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22.

Der Vorsitzende schwieg, und es trat eine bedrückende, unheimliche Stille ein, bis am Eingang eine Bewegung entstand. Als man lautes Sprechen hörte, löste sich die Spannung, und unwillkürlich wandten sich alle Blicke dorthin.

Ein Polizeisergeant ging schnell zum Verhandlungstisch, trat zu dem Vorsitzenden und machte eine kurze Meldung. Darauf erhob sich dieser und legte eine Pause von zehn Minuten ein.

Sofort wurde es im Saal lebhaft, aber nur wenige verließen den Raum. Überall bildeten sich Gruppen, die eifrig miteinander über die wechselvolle Entwicklung sprachen. Irgendetwas Wichtiges mußte vorgefallen sein, sonst wäre die Verhandlung sicher nicht in diesem Augenblick unterbrochen worden.

Inspektor Crawford war inzwischen aufgestanden und zum Ende des Saales gegangen, wo er mit einer schlanken Dame in einem blaugrauen Kostüm eifrig sprach. Nach einiger Zeit gingen die beiden zum Verhandlungstisch. Crawford wandte sich an den Vorsitzenden und schien eine längere Erklärung abzugeben. Dann richtete dieser ebenfalls einige Fragen an die junge Dame.

Die zehn Minuten waren beinahe vergangen, und alle erwarteten gespannt die Wiedereröffnung der Verhandlung. Die Zuhörer, die vorher den überfüllten Saal verlassen hatten, waren wieder hereingekommen, und es herrschte aufmerksames Schweigen, als der Vorsitzende sich erhob.

»Als nächste Zeugin wird Miß Valery Ferguson vernommen.«

Alle beugten sich vor, um die Dame genauer zu sehen, die vorher mit dem Vorsitzenden am Verhandlungstisch gesprochen hatte. Sie mochte etwa dreißig Jahre alt sein und machte einen liebenswürdigen, gewinnenden Eindruck. Ihr Blick war ruhig und klar.

»Miß Ferguson, kannten Sie Sir Richard Richmond?«

»Ja. Ich war lange Jahre seine Sekretärin.«

»Wie lange hatten Sie die Stellung bei ihm inne?«

»Die letzten zehn Jahre.«

»Warum haben Sie Ihren Posten aufgegeben?«

»Am siebzehnten Juni nahm ich ein Diktat von Sir Richard auf über ein wissenschaftlich-technisches Verfahren. Um fünf Uhr verließ ich das Haus und verabschiedete mich vorher von ihm. Als ich am nächsten Morgen ins Haus zurückkehrte, erfuhr ich, daß er am Abend vorher einen Unfall gehabt hatte und krank in seinem Zimmer läge. Später zahlte mir Rechtsanwalt Stetson einen Monat Gehalt statt einer Kündigung und teilte mir mit, daß Sir Richard eine sechs Monate lange Seereise zur Wiederherstellung seiner Gesundheit antreten würde, und daß meine Dienste nicht mehr benötigt würden. Er versicherte mir, daß er bei der Rückkehr Sir Richards mich benachrichtigen und wieder auf mich zurückkommen wollte, falls eine Sekretärin gebraucht würde.«

»Und warum sind Sie nicht wieder zu ihm zurückgegangen?«

»Ich erhielt schon Anfang Juli einen gutbezahlten Posten und teilte dies Anwalt Stetson mit. Immerhin rechnete ich damit, später wieder bei Sir Richard zu arbeiten.«

»Sie haben sich gemeldet, weil Sie eine wichtige Aussage zu machen haben?«

»Ja.«

»Wie erfuhren Sie von der Verhandlung?«

»Ich las in der Mittagspause die Morgenzeitung, in der über den Tod Sir Richards berichtet wurde. Es war zu spät geworden, als daß ich mich weiter darum kümmern konnte, aber als ich um halb sechs nach Hause kam, las ich im Abendblatt unter den letzten Nachrichten, daß die Totenschau heute nachmittag um vier Uhr im Verhandlungssaal des Schauhauses abgehalten würde, und so kam ich nach dem Abendessen hierher und fand, daß sie noch im Gange war. Als ich ankam, war der Raum überfüllt, und ich mußte im Korridor stehen. Da ich lange mit Sir Richard zusammengearbeitet habe und ihn sehr gut kannte, hatte ich den Wunsch, ihn noch einmal zu sehen. Ich bat den Wärter um Erlaubnis, und er führte mich zu dem Tisch, auf dem der Tote aufgebahrt ist.«

Sie machte eine Pause, als ob es ihr schwer fiele, weiterzusprechen.

»Und welchen Eindruck hatten Sie?«

Es vergingen einige Sekunden, bis Miß Ferguson antwortete.

»Der Tote ist nicht Sir Richard Richmond!«

Die Zeugin hatte sich zusammengenommen und laut und vernehmlich gesprochen.

Das war wohl die größte Überraschung dieser wechselvollen Verhandlung.

»Wie kommen Sie zu diesem Urteil?«

»Ich erschrak, als ich den Toten sah, denn er trug offenbar eine Perücke, die zurückgeschlagen war, und ich bemerkte eine Anzahl von vernähten Narben. Sir Richard hatte aber volles, schwarzes Haar, das etwas gelockt war.«

»Wäre es nicht möglich, daß er doch eine Perücke getragen hätte und Sie dies nur früher nicht bemerkten?«

»Nein, ich hatte täglich mit ihm zu tun, und ich habe ihm auch bei manchen Experimenten im Laboratorium geholfen, so daß ich ihn aus allernächster Nähe sah, und ich weiß bestimmt, daß er keine Perücke trug.«

»Haben Sie auch noch andere Gründe?«

»Ja. Die Züge des Toten kamen mir wohl bekannt vor, und sicher hat er große Ähnlichkeit mit Sir Richard, aber ich habe die feste Überzeugung, daß dieser Mann nicht mein früherer Chef ist. An der rechten Hand des Toten sah ich den mir gut bekannten Siegelring mit dem in roten Stein eingravierten Monogramm RR. Als ich aber genauer zusah, entdeckte ich, daß der Nagel des Ringfingers glatt war. Bei Sir Richard aber war der Nagel am Ringfinger der rechten Hand infolge eines Unfalls verkrüppelt. Der Mann kann also nicht Sir Richard sein.«

»Er ist aber bereits von verschiedenen Seiten als Sir Richard Richmond identifiziert worden.«

»Abgesehen von diesen beiden ausschlaggebenden Merkmalen weiß ich bestimmt, daß hier ein Irrtum vorliegt – trotz der auffallenden Ähnlichkeit. Wenn man über zehn Jahre lang täglich mit einem Menschen zusammengearbeitet hat, kennt man ihn genau.«

Der Vorsitzende überlegte einen Augenblick, dann ließ er Jim Carley noch einmal vortreten.

»Haben Sie Ihren Onkel wiedererkannt?«

»Ich bin nach viereinhalb jähriger Abwesenheit erst am vergangenen Sonntag wieder nach England gekommen«, entgegnete der Zeuge, der über diese unerwartete Wendung sehr betroffen war. »Trotz meiner vielen Bemühungen ist es mir nicht gelungen, Sir Richard zu sprechen. Ich sah ihn nur am Sonntagabend aus ziemlicher Entfernung im Atheneion-Klub.«

»Aber Sie haben ihn doch gestern abend im Arbeitszimmer des Hauses Bruton Street 34 gesehen?«

»Ich erschrak heftig, als ich ihn am Boden entdeckte, und war begreiflicherweise sehr aufgeregt. Nach allen Umständen mußte ich annehmen, daß es mein Onkel war, der tot vor mir auf dem Teppich lag, und da ich ihn viereinhalb Jahre lang nicht gesehen hatte, mußte ich damit rechnen, daß er sich in gewisser Weise verändert hatte. Ich hörte aus der Aussage Dr. Reynolds zu meinem Erstaunen, daß der Tote eine Perücke trägt, und ich hatte die Absicht, später noch darüber zu sprechen. Früher trug mein Onkel nie falsche Haare, im Gegenteil, er hatte sehr volles, schönes Haar.«

Inspektor Crawford hatte während der letzten Verhandlung etwas auf ein Blatt geschrieben und es dem Vorsitzenden hinüberreichen lassen. Dieser warf einen Blick darauf, dann nickte er dem Inspektor zu.

Crawford erhob sich.

»Im Namen der Polizei beantrage ich eine Vertagung der Verhandlung. Die Zeugenaussage von Miß Ferguson hat eine so unerwartete Wendung ergeben, daß die Polizei erst weiterforschen muß, um den Fall zu klären.«

Er setzte sich wieder.

»Ich vertage die Verhandlung der Totenschau zunächst auf acht Tage«, erklärte der Vorsitzende.

Kurze Zeit blieben die Anwesenden wie gebannt auf ihren Plätzen, aber dann leerte sich der Saal langsam, während die Leute noch lebhaft über das eben Gehörte miteinander sprachen.

Sergeant Belling trat an Miß Ferguson heran und notierte ihre Adresse.


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