alle gespannt schwiegen, wandte sie sich an den Richter.

»Bitte, vernehmen Sie mich noch einmal.«

»Warum?« fragte der Vorsitzende erstaunt.

Die Geschworenen beugten sich vor und sahen zu ihr hinüber.

»Weil mir eben noch etwas Wichtiges eingefallen ist.«

Er ging auf ihre Bitte ein. Auch er fühlte, daß sie etwas zur Verteidigung Carleys vorzubringen hatte. Bald darauf stand sie im Zeugenstand. Einen Augenblick lang hatte er die Absicht, sie noch einmal zu ermahnen, die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit zu sagen, aber als er ihr dann ins Gesicht sah, unterließ er es.

»Worum handelt es sich denn?«

»Als ich am Montagabend in der Bibliothek wartete, hörte ich oben ein Geräusch, als ob ein Stuhl geschoben würde.«

Sie machte eine Pause.

»Das haben Sie bei Ihrer Vernehmung bereits angegeben. Haben Sie sonst etwas wahrgenommen?«

»Ja. Kurz darauf hörte ich, daß es klingelte, aber dazwischen gab es einen dumpfen Laut, als ob etwas Schweres zu Boden fiele.«

»Könnte das ein menschlicher Körper gewesen sein?«

»Das kann ich nicht genau sagen. Aber als ich mir eben noch einmal die entscheidende Zeitspanne vergegenwärtigte, erinnerte ich mich deutlich an diesen dumpfen Laut.«

Viele im Saal atmeten erleichtert auf. Es war also doch noch eine schwache Hoffnung vorhanden, daß Jim Carley nicht der Mörder war. Aber manche hatten wohl Mitgefühl mit Carley und Evelyn Rolands und glaubten nicht an diesen Entlastungsversuch. Wahrscheinlich sagte sie dies nur, um dem Mann, den sie liebte, zu helfen.


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