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Am nächsten Morgen trat Inspektor Crawford in sein Amtszimmer und sah schnell die Eingänge durch, aber er fand nichts Wichtiges darunter. Während er auf die einzelnen Aktenstücke ein paar Notizen machte, klopfte es.
Auf sein »Herein!« erschien Sergeant Belling.
»Ich habe eben mit Stetson in seiner Wohnung gesprochen«, berichtete er. »Er war gerade aufgestanden und wollte um neun Uhr in sein Büro fahren. Natürlich hatte er die Sache bereits in der Morgenzeitung gelesen und war sehr erstaunt, daß Sir Richard ein so tragisches Ende gefunden hat. Ich sagte ihm, daß wir ihn unbedingt sprechen müßten, und er erwiderte bereitwillig, daß er sofort nach Scotland Yard kommen würde. Ich habe den Eindruck, daß er uns in jeder Weise helfen will, den geheimnisvollen Fall zu klären.«
Crawford nickte.
»Stetson hat uns ja schon in manchen Prozessen wertvolle Dienste geleistet, und er hat immer gut mit der Polizei gestanden. Vor allem ist er großzügig, und man kann eine Sache mit ihm auch einmal vertraulich besprechen, ohne fürchten zu müssen, daß gleich alles an die große Glocke kommt.«
»Kann ich jetzt zur Oper gehen?« fragte Belling.
»Ja. Es genügt, wenn ich allein mit Stetson rede. Fahren Sie aber zuerst zur Bruton Street. Sergeant Pemberton und seine Leute werden bei Tagesanbruch das Haus wahrscheinlich noch einmal durchsucht haben, vermutlich auch den Hof und die nähere Umgebung. Vielleicht haben sie neue Anhaltspunkte gefunden. Sehen Sie sich einmal im Arbeitszimmer um und prüfen Sie vor allem den Inhalt des Schreibtisches. Sicher werden Sie den Briefwechsel zwischen Carley und seinem Onkel finden. Vergessen Sie auch nicht, daß Schriftstücke in der Bibliothek und im Schlafzimmer sein könnten. Dann gehen Sie nach Covent Garden.«
Als Belling das Büro verlassen hatte, legte Crawford eine Liste der Leute an, die bisher im Fall Richmond als Zeugen vernommen worden waren.
Der Butler Miller war kein einwandfreier Charakter, also mußte sein Vorleben nachgeprüft werden. Crawford notierte das auf einen Laufzettel.
Der schwerste Verdacht fiel aber im Augenblick auf Carley – daran hatte sich seit dem vergangenen Abend nichts geändert.
Konnte auch Evelyn Rolands als Täterin in Frage kommen? Auf jeden Fall mußte festgestellt werden, ob das Telephongespräch nach dem Ardmay-Hotel geführt worden war. Vielleicht wußte sie, daß Sir Richard an dem Abend allein in seinem Arbeitszimmer sein würde, und hatte erfahren, daß das Personal, auch der Butler, ins Kino gehen wollte. Sie besaß einen Schlüssel zum Haus, konnte also unbeobachtet das Haus betreten. Ihren Angaben nach war sie um halb neun gekommen – das brauchte aber nicht zu stimmen. Wenn sie sich gegen neun nach oben schlich, Sir Richard in seinem Zimmer überraschte und ihn nach einem kurzen Wortwechsel niederschoß, wurde sie durch das Klingeln um neun Uhr sieben plötzlich erschreckt. Dann eilte sie wahrscheinlich über die Galerie die Haupttreppe hinunter und blieb in der Bibliothek. Carley entdeckte den Mord und wurde vom Butler im Zimmer gefunden – aber nein, das konnte nicht sein. Während des Verhörs hatte er sie genau beobachtet. Ihr offener Blick sprach von einem aufrichtigen Charakter. Immerhin konnte es auch nicht schaden, wenn man ihr Vorleben untersuchte.
Während er noch darüber nachdachte, meldete ein Beamter, daß Anwalt Stetson gekommen wäre und ihn zu sprechen wünschte.
»Führen Sie ihn gleich zu mir.«
Kurz darauf erschien Stetson, nahm das Monokel aus dem Auge und ließ es in die Brusttasche gleiten. Wie immer war er tadellos gekleidet. Er ging auf Crawford zu und schüttelte ihm herzlich die Hand. Auf die Einladung des Inspektors hin nahm er in einem Sessel Platz, der neben dem Schreibtisch des Inspektors stand. Dann setzte er eine Hornbrille auf.
»Ich habe bereits alles gelesen, was die Zeitungen über den Fall berichten«, begann er. »Das kam auch mir ganz unerwartet.«
»Wenn ich recht unterrichtet bin, sind Sie der Anwalt Sir Richards?«
»Ja, seit vielen Jahren.«
»Sie verwalten auch sein Vermögen?«
»Ja. Das war allerdings in der letzten Zeit manchmal nicht mehr leicht.«
»Wieso?«
»Vor etwa viereinhalb Monaten hatte er einen an sich leichten Unfall, der aber weitere Folgen nach sich zog. Sein Charakter änderte sich, und die Ärzte schickten ihn deshalb auf eine längere Seereise. Körperlich war er bald wieder hergestellt, aber er machte jetzt große Geldausgaben und wurde leichtsinnig. Ich mußte in seinem Auftrag gutangelegte Aktien veräußern und ihm Geld nachsenden. Es wurde so schlimm, daß ich deshalb mit Professor Haviland, dem Spezialarzt, der ihn früher behandelte, in Verbindung trat und mit ihm besprach, was man dagegen tun könnte.«
»Und was riet der Professor?«
»Wir kamen überein, daß ich Sir Richard unter allen Umständen nach London zurückrufen sollte, damit er noch einmal untersucht werden könnte.«
»Hat diese Untersuchung stattgefunden?«
»Nein. Sir Richard hat mir immer ausweichende Antworten gegeben. Direkt abgelehnt hat er es nicht, aber meinen Bemühungen passiven Widerstand entgegengesetzt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Früher konnte ich ihn aufsuchen und sprechen, wann ich wollte, aber in letzter Zeit ging er mir absichtlich aus dem Weg. Meistens war er nicht zu Hause, und ich mußte mich auf kurze Telephongespräche mit ihm beschränken. Er hat verschiedentlich versprochen, mich in meinem Büro aufzusuchen, aber er ist nicht gekommen.«
»Also schien er überhaupt die Neigung zu haben, unangenehmen Besprechungen aus dem Weg zu gehen? Sein Neffe hat auch darüber geklagt.«
»Ja. Mr. Carley hat mich in der Angelegenheit aufgesucht, und ich hatte ihm versprochen, die Sache wegen der Bergwerkskonzession mit seinem Onkel in Ordnung zu bringen und zu veranlassen, daß die fällige Kautionssumme von zehntausend Pfund in den nächsten Tagen gezahlt werden sollte.«
»Bitte, erklären Sie mir das genauer.«
Stetson berichtete, was er über das Verhältnis von Carley zu seinem Onkel und über die Konzession in Birma wußte.
Crawford nickte.
»Einen Teil davon hatte ich bereits auf andere Weise erfahren.«
»Es ist charakteristisch für den Geisteszustand von Sir Richard, daß er sich um dieses wichtige Projekt, das er doch vorher selbst mit größtem Interesse verfolgte und betrieb, plötzlich nicht mehr kümmerte.«
»Gestern ist Miß Ria Bonati nach elf Uhr in seinem Haus erschienen und hat behauptet, daß sie mit ihm verlobt wäre, und daß er sie bald hätte heiraten wollen. Ist Ihnen das bekannt?«
»Nein. Einer der wenigen Punkte, die ich nicht mit ihm besprechen konnte, betraf sein Verhältnis zu Miß Bonati.«
»Was wissen Sie denn überhaupt von seiner Bekanntschaft mit ihr?«
»Er reiste über Paris nach Marseille, von wo aus er eine Fahrt um die Welt antreten wollte.«
»Wie lange sollte denn diese Reise dauern?«
»Ursprünglich vier bis sechs Monate. Aber ich habe ihn dann gebeten, möglichst bald zurückzukehren, und auch er hatte die Absicht, früher nach London zu kommen.«
»Und wo hat er Ria Bonati kennengelernt?«
»Soviel ich weiß, in Paris. Jedenfalls hat sie ihn. dann auf seiner großen Reise begleitet. Er schrieb mir von der Riviera, und erwähnte in dem Brief, daß er in Miß Bonati eine interessante, anregende Reisegefährtin gefunden hätte. Ich sprach damals mit Professor Haviland darüber, der diese Wendung unter den gegebenen Umständen für günstig hielt.«
»Was hat Ihnen denn Sir Richard über Miß Bonati anvertraut?«
»Er sagte, daß sie ihm auf die Dauer auf die Nerven fiele, weil sie sich an ihn klammerte und ihn heiraten wollte. Das hätte er ihr aber weder versprochen, noch hätte er jemals die Absicht gehabt, es zu tun.«
»Dann ist ihre Behauptung allerdings ein starkes Stück.«
»Ich kenne die Bonati zufällig auch. Früher hatte sie nicht derartige Anwandlungen, aber schließlich wird sie nicht jünger. Vor einigen Jahren habe ich sie sogar sehr gut gekannt. Sie hat eine fabelhafte musikalische Begabung. Früher hatte sie auch eine volle, schöne Stimme und konnte das Publikum mitreißen, aber in den letzten Jahren hat sie an Klang verloren. Deshalb hat sie sich auch als Tänzerin und auf anderen Gebieten versucht, und ich kann schon verstehen, daß sie jetzt durch eine Heirat ihre Zukunft sichern will. Sie ist auch heute noch eine blendende Erscheinung, die überall auffällt, aber sie ist eben vernünftig genug, nicht zu lange zu warten. Unter uns gesagt, halte ich ihre Absicht von ihrem Standpunkt aus für vollkommen berechtigt. Ebensogut kann ich aber auch verstehen, daß sich Sir Richard nicht dauernd an sie binden wollte.«
»Sie haben doch das Personal für Sir Richard engagiert, als er vor einigen Wochen nach London zurückkehrte?«
»Was wissen Sie über den Butler? Hat er Ihnen ausreichende Referenzen vorgelegt?«
»Ja. Er brachte gute Zeugnisse, unter anderem von mir bekannten Leuten. Ich habe bei einer Stelle angerufen und nur gute Auskunft über ihn bekommen.«
»Halten Sie den Mann für ehrlich?«
»Nach dem ersten Eindruck, den ich von ihm hatte – ja.«
»Miß Rolands haben Sie auch angestellt?«
Stetson nickte.
»Sie war früher mein Mündel. Ich gab ihr den Posten mit einer ganz besonderen Absicht. Bei dem unberechenbaren Charakter von Sir Richard wollte ich eine Kontrolle über seine Korrespondenz ausüben, wozu mir Miß Rolands helfen sollte. Ihr gegenüber konnte ich offen sprechen und ihr einen so vertraulichen Auftrag geben. Sie verstehen,, daß ich diese Maßregel nur im Interesse meines Klienten ergriff.«
»Ja. Nun ist es aber zwischen Sir Richard und seiner Sekretärin zu einem schweren Zusammenstoß gekommen. Was wissen Sie darüber?«
»Es ist ein charakteristischer Zug seines krankhaften Zustandes gewesen, daß er keine schöne Frau unbehelligt lassen konnte. Miß Rolands beschwerte sich gestern morgen bei mir und wollte ihre Stellung aufgeben. Nur mit Mühe gelang es mir, die Sache wieder einzurenken.«
»Haben Sie vielleicht einen Verdacht, wer Sir Richard erschossen hat? Hatte er Feinde?«
»Ich habe ihn sehr lange gekannt. Er war ein energischer, zäher Charakter und stets gewohnt, seinen Kopf durchzusetzen. Er behandelte andere Leute gerecht, wenn auch nicht gerade freundlich. Ich habe niemals etwas Schlechtes über ihn gehört und kann mir kaum denken, daß er Feinde hatte. Höchstens könnte er sich in den letzten Monaten durch seine Liebesaffären heftige Feindschaften zugezogen haben. Andererseits aber war er doch immer in Begleitung von Ria Bonati, und die duldet keine anderen Göttinnen neben sich. Ich möchte aber noch einmal betonen, daß ich ihn seit seiner Rückkehr fast nur telephonisch gesprochen habe und über seine jetzigen Verhältnisse nicht vollkommen unterrichtet bin.«
Crawford öffnete eine Schublade seines Schreibtisches und zog die Brieftasche von Sir Richard heraus.
»Diese Ledertasche ist gestern im Hause gefunden worden. Es befinden sich viertausend Pfund in großen Scheinen darin. Wissen Sie etwas darüber?«
»Ja. Ich habe ihm gestern eine Zahlung von viertausend Pfund gemacht.«
»Haben Sie ihm das Geld persönlich gegeben?«
»Ja.«
»Sir Richard hat, wie ich Ihnen schon sagte, in letzter Zeit viel Geld gebraucht; fast ein Drittel seines großen Vermögens ist während dieser Reise daraufgegangen. Vorgestern rief er mich an und sagte, daß er wieder Geld brauchte. Er wollte sechstausend Pfund haben, ich hielt es aber für richtig, ihm zunächst nur zweitausend zu geben. Wir einigten uns dann auf viertausend. Ich ließ das Geld von der Bank abheben, und er holte es sich gestern nachmittag in meinem Büro ab.«
»Wann?«
»Um vier Uhr. Ich war gerade mit einer wichtigen Arbeit beschäftigt, widmete mich ihm aber sofort und hatte eine eingehende, ernste Besprechung mit ihm. Dann händigte ich ihm das Geld ein. Eine Quittung darüber habe ich zu den Akten genommen, übrigens kann ich Ihnen die Nummern der Banknoten mitteilen.«
Stetson nahm einen Zettel aus seiner Brieftasche und reichte ihn Crawford.
»Zufällig habe ich die Notiz bei mir.«
Der Inspektor griff nach dem Blatt und legte es in die Brieftasche, die er wieder in die Schublade einschloß.
»Wo wurde sie denn gefunden?« fragte der Rechtsanwalt interessiert.
»Ich sah, daß Miller sie aus der Tasche zog, und sie fiel mir auf. Er behauptete, er hätte sie am Fuß der Dienertreppe gefunden. Spätere Aussagen der Köchin und des Zimmermädchens haben das bis zu einem gewissen Grad bestätigt, aber ganz ist die Sache noch nicht geklärt.«
»Ich würde Ihnen raten, einmal mit Professor Haviland über Sir Richard zu sprechen. Der kann Ihnen wahrscheinlich noch genauere Auskunft über die Krankheitserscheinungen geben.«
»Können Sie mir seine Adresse sagen?«
Stetson blätterte in seinem Notizbuch.
»Professor Thomas Haviland, Psychiater und Spezialarzt für Geisteskrankheiten, Harley Street 22. – Was in der Zeitung stand, habe ich gelesen«, fuhr er dann fort. »Ich interessiere mich natürlich lebhaft für den Fall, da ich den Ermordeten so gut kannte. Haben Sie schon einen Anhalt, wer die Tat begangen haben könnte?«
»Es sind schon mehrere Vernehmungen erfolgt, und das Tatsachenmaterial rundet sich, aber wir sind noch nicht so weit, daß sich ein bestimmter Verdacht äußern ließe.«
Der Inspektor erhob sich.
»Es war sehr liebenswürdig, daß Sie mich in meinem Büro aufgesucht haben. Ich werde Sie wahrscheinlich später noch einmal in Anspruch nehmen müssen, wenn die Untersuchung weiter fortgeschritten ist.«
Stetson verabschiedete sich, und Crawford begleitete ihn bis zur Tür.