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Im Arundel-Hotel nahm Carley ein Zimmer, das nach dem Themseufer zu lag und einen schönen Ausblick auf den Fluß hatte.
Nachdem der Zimmerkellner gegangen war, sah Jim auf die Uhr. Er harte noch reichlich Zeit bis zur Verabredung mit Miß Rolands, außerdem lag das Hotel in der Nähe des Treffpunktes. Wenn er die Arundel Street zum Strand hinaufging, war er dicht bei der Untergrundbahnstation.
Er schnallte seine Koffer auf und brachte seine Sachen in Kommoden und Schränken unter. Dann wusch und rasierte er sich, und schließlich machte er sich auf den Weg.
Aber er hatte immer noch eine halbe Stunde Zeit und ließ sich von dem Menschenstrom treiben. Hin und wieder trat er an ein Schaufenster, das ihn interessierte, denn nach so langer Abwesenheit hatte alles ein neues Gesicht für ihn.
Als die Kirchenuhr von St. Mary-le-Strand endlich langsam und feierlich die achte Stunde schlug, stand er etwas abseits vom Eingang zum Untergrundbahnhof.
In freudiger Erwartung sah er nach Westen, denn er glaubte, daß Evelyn von dort kommen würde. Noch einmal rief er sich die Unterhaltung mit ihr ins Gedächtnis zurück. Eigentlich hatten sie sich nichts Wichtiges erzählt. Wohl hatte er erfahren, daß ihre Mutter in Guildford wohnte, aber er wußte noch nicht, ob sie selbst einen Beruf ausübte, oder ob sie sich erst darauf vorbereitete. Warum hatte sie ihm nicht gesagt, was für eine Verabredung sie hatte? Und in welcher Beziehung mochte sie zu seinem Onkel stehen? Nun, er würde es ja bald erfahren.
Er ging auf die andere Seite hinüber, dann schaute er wieder auf die Uhr, aber es waren inzwischen nur zwei Minuten vergangen. Dann machte er einige Schritte bis zur nächsten Straßenecke, kehrte aber sofort wieder um, da er fürchtete, sie könnten sich auf diese Weise verfehlen.
Um halb neun wartete er immer noch, aber seine Unruhe war gestiegen. Ob der Unfall doch schwerer gewesen war, als es ursprünglich den Anschein harte? Tausend Möglichkeiten malte er sich aus. Auf der Straße fuhren vor ihm in ununterbrochener Folge die leuchtendrot gestrichenen, mächtigen Autobusse, die Taxen und Privatwagen vorüber.
Warum kam sie nicht? Das Gefühl freudiger Erwartung schlug allmählich in düstere Stimmung um. Er redete sich ein, daß sie nur so bereitwillig zugesagt hatte, ihn zu treffen, weil sie ihn auf bequeme Art loswerden wollte. Aber sie hatte ihn doch so offen, und aufrichtig angesehen, und sicher würde sie ihr Versprechen halten.
Als er wieder an der Straßenecke umdrehte, um zurückzugehen, sah er eine Dame auf sich zukommen. Schon wollte er erfreut grüßen, als er erkannte, daß er sich geirrt hatte. Enttäuscht ging er weiter, aber gleich darauf klopfte ihm jemand auf die Schulter.
»Hallo, Jim – bist du es wirklich?«
Carley drehte sich erstaunt um und sah Edward Belling, seinen alten Schulkameraden und Studienfreund, vor sich.
»Eddie! Das ist aber großartig, daß wir uns wiedersehen! Ich bin gerade heute nach England zurückgekommen.«
»Ja, ich habe gehört, daß du seit Jahren in Birma steckst. Braun genug siehst du auch aus. Hast du drüben schon ein großes Vermögen zusammengescharrt? Oder hast du die herrlichen Rubinaugen des großen Buddha von Rangun mitgebracht?«
»Erlebt habe ich allerhand – aber erzähle du erst einmal, wie es dir geht.«
»Danke, ich bin ganz zufrieden. Aber du rätst wohl kaum, welchen Beruf ich ergriffen habe.«
»Laß mich nicht so lange warten und sage es schon.«
»Ich bin Polizeibeamter, das ist heutzutage nicht das Schlechteste. Seit einiger Zeit hat man mich nach Scotland Yard versetzt, und dort arbeite ich in der Kriminalabteilung als Detektivsergeant. Da staunst du, was?«
Belling war größer und kräftiger als Carley und ein Jahr jünger als sein Freund. Er sah gesund und frisch aus mit seinen braunen Haaren und dunklen Augen, die lustig und vergnügt dreinschauten. Seine männlichen Züge verrieten Intelligenz und Energie.
»Du bist noch ganz der Alte, und du hast dir sicher einen sehr interessanten Beruf ausgesucht. Aber entschuldige, ich muß mich einmal umsehen, ich erwarte jemand.«
»Was, gleich am ersten Abend? Nun, bis sie kommt, kann ich ja noch bei dir bleiben. Inzwischen mußt du mir erzählen, wie es dir ergangen ist.«
Jim war zuerst abgelenkt worden, aber jetzt führte er Belling langsam zum Eingang der Untergrundbahn zurück und musterte wieder eifrig alle Leute, die im Lichtschein der hellen Bogenlampen auftauchten.
»Als wir uns zuletzt sahen, sattelte ich doch im Studium um und wurde Ingenieur, weil ich damit einen Wunsch meines Onkels erfüllte. Er gab mir nach dem Tod meines Vaters die Mittel zu meiner weiteren Ausbildung.«
»Ja, ich weiß es noch. Und dann haben wir uns aus den Augen verloren. Was hast du denn die ganze Zeit über getrieben?«
»Als ich mein Diplom als Ingenieur erhalten hatte, wohnte ich einige Zeit bei meinem Onkel. Wir hatten uns vorher ganz gut verstanden, aber als wir nun so nah zusammenlebten, kam es manchmal zu Meinungsverschiedenheiten. Es war sein Wunsch, daß ich schnell Karriere machen sollte, und ich war froh, als er mir schließlich eine Stellung bei der Eisenbahnverwaltung in Rangun beschaffte.«
»Du bist also jetzt auf Urlaub hier?«
»Ja. Eigentlich hatte ich einen fünfjährigen Vertrag und hätte noch sechs Monate länger drüben bleiben müssen, aber gewisse Umstände haben die vorzeitige Reise notwendig gemacht.«
Belling merkte, daß Carley unruhig wurde.
»Sag mal, alter Junge, auf wen wartest du eigentlich? Ist sie sehr hübsch? Wann wollte sie denn kommen?«
»Um acht«, erwiderte Jim kurz.
»Dann sieht es aber wirklich so aus, als ob sie irgendwie verhindert ist«, meinte Belling lächelnd. »Es ist fünf Minuten vor neun, und in London wartet man eine halbe, höchstens eine Dreiviertelstunde bei solchen Gelegenheiten aufeinander.«
»Sie kommt bestimmt. Sie wird nur aufgehalten worden sein.«
Belling grinste, als es gleich darauf neun schlug.
»Nun hast du deinen Pflichten aber in jeder Weise genügt. Hast du denn schon zu Abend gegessen? Wahrscheinlich nicht.«
Carley sah ein, daß sein Freund recht hatte. Längeres Warten hatte keinen Zweck mehr.
Beide fuhren nach Soho und speisten dort in einem guten italienischen Restaurant. Sie hatten eine gemütliche Ecke für sich, und während des Essens erzählte Jim, wie er Evelyn Rolands kennengelernt und was er seit seiner Rückkehr erlebt hatte.
»Du bist also Eisenbahningenieur. Du sagtest aber vorhin, du wärst wegen besonderer Umstände hergekommen. Willst du bald wieder zurückkehren?«
»Das hängt ganz davon ab.«
»Tu doch nicht so geheimnisvoll.«
»Zuerst habe ich natürlich in Rangun bei der Direktion gesessen und die Sprache gelernt, später hat man mich ins Land hinausgeschickt. Schließlich erhielt ich die besondere Aufgabe, die Strecke von Mulmein zur siamesischen Grenze abzustecken, und mußte bis zum Salven-Fluß vorstoßen. Dort habe ich große Erzlager entdeckt in Gegenden, die nur von Karenstämmen bewohnt sind. Es scheint sich bisher noch niemand um die dortigen Bodenschätze gekümmert zu haben. Ich habe so reichhaltige Lager gefunden, wie ich es mir nie hätte träumen lassen. Magneteisen tritt in reiner Form zutage. Es ist ein unglaublich reiches Vorkommen in langgestreckten Hügelketten.«
»Dann bist du ja mit einem Schlag ein reicher Mann geworden.«
»Nein, so einfach ist das nicht. Mein Onkel hat als Hüttenchemiker das größte Interesse an der Sache. Er hat sein Vermögen durch Entdeckung moderner Schmelzprozesse gewonnen und ist auf diesem Gebiet einer der ersten Fachleute.«
»Ja, ich weiß es. Bei der Polizei und den Gerichtsbehörden ist Sir Richard als Sachverständiger gut bekannt. Du hast ihn also heute, wie du sagtest, nicht getroffen, aber du kannst ja morgen zu ihm gehen. Jedenfalls hast du soviel Erfolg gehabt, daß für dein weiteres Leben gesorgt ist.«
»Nein, du irrst. Es sind noch große Schwierigkeiten zu überwinden, denn solche Konzessionen werden von der Regierung nicht ohne weiteres vergeben. Und du hast keine Ahnung, welche Spionage bei derartigen Dingen getrieben wird. Selten erntet der Entdecker die Früchte seiner Arbeit. Gewöhnlich wird er von anderen darum betrogen. Du glaubst nicht, wie schlecht die Menschen sind.«
»Nun, das erfahre ich in Scotland Yard zur Genüge. Aber darüber wollen wir heute abend nicht sprechen und lieber unser Wiedersehen feiern.«
Belling bemerkte natürlich, daß Carley sich Sorgen machte, und versuchte, ihn zu zerstreuen.
Schließlich gingen sie noch in einen Nachtklub, aber es gelang Relling nicht, den Freund aufzuheitern, und gegen elf brachen sie wieder auf.
Als sie sich erhoben, sah Carley eine Dame von blendender Schönheit, die an der Seite eines älteren Herrn den Saal betrat. Unwillkürlich packte er Belling am Arm, und dieser sah sich erstaunt nach ihm um.
»Was gibt es denn?«
»Siehst du die beiden, die eben hereingekommen sind? Das ist Sir Richard Richmond – du kennst ihn doch auch! Aber wer ist denn diese Dame?«