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23.

»Man sollte es doch nicht für möglich halten«, sagte Crawford. »Der arme Vorsitzende tut mir nur leid. Erst hat er sich von mir dazu verleiten lassen, die Verhandlung anzusetzen in der sicheren Annahme, daß es ein Selbstmord wäre. Ich habe mich ja zuerst auch bluffen lassen, aber dann wurde mir klar, daß das nicht stimmen konnte. In der Zwischenzeit machte ich dann noch die Versuche, und als die Verhandlung begann, wußte ich schon genau, welche Enttäuschung wir erleben würden.«

»Aber daß der Tote gar nicht der Tote ist, haben doch auch Sie nicht geahnt?« fragte Belling.

Die beiden saßen in einem Lokal in Soho und speisten zu Abend. Crawford hatte den Sergeanten eingeladen. Es war reichlich spät geworden, denn die Verhandlung war erst nach neun Uhr vertagt worden.

»Das hilft nichts, wir müssen weiterarbeiten«, meinte der Inspektor und schenkte die Gläser wieder voll.

»Ich habe schon gehört, daß Sie Sergeant Farland den Auftrag gaben, die Fingerabdrücke des Toten mit allen bekannten Abdrücken in unserem Archiv zu vergleichen.«

»Ich habe die Überzeugung, daß wir auf diese Weise herausbringen, wer der Tote ist.«

»Wenn aber seine Fingerabdrücke in unserem Archiv sind, muß er doch ein Verbrecher sein!«

»Das liegt doch auch sehr nahe, übrigens kam die letzte Enthüllung gerade im richtigen Augenblick, sonst wäre die Sache heute für Carley wahrscheinlich schlecht ausgegangen.«

»Ich kann keinen Augenblick glauben, daß er der Mörder ist.«

»Nach dem, was wir während der Totenschau gehört haben, läßt sich wohl kaum mehr daran zweifeln. Selbst wenn der Tote nicht Sir Richard war, hielt Carley ihn jedenfalls dafür, und es ändert sich dadurch nichts an den ihn belastenden Tatsachen. Er steht noch ebenso schwer in Verdacht wie vorher.«

»Aber Miß Rolands hat doch kurz vor dem Klingeln einen dumpfen Fall gehört?«

»Glauben Sie wirklich daran?«

»Ja. Ich hoffe bestimmt, daß Carleys Unschuld in kurzer Zeit bewiesen wird.«

»Nun ja, unmöglich ist nichts, und ich hoffe es natürlich auch. Wir müssen ohne Tendenz arbeiten und dürfen uns nicht von Vorurteilen leiten lassen. Ich sehe bis jetzt noch keine Möglichkeit für die Entlastung Ihres Freundes.«

»Ich verstehe auch nicht, daß Miß Rolands zwar einen dumpfen Fall, aber keinen Schuß hörte. Selbst wenn die Waffe mit einem Schalldämpfer versehen war, konnte der Abschuß doch nicht vollkommen geräuschlos sein.«

»Ja, notieren Sie. Wir müssen Versuche mit der Waffe im Haus machen, dann wird sich ja zeigen, wieviel man unten in der Bibliothek hört. Aber jetzt taucht eine andere wichtige Frage auf: Wo ist denn der richtige Sir Richard geblieben? Der Tote ist in dessen Rolle aufgetreten, das ist an sich ein Verbrechen. Wie kam er in den Besitz der Papiere von Sir Richard? Der Verdacht läßt sich nicht von der Hand weisen, daß er ihn beiseitegeschafft hat.«

»Während der Reise war das sicher auch leichter als hier in London.«

»Welche Rolle hat Ria Bonati dabei gespielt? Sie hat sich doch in Paris gleich nach seiner Abreise an ihn angeschlossen? Jedenfalls wird es noch viel Mühe machen, festzustellen, wann der falsche Sir Richard seine Rolle zu spielen begann. Der Fall ist plötzlich äußerst kompliziert geworden, und er wird immer verwickelter, je weiter wir kommen«, sagte Crawford, nahm sein Etui heraus und bot Belling eine Zigarette an. Dann bediente er sich selbst.

»Der Vorsitzende hätte eigentlich die Verhandlung noch weiterführen können«, meinte Belling, während er nachdenklich dem Rauch nachschaute. »Man hätte doch gern erfahren, was Professor Haviland, Stetson und Ria Bonati zu dieser Enthüllung sagen.«

Der Inspektor sah auf die Uhr.

»Wenn wir die Zigarette aufgeraucht haben, fahren wir nach Scotland Yard.«

Es war kurz vor elf.

»Aber Inspektor, morgen ist doch auch noch ein Tag! Sie arbeiten sich und uns alle zu Tode.«

»Heute müssen wir noch zum Amt, ich will vor allem den Bericht von Farland haben.«

Belling lehnte sich in seinen Stuhl zurück, und beide rauchten einige Zeit schweigend.

»So, jetzt brechen wir auf«, erklärte Crawford, erhob sich und drückte den Rest seiner Zigarette im Aschbecher aus.

Belling folgte dem Beispiel.

»Durch die Verhandlung der Totenschau sind wir eigentlich nur aufgehalten worden«, sagte Belling unterwegs.

»Ich finde, wir haben allerhand Neues dabei erfahren. Außerdem kann ich mich kaum auf eine Verhandlung besinnen, die interessanter und abwechslungsreicher war. Es sind aber noch eine Menge kleinere Fragen aufzuklären. Wir werden morgen noch viel zu tun haben.«

»Wir haben unsere Freundin Ria Bonati ganz aus den Augen verloren. Ich habe den Eindruck, daß sie noch eine große Rolle bei der Sache spielen wird.«

Sie unterhielten sich dann über andere Dinge, bis der Wagen hielt. Selbst eifrige Polizeibeamte wollen nicht immer vom Dienst reden.

»Kommen Sie gleich mit in mein Büro«, sagte der Inspektor, als sie die Treppe hinaufstiegen. »Rufen Sie beim Erkennungsdienst an und fragen Sie, wie weit sie mit ihren Untersuchungen gekommen sind. Es ist gut, daß wir Pemberton zur Bearbeitung dieses Falles für die Kriminalabteilung geliehen haben. Ihm scheint das auch mehr Freude zu machen, als in seiner Station Berichte zu schreiben, wieviel Betrunkene am Abend eingeliefert wurden.«

»Farland kommt gleich. Er sagt, er hätte wichtige Entdeckungen gemacht«, meldete Belling, nachdem er eingehängt hatte.

»Gut – wo ist eigentlich Pemberton geblieben?«

»Der hat Schluß mit dem Dienst gemacht«, erwiderte Belling und grinste.

Bald darauf erschien Farland mit einer Karte und einem Aktenstück.

»Das hat schnell zum Resultat geführt – sehen Sie her«, sagte er, als er aufgeregt eintrat. »Der Tote ist Alec Maxwell.« Er reichte Crawford eine Karte aus der Verbrecherkartothek.

Belling trat auch näher und sah dem Inspektor über die Schulter, während dieser sich an dem Schreibtisch setzte und die Angaben genau studierte. Interessiert betrachtete Crawford die beiden Aufnahmen von Alec Maxwell, die ihn in Vorderansicht und im Profil zeigten. Dann las er laut die Personalbeschreibung:

»Geburtsort Liverpool, geboren 10. September 1892, Gestalt schlank, Gesicht oval, Augen blau, nach grau abgleitend. Haare blond, große Glatze. Größe 1,76 m. Sieht älter aus. Im Gesicht Falten, scharf ausgeprägtes Kinn, hohe Stirn, etwas eckig, buschige Augenbrauen, glattrasiert, Hautfarbe auffallend bleich. Drei Vorstrafen wegen Betrug: 1912 bis 1914 Pentonville, desgleichen 1920-1924 wegen Rückfalls und Dokumentenfälschung. 1927-1932 in Dartmoor wegen rückfälligen schweren Betrugs, Urkundenfälschung, Personifizierung anderer Leute und Vertrauensbruchs.«

»Ich habe schon einen kurzen Blick in die Akten geworfen«, sagte Farland, »und hier einen kleinen Auszug aufgeschrieben. Maxwell war früher Schauspieler – jugendlicher Liebhaber. Er hatte glänzende Erfolge, war aber leichtsinnig und geriet durchs Spiel in Schulden. Er kam auf die schiefe Bahn und beging Betrügereien, die zuerst von seinen Familienangehörigen beigelegt und aus der Welt geschafft wurden, aber mit einundzwanzig Jahren schon wurde er nach Pentonville gebracht. Durch Fürsprache wird er Anfang des Krieges begnadigt, meldet sich als Freiwilliger und hat sich an der Front bewährt. Verschiedene Auszeichnungen. Wenn er nicht die Strafe in Pentonville gehabt hätte, wäre er zum Offizier befördert worden. Jedenfalls zeigte er sich im Krieg sehr gewandt und verstand es, sich in jeder Situation zurechtzufinden. Andererseits intriganter Charakter. Nach dem Waffenstillstand einmal Disziplinarstrafe wegen unbefugten Tragens der Offiziersuniform. Das Auftreten in Maske anderer Personen scheint seine Spezialität gewesen zu sein. Es spielte schon bei seiner ersten Verurteilung eine Rolle, aber noch mehr bei den letzten Strafen. Seinen Kahlkopf hatte er durch eine Perücke vollkommen verborgen. Auch in früheren Prozessen wird ausdrücklich betont, daß er ein glänzender Schauspieler ist, der andere täuschend nachahmen kann.«

»Leider fehlen uns die Jahre 1932–1935«, meinte der Inspektor. »Farland, lassen Sie in der üblichen Weise eine Nachfrage wegen Alec Maxwell an alle Stellen, sowohl die englischen, als auch die auf dem Festland und in Amerika los. Es muß uns vor allem daran liegen, die fehlende Zeitspanne zu überbrücken. Dann untersuchen Sie den Toten noch einmal genau.«

»Die wenigen Haare, die er hatte, wird er wahrscheinlich schwarz gefärbt haben, und die Perücke, die er trug, stimmte ja mit der Haarfarbe und Frisur Sir Richards überein«, entgegnete Farland.

»Wenn er so tüchtig und gewandt im Maskemachen war, wird es ihm keine großen Schwierigkeiten bereitet haben, Sir Richard zu kopieren. Sicher sah er ihm auch schon von vornherein ähnlich. Vergleichen Sie die Personalbeschreibung genau mit dem Toten, es werden sich dann noch weitere Korrekturen herausstellen, die Maxwell vorgenommen hat, um Sir Richard Richmond ähnlich zu sehen.

Belling, denken Sie daran, alle Photographien und Bilder von Sir Richard zu beschaffen, die Sie im Haus finden, damit wir das Bild des Toten damit vergleichen können.«

»Es ist sonderbar, daß Maxwell sich drei Jahre lang durchgeschlagen hat, ohne mit der Polizei in Konflikt zu kommen«, meinte Belling. »Verbrecher, die sich endgültig bessern, gibt es doch nur in Büchern.«

»Vielleicht hat er anderswo Gastrollen gegeben. Das werden wir ja herausbekommen, wenn wir seine Fingerabdrücke und seine Bilder bekanntgeben«, erwiderte Farland.

In dem Augenblick schlug es Mitternacht.

»Nun wollen wir aber für heute Schluß machen«, sagte Crawford und unterdrückte ein Gähnen.


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