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Es herrschte größte Spannung im Saal, als Rechtsanwalt Stetson den Zeugenstand betrat.
Alle hatten gesehen, daß er vorher mit Crawford kurze Zeit gesprochen und ihm ein Schriftstück übergeben hatte. Der Inspektor war darauf zum Vorsitzenden gegangen, hatte ihm eine Mitteilung gemacht und sich dann wieder auf seinem Platz am Ende des Tisches niedergelassen.
»Sie haben nach Erkrankung Ihres Klienten Sir Richard Richmond Professor Haviland als Spezialisten zugezogen?«
»Ja.«
»Haben Sie die Aussagen von Professor Haviland und Dr. Reynolds eben gehört?«
»Ich kam währenddessen in den Sitzungssaal und habe nur die Schlußworte von Dr. Reynolds gehört.«
Der Vorsitzende ließ das Protokoll der beiden Zeugenvernehmungen verlesen.
»Sir Richard hatte eine Stirnnarbe, und der Tote hat keine. Können Sie zu diesen Widersprüchen eine Erklärung geben?«
»Ja. Zu den Eigentümlichkeiten seines Krankheitsbildes gehörte auch, daß er ungewöhnlich eitel wurde. Die Narbe an der Stirn war zwar schon ziemlich verblaßt, als er Anfang Juli auf Reisen ging, aber er bildete sich ein, daß sie ihn entstellte. Schon in London sprach er darüber, und kaum war er von hier abgereist, so erfuhr ich von ihm aus Paris, daß er sich bei einem Spezialarzt für kosmetische Chirurgie einer Schönheitsoperation unterzogen hatte. Ich konnte es damals nicht verstehen, und am allerwenigsten die hohe Summe, die der Pariser Spezialarzt dafür verlangte.«
»Haben Sie daraufhin etwas unternommen?«
»Ja. Ich schrieb Sir Richard einen dringenden Brief und bat ihn, seine Ausgaben einzuschränken. Aber meine Vorstellungen schienen gerade das Gegenteil zu bewirken.«
»Wodurch hat sich Sir Richard die Wunde am Kopf zugezogen?«
»Bei seinen Arbeiten im Laboratorium glitt er aus und schlug mit der Stirn gegen eine Kante.«
»Wie erfuhren Sie davon?«
»Ich machte zufällig gerade einen Besuch bei ihm, da er mich um eine gelegentliche Rücksprache gebeten hatte.«
Der Vorsitzende teilte nun mit, daß er die Vernehmung Mr. Stetsons unterbrechen wollte, um ein wichtiges Schriftstück verlesen zu lassen, das die Verhandlung entscheidend beeinflussen würde. Er gab seinem Sekretär das Wort, und dieser begann mit klarer Stimme:
»Lieber Stetson,
nach unserer letzten Aussprache über meine Vermögenslage habe ich einen Arzt aufgesucht und von ihm eine so niederschmetternde Auskunft über meinen Gesundheitszustand erhalten, daß ich allen Mut verloren habe. Deshalb ziehe ich die einzig mögliche Folgerung und mache Schluß mit dem Leben. Sie werden es verstehen.
Richmond.«
Zunächst herrschte atemlose Stille im Raum, aber einige Sekunden später löste sich die Spannung, und die Leute unterhielten sich erregt miteinander, so daß der Vorsitzende ernstlich zur Ruhe mahnen mußte.
Darauf wurde die Vernehmung Stetsons fortgesetzt.
»Wann haben Sie diesen Brief erhalten?«
»Er war an mein Büro adressiert und traf heute morgen mit der ersten Post ein. Ich ging schon um acht Uhr nach Scotland Yard zu einer Besprechung mit Inspektor Crawford, dann hatte ich einen wichtigen Termin um Viertel nach neun, so daß ich erst kurz vor halb elf in mein Büro kam. Dort fand ich dann das Schreiben Sir Richards vor. Ich war aufs höchste erstaunt und bestürzt, rief sofort Inspektor Crawford an und las ihm den Inhalt vor. Er versprach mir, sofort zu veranlassen, daß die Verhandlung der Totenschau noch heute abgehalten würde.«
»In diesem Schreiben ist von einer letzten Aussprache zwischen Ihnen und dem Toten die Rede – wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Gestern – in meinem Büro. Zwischen vier und halb fünf war er bei mir.«
»Was haben Sie miteinander besprochen?«
»Sir Richard hatte dringend die Zahlung einer größeren Summe verlangt. Telephonisch hatte er sich dann damit einverstanden erklärt, daß ich ihm zunächst viertausend Pfund geben sollte.«
»Und dieses Geld haben Sie ihm gestern ausgehändigt?«
»Ja.«
»Hier steht, daß Sie sich mit ihm über seine Vermögenslage ausgesprochen haben. Bitte, teilen Sie uns Näheres darüber mit.«
»Ich war empört über die Art und Weise, wie leichtfertig er sich über alles hinwegsetzte. Ich hatte mit Professor Haviland über den Fall gesprochen, und er hatte mir gesagt, daß ein momentaner Schrecken oder ein Schock vielleicht eine Rückkehr zu normaler Denkweise auslösen könnte. Ich habe es daher gestern darauf angelegt, ihm einmal seine Vermögenslage in den schwärzesten Farben auszumalen. Ich glaubte, ihm damit nur zu helfen, und es tut mir natürlich furchtbar leid, daß ich nun indirekt an seinem Tod schuld bin.«
»Wie steht es denn mit seinen Finanzen?«
»Nicht allzu schlecht. Ich verwalte nicht das gesamte Vermögen, sondern hauptsächlich seine Wertpapiere, und ich glaube kaum, daß er von seiner Beteiligung an Fabriken oder sonstigen Liegenschaften viel veräußert hat. Immerhin muß das jetzt erst alles festgestellt werden. Aber ich habe ihm ganz offen klargemacht, daß bei dem ungewöhnlichen Verbrauch von Kapitalien sein Vermögen nicht mehr lange vorhalten könnte. Vor allem habe ich darauf gedrungen, daß er endlich die Kaution von zehntausend Pfund zahlen soll, die für die Erlangung der Konzession notwendig ist. Wenn er sich selbst nicht mehr dafür interessierte, sagte ich ihm, wäre er das seinem Neffen schuldig.«
»Was ist das für eine Kaution?«
Stetson gab einen knappen, klaren Überblick über den Sachverhalt und die Entwicklung dieser Angelegenheit.
»Da ich ihn zur Vernunft bringen wollte, gebrauchte ich die stärksten Worte und erklärte ihm, daß er sich unbedingt ärztlich untersuchen lassen müßte, was er mir auch versprach.
Soweit ich es übersehen kann, muß er gleich von mir aus einen Arzt aufgesucht haben. Was der Mann ihm mitteilte, weiß ich natürlich nicht. Es scheint aber, daß er eine niederschmetternde Auskunft erhalten hat, wie er in seinem Brief schreibt.«
»Seine finanzielle Lage war also noch nicht verzweifelt?«
»Durchaus nicht.«
Diese Antwort rief Erstaunen unter den Anwesenden hervor.
Der Blick des Vorsitzenden fiel auf Professor Haviland, der seit einiger Zeit wieder an dem Tisch Platz genommen hatte.
»Ich möchte jetzt Professor Haviland noch einmal vernehmen, der Sir Richard während seiner Krankheit behandelte.«
Der Spezialarzt ging zum Zeugenstand.
Die Verhandlung hatte bis jetzt einen so wechselvollen Verlauf genommen, daß alle aufs äußerste gespannt waren. In dem großen Saal herrschte tiefes Schweigen.
»Kennen Sie den Inhalt des Briefes, der während Ihrer Abwesenheit verlesen wurde?«
»Ja – das Original wurde mir eben gereicht, und ich las es.«
»Waren Sie der Arzt, an den sich Sir Richard gestern gewandt hat?«
»Nein.«
»Wir haben eben gehört, daß die finanzielle Lage des Toten nicht gefährlich war. Wie erklären Sie sich diesen Ausgang? Mußte man tatsächlich mit einer plötzlichen Verschlechterung seines Zustandes rechnen, die zu einer Katastrophe führen konnte?«
»Nein. Im allgemeinen lassen sich derartige Störungen leicht heilen, und ich war schon erstaunt, daß die Seereise nicht den gewünschten Erfolg hatte. Jedenfalls war es ungewöhnlich, daß die Krankheit sich derartig verschlimmerte.«
»Kommen denn bei solchen Erkrankungen, oder besser gesagt infolge solcher Erkrankungen Selbstmorde vor?«
»Ja, aber verhältnismäßig selten. Es ist unendlich bedauernswert, daß ich Sir Richard nach seiner Rückkehr nicht mehr sehen und untersuchen konnte. Natürlich sind diese Leute, die einmal aus dem Gleichgewicht gebracht sind, großen Schwankungen in ihren Stimmungen unterworfen. Ich kann mir sogar vorstellen, daß es bei Sir Richard zu einer furchtbaren Depression gekommen ist, in deren Verlauf er zu der unheilvollen Tat schritt.«
»Ja, aber es lag doch eigentlich gar kein Grund dazu vor?« fragte der Vorsitzende verwundert.
»Leute mit einem geistigen Defekt sind eben nicht normal und beurteilen vielfach Einzelheiten vollkommen falsch. Mir ist ein Fall bekannt, in dem eine junge Dame, die an einer ähnlichen Störung litt, sich infolge eines leisen Vorwurfs das Leben nahm. Und wer weiß, welche Diagnose der Arzt, den er aufsuchte, gestellt hat. Natürlich mußte der Mann sich in der Hauptsache auf das verlassen, was ihm Sir Richard erzählte. Und was dieser unter dem Einfluß der Vorwürfe Mr. Stetsons gesagt hat, wissen wir nicht. Vom medizinischen Standpunkt aus ist so etwas ohne weiteres möglich und verständlich.«
Während Professor Haviland wieder am Tisch Platz nahm, blätterte der Vorsitzende die Papiere durch, die vor ihm lagen.
»Mr. Miller!« sagte er nach einiger Zeit.
Der Butler erhob sich eifrig und trat vor.
»Sie haben Sir Richard kurz vor seinem Tod noch gesehen?«
»Ja.«
»Welchen Eindruck hat er auf Sie gemacht?«
»Er schien sehr müde gewesen zu sein.«
»Ist Ihnen sonst nichts aufgefallen?«
»Er sah auch sehr versorgt aus, und ich dachte mir noch, wenn solche Leute schon Sorgen haben, was soll dann erst unsereiner sagen?«
»Schon gut. Was Sie sich gedacht haben, gehört nicht hierher. Sir Richard machte also auf Sie einen ziemlich verzweifelten Eindruck?«
»Nein, so schlimm war es nun auch wieder nicht.«
Als nächste Zeugin wurde Ria Bonati aufgerufen.
Sie erregte allgemeines Aufsehen, als sie vor den Verhandlungstisch trat, denn sie erschien in tiefer Trauerkleidung und trug als Schmuck nur eine kostbare Brosche aus schwarzen Diamanten.
Zunächst beantwortete sie ungefähr dieselben Fragen wie bei ihrer ersten Vernehmung durch Crawford.
»Wann waren Sie zuletzt mit Sir Richard zusammen?« fuhr der Vorsitzende dann fort.
»Gestern abend, von dreiviertel sieben bis kurz vor acht im Speisesaal des Savoy-Hotels. Dann begleitete er mich noch zu meiner Loge in der Oper.«
»Ist Ihnen an seinem Wesen etwas Besonderes aufgefallen?«
»Ja. Ich habe es auch schon Inspektor Crawford gesagt, daß er mir an dem Abend sehr merkwürdig vorkam.«
»Haben Sie sich deshalb Sorgen gemacht?«
»Zuerst nicht. Ab er mich dann aber nach Schluß der Vorstellung nicht abholte, war es allerdings etwas anderes.«
»Worüber haben Sie während des Abendessens gesprochen?«
»Die Unterhaltung drehte sich um alltägliche Dinge. Wir kamen auch auf unsere bevorstehende Heirat, und er drückte den Wunsch aus, recht bald London zu verlassen, vorher aber wenigstens noch die standesamtliche Trauung zu vollziehen. Er wollte dann mit mir nach Südfrankreich gehen, ja, er versprach mir sogar eine Hochzeitsreise nach Florida.«
»Dann halten Sie also einen Selbstmord für ausgeschlossen?«
»Ja, meiner Ansicht nach kommt das nicht in Frage. Ich hätte doch etwas von einer solchen Absicht merken müssen, denn mir vertraute er alles an.
Crawford lächelte ironisch und wandte sich nach Belling um.
»Sir Richard hätte das nie getan, dazu liebte er mich viel zu sehr«, erklärte sie und unterdrückte ein Schluchzen. »Und wenn er einer plötzlichen starken Depression zum Opfer gefallen wäre, hätte er seine letzten Zeilen an mich gerichtet, nicht an seinen Rechtsanwalt!«
Sie warf Stetson einen bösen Blick zu, der auch von dem Vorsitzenden bemerkt wurde. Ihre Äußerungen hatten wieder eine Sensation hervorgerufen.
Der Vorsitzende wollte sie entlassen, aber sie richtete sich hoch auf.
»Nein!« rief sie laut. »Sir Richard hat sich nicht das Leben genommen – er wurde feige und hinterlistig ermordet!«
Ihre Worte klangen grell und schrill durch den Saal, und der Vorsitzende war etwas betreten über diesen leidenschaftlichen, unerwarteten Ausbruch.
»Wie kommen Sie zu dieser Auffassung?« fragte er nachsichtig.
»Es war eine Frau, die ihm nachstellte, die ihm das Glück an meiner Seite nicht gönnte –«
Der Vorsitzende seufzte.
»Haben Sie Beweise dafür?« erwiderte er sachlich.
»Wenn Rechtsanwalt Stetson und Inspektor Crawford in der Verhandlung alles sagen würden, was sie wissen, würde die Wahrheit ans Tageslicht kommen!«
»Dann wird sich das ja im weiteren Verlauf der Verhandlung von selbst ergeben«, suchte der Vorsitzende sie zu beschwichtigen. »Ich danke Ihnen.«
Ria Bonati konnte nur mühsam ihren Ärger unterdrücken, daß sie nicht länger alle Blicke auf sich gerichtet fühlte. Aber es blieb ihr nur übrig, den Zeugenstand zu verlassen.
Inspektor Crawford hatte während ihrer Vernehmung eifrig und leise mit Belling und Pemberton gesprochen, und während des letzten etwas theatralischen Auftritts war er hinter den Stuhl des Vorsitzenden getreten. Er neigte sich zu ihm nieder und teilte ihm etwas mit. Darauf erhob sich der Vorsitzende.
»Ich lege jetzt eine Pause von fünfzehn Minuten ein, um neues Material zu prüfen. Die Verhandlung wird um sechs Uhr fünfzehn fortgesetzt.«